Tausende Boko Haram-Kämpfer legen die Waffen nieder – ein Schritt Richtung Frieden?

Tausende Boko Haram-Kämpfer legen die Waffen nieder – ein Schritt Richtung Frieden?

In den letzten Wochen häuften sich die Berichte, dass sich in Nigeria tausende Mitglieder der terroristischen Organisation Boko Haram ergeben. Während das Militär Mitte August noch von ca. 1000 Kämpfern sprach, ist die Zahl inzwischen auf über 10.000 gestiegen. Die Gründe hierfür sind je nach Quelle unterschiedlich: Das nigerianische Militär macht allein sein eigenes Handeln dafür verantwortlich. So sagte der Kommandeur im Kampfgebiet, dass die Kombination aus diplomatischen Bemühungen, erfolgreichen Militäroperationen, die den Kämpfern der Organisation ihre Chancenlosigkeit demonstriert hätten, und dem Angebot einer fairen Behandlung zum massenhaften Aufgeben geführt hätte. Andere Quellen dagegen führen neben diesen Maßnahmen auch die Offensiven anderer terroristischer Milizen gegen Boko Haram als Grund an. Trotz der teilweise zweischneidigen Gründe ist die Kapitulation von tausenden Terroristen ein großer Erfolg und eine positive Nachricht für Nigeria, besonders, wenn man die blutige Spur betrachtet, die die Gruppe in den letzten Jahren hinterlassen hat. ¹⁾Tagesschau: Tausende Ex-Kämpfer von Boko Haram geben auf; Artikel vom 15.9.21 ²⁾PRNigeria: On Mass Surrender of Boko Haram Fighters By Mukhtar Ya’u Madobi; Artikel vom 30.8.21 ³⁾allAfrica: Nigeria: Over 1,000 Boko Haram Terrorists Surrender; Artikel vom 10.8.21 ⁴⁾Nigeria Security Digest: Mass surrender of Boko Haram fighters: How we carry out the ‘Borno Model’ by Theatre Commander, Op Hadin Kai; Artikel vom 23.9.21

Die Organisation gründete sich im Jahr 2002 als Gegenbewegung zur Verwestlichung der Gesellschaft Im Nordosten Nigerias. Das führte dazu, dass ihnen der Name Boko Haram gegeben wurde, der so viel heißt wie „westliche Bildung ist verboten/Sünde“.  Zu ersten öffentlichkeitswirksamen Gewalttaten kam es 2009, als sie Polizeireviere angriff, nachdem sie nach eigenen Angaben Opfer von Polizeigewalt geworden war. In Folge dessen wurde das Militär eingesetzt. Bei den Kämpfen wurden über 700 Mitglieder von Boko Haram getötet. Zudem wurden die Führer der Gruppe festgenommen, welche daraufhin ohne Gerichtsbeschluss in Polizeigewahrsam massakriert wurden. Dies führte zu öffentlicher Empörung. Da die Gruppe aber zunächst führungslos war, konnte sie davon zuerst nicht profitieren und schien sich aufzulösen. Das änderte sich im Folgejahr, als Abubakar Shekau, ein Stellvertreter des alten Anführers, ankündigte, die Getöteten rächen zu wollen. Von da an begann die Gruppe mit steigender Intensität Anschläge zu verüben. Unter anderem waren Polizisten, Polizeistationen, Gefängnisse, Kirchen, Schulen und kritische Einzelpersonen die Ziele. Auch ein UN-Gebäude war 2012 Angriffsziel. International bekannt wurde Boko Haram jedoch vor allem durch Entführungen, vor allem von Schulkindern. Der bekannteste Fall geschah 2014, als 276 Mädchen aus einer Schule entführt wurden, was zu weltweiter  Aufmerksamkeit führte. Bis heute werden immer noch Kinder entführt, viele von ihnen bleiben vermisst. Sie werden häufig zwangsverheiratet oder zu Selbstmordanschlägen gezwungen. Andere werden für Lösegelder freigelassen, die zum Existenzverlust der Eltern führen, da diese Haus und Hof verkaufen müssen, um ihre Kinder zurückzuerhalten. Viele der Erpressten sind auch vorher schon bitterarm gewesen. Weil dieses Geschäft mit dem Lösegeld so lukrativ ist, verschwimmen häufig die Grenzen zwischen Terroristen und kriminellen Banden, die sich zwar als Boko Haram ausgeben, jedoch nicht religiös motiviert sind, keine wirklichen Kämpfe führen und kaum in die Zellenstruktur der Organisation eingebunden sind. Häufig werden auch Ausländer verschleppt, da sich die Entführer von ihnen höhere Lösegelder versprechen. ⁵⁾Spiegel: Boko Haram lässt Dutzende entführte Mädchen frei; Artikel vom 6.5.17 ⁶⁾n-tv: Boko Haram in Nigeria Schülerinnen sprengen sich in die Luft; Artikel vom 9.12.16 ⁷⁾Newsweek: Bring Back Our Girls: A Brief History of What We Know about the Missing Chibok Women; Artikel vom 14.4.17 ⁸⁾The Borgen Project: Kidnappings in Nigeria: What Is Being Done; Artikel vom 12.5.21 ⁹⁾Britannica: Boko Haram; Stand 5.10.21 ¹⁰⁾Auswärtiges Amt: Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung und COVID-19-bedingte Reisewarnung); Stand 5.10.21 ¹¹⁾Tagesschau: Mehr als 70 Schulkinder entführt; Artikel vom 2.9.21 ¹²⁾Tagesschau: Nigerias verzweifelte Eltern; Artikel vom 30.8.21

Boko Haram beschränkte sich allerdings nicht nur auf Anschläge und Entführungen, sondern versuchte auch erfolgreich Gebiete unter Kontrolle zu bringen. Die weiteste Ausdehnung war dabei 2015 erreicht. Von da an begannen die nigerianischen Truppen mit der Hilfe der nördlichen Nachbarländer das verlorene Land zurückzuerobern. Das von Terroristen kontrollierte Gebiet erstreckte sich über den Norden Nigerias bis in dessen Nachbarländer Niger, Kamerun und Tschad. 2014 erklärte die Gruppe es zu einem islamischen Staat. Wenige Monate später im März 2015 schwor Boko Haram dann der gleichnamigen Terrororganisation die Treue und benannte sich in ISWA(P) um, was so viel heißt wie „Islamischer Staat Westafrika (Provinz)“. Kurz darauf spaltete sich die Gruppe dann in zwei Teile. Die eine behielt den Namen ISWA, während die andere zum alten Namen Haram zurückkehrte. Beide Gruppen werden allerdings in der Bevölkerung und oft auch in den Medien gleichermaßen als Boko Haram bezeichnet, da die Unterscheidung häufig schwierig ist und beide in gleicher Weise Anschläge verüben. Tatsächlich konkurrieren die beiden Gruppen aber und sind in schwere Kämpfe miteinander verwickelt, wobei ISWA im Moment erfolgreicher zu sein scheint, was zu der erwähnten Aufgabe vieler Kämpfer beiträgt. Trotzdem halten beide Gruppen weiterhin Gebiete unter ihrer Kontrolle. ¹³⁾Tagesschau: Boko Haram bestätigt Tod ihres Anführers; Artikel vom 17.6.21 ¹⁴⁾Zeit: Boko Haram: Alles zur Terrororganisation; Seite Stand 5.10.21 ¹⁵⁾Britannica: Nigeria: Rise of Boko Haram; Stand 5.10.21 ¹⁶⁾Britannica: Nigeria: Military coup and return to civilian rule; Stand 5.10.21 ¹⁷⁾Britannica: Boko Haram; Stand 5.10.21

Ob die Gruppen untereinander kämpfen, gegen staatliche Truppen oder Anschläge verüben, Leidtragende sind oft hauptsächlich die Zivilisten: Die Anzahl der von Boko Haram und anderen kriminellen Entführten ist schwierig zu ermitteln. Man kann jedoch von einer mindestens 4-stelligen, eher 5-stelligen Zahl, ausgehen. Von Juni 2011 bis März 2020 wurden laut einer nigerianischen Sicherheitsfirma über 18 Mio. US-Dollar Lösegeld von meist armen Familien erpresst. Im selben Zeitraum sind bei Entführungsversuchen über 1000 Menschen ums Leben gekommen. Dies ist jedoch nur ein kleiner Teil der mindestens 20.000 Menschenleben, die der Konflikt insgesamt schon gekostet hat. Auch die Zahl derer, die vor der Gewalt flüchten ist enorm: Je nach Quelle liegt sie zwischen 2 und 3 Millionen, die meisten davon Binnenflüchtlinge. Einige fliehen aber auch in Nachbarländer oder schaffen es bis zu uns nach Europa. ¹⁸⁾SBM Intel: The economics of the kidnap industry in nigeria; Studie aus dem Mai 20 ¹⁹⁾Daily Trust: How Nigerians paid $18.34million ransom to kidnappers in 9 years; Artikel vom 28.5.20 ²⁰⁾Britannica: Nigeria: Military coup and return to civilian rule; Stand 5.10.21 ²¹⁾Tagesschau: Mehr als 70 Schulkinder entführt; Artikel vom 2.9.21 ²²⁾Tagesschau: Nigerias verzweifelte Eltern; Artikel vom 30.8.21 ²³⁾Tagesschau: Tausende Ex-Kämpfer von Boko Haram geben auf; Artikel vom 15.9.21

Die aktuelle Entwicklung lässt nun hoffen, dass sich Boko Haram auf ihr Ende zubewegt, obwohl es für solche Vorhersagen natürlich noch viel zu früh ist. Wie nachhaltig die momentane Situation die Organisation schwächt, hängt aber auch maßgeblich davon ab, wie mit den gefangen genommenen Kämpfern verfahren wird. Die Rufe nach Rache sind angesichts des dargelegten Leidens sehr laut und auch verständlich. Dennoch gilt es genau das zu vermeiden, um die Spirale der Gewalt anzuhalten. Wenn man nämlich anfangen würde die Gefangenen umzubringen, hart zu bestrafen oder auszugrenzen, würde das einerseits die (oft nicht freiwilligen) Mitglieder von Boko Haram zum weiterkämpfen bewegen. Frieden wäre für sie dann nämlich gefährlicher als der Status quo und würde ihnen keine Perspektiven mehr bieten. Andererseits würden selbst die, die schon die Waffen niedergelegt haben, wieder zu den Milizen zurückkehren, da ihnen ein friedliches Leben nicht möglich wäre. Tatsächlich stellte ISWA viele Kämpfer sogar vor die Wahl, sich ihnen anzuschließen oder sich der Regierung zu ergeben, mit der Warnung, dass diese sie töten würde. Dies geschah nicht und nur deswegen kamen den anfänglich nur hunderten Aussteigern tausende nach. Wenn dieses Vertrauen nun enttäuscht würde, fände diese Entwicklung ein jähes Ende. Was aber tun mit bis zu 10.000 Gefangenen, die sich teilweise an Entführungen und Anschlägen beteiligt haben, Menschenleben auf dem Gewissen haben und von der Zivilbevölkerung verhasst sind? Einfach und eindeutig ist diese Frage nicht zu beantworten, es wird immer Ungerechtigkeiten geben. Jedoch hat Nigeria mit Operation Safe Corridor gezeigt, dass es in der Lage ist Milizionäre zu reintegrieren. Diese läuft seit 2015 und versucht ex-Boko Haram-Mitglieder durch einen dreijährigen Aufenthalt in einem Camp wieder in die Gesellschaft zurückzuführen und eine erneute Radikalisierung zu verhindern. Während des Aufenthalts werden sie psychologisch betreut und deradikalisiert. Sie lernen einen Beruf, um Perspektiven zu haben, und müssen am Ende einen Eid ablegen, sich nie wieder einer solchen Organisation anzuschließen. Zudem werden ihre biometrischen Daten erfasst und auch danach regelmäßig Kontrollen durchgeführt, um zu gewährleisten, dass sie diesen auch einhalten. Ein solches Programm will man nun auch für die aktuellen Fälle auflegen, die zahlenmäßig allerdings weit über die bisherigen hinausgehen. Zudem sind weitere Maßnahmen nötig (und teilweise auch geplant): Die radikalen Ideologen, Hauptschuldigen und Anführer müssen getrennt von den einfachen Kämpfern behandelt werden, damit diese nicht weiter indoktriniert werden und erstere auch belangt werden können. Weiterhin müssen die Kämpfer und ihre Opfer voneinander getrennt bleiben. Das heißt sie sollten auch nicht wieder in ihrer Heimat angesiedelt werden, da dies meist die von Boko Haram am stärksten betroffenen Gebiete sind. Gleichzeitig  muss aber auch darauf geachtet werden, dass man die ehemaligen Kämpfer der Terrororganisationen nicht besser behandelt als deren Opfer, da es sich somit lohnen würde gewalttätig zu werden. Das scheint aber zu passieren, da die Regierung weit weniger bemüht ist, den über 2 Millionen Vertriebenen oder auch der restlichen verarmten Bevölkerung zu helfen, da von ihr weit weniger Gefahr ausgeht. Die Armut ist aber das Hauptproblem, das Boko Haram auch erst so erfolgreich hat werden lassen. Sie verursacht auch andere Konflikte im Lande, führt zu massiver Mangelernährung von Kindern und behindert das Land in seinem Wachstum. Sie wird hauptsächlich durch die grassierende Korruption verursacht und ist ein tiefgehendes strukturelles Problem. Trotz all dieser Probleme bietet die aktuelle Entwicklung Grund zu Hoffnung. Wenn die Reintegration und Versöhnung  gelingt (und die Vorzeichen stehen nicht schlecht), würde eines der größten Probleme des Landes entschärft und ein Kreislauf der gegenseitigen Gewalt wie in vielen anderen Ländern verhindert. Um diese Entwicklung nachhaltig zu gestalten müssen aber auch die tiefgehenden Probleme gelöst werden – eine Aufgabe ganz anderer Dimension. ²⁴⁾Tagesschau: Tausende Ex-Kämpfer von Boko Haram geben auf; Artikel vom 15.9.21 ²⁵⁾PRNigeria: On Mass Surrender of Boko Haram Fighters By Mukhtar Ya’u Madobi; Artikel vom 30.8.21 ²⁶⁾Nigeria Security Digest: Mass surrender of Boko Haram fighters: How we carry out the ‘Borno Model’ by Theatre Commander, Op Hadin Kai; Artikel vom 23.9.21 ²⁷⁾allAfrica: Nigeria: Over 1,000 Boko Haram Terrorists Surrender; Artikel vom 10.8.21 ²⁸⁾Ops Lens: Boko Haram: Addressing Oil and Religion; Artikel vom 10.9.18 ²⁹⁾The Whistler: Nigeria Has Highest Number Of Children Threatened By Malnutrition In The World—UNICEF; Artikel vom 22.9.21 ³⁰⁾Britannica: Nigeria; Stand 5.10.21 ³¹⁾Blueprint: Operation Safe Corridor: The world of repentant Boko Haram members; Artikel vom 28.3.20 ³²⁾Daily Trust: Reintegration of Boko Haram members; Artikel vom 23.8.20