Impfnationalismus – arme Länder bleiben im Streit um den Impfstoff zurück
Der Begriff »Export-Transparenzmechanismus« rückte zuletzt in die oberste Timeline des Corona-Livetickers. Dieser sei sinnvoll, damit wir zumindest “wissen, was in Europa hergestellt wird, was Europa verlässt”. Was sich zunächst nach einer solidarischen Pandemiebekämpfung anhört, entpuppt sich bei genauerem Blick als purer Impfnationalismus. Von einem “Gemeinsam gegen das Virus” scheint keine Spur mehr zu sein. 1)Zdf: Lieferengpässe: Spahn will Exportbeschränkung für Impfstoffe; Artikel nicht mehr verfügbar 2)DER SPIEGEL: Gebrochene Lieferversprechen: EU droht Impfstoffherstellern mit Exportverbot; Artikel vom 26.01.2021
Dabei hat die WHO gemeinsam mit internationalen Hilfsorganisationen, Regierungen und Pharmaunternehmen im April mit COVAX den Grundstein für einen gerechten Verteilmechanismus des Impfstoffes gelegt. Die Initiative wollte Regierungen, Unternehmen, Gesundheitsbehörden, Wissenschaft und Zivilgesellschaft weltweit zusammenbringen, um gemeinsam an der Entwicklung und Produktion zu arbeiten. Ein gemeingesellschaftlicher Ansatz einer Virusbekämpfung, die der globalen Verbreitung von Corona gerecht wird. Das Konzept steht, doch am Geld mangelt es. Die Bundesregierung und die EU stellten zwar bereits Finanzspritzen zur Verfügung – die USA und Russland behalten sich ihren Beitrag noch vor – doch “es reicht bei weitem noch nicht aus, um die Menschen in Ländern wie im Südsudan und der Demokratischen Republik Kongo an den Impfstoffen teilhaben zu lassen. Gleichzeitig sind aber gerade diese Menschen besonders hart von den Auswirkungen der Pandemie betroffen”, so Annette Wächter-Schneider, Programmdirektorin von Malteser International.
Anfangs überschlugen sich Staatschefs mit Zusicherungen ihrer Solidarität gegenüber armen Ländern. Angela Merkel versicherte, der künftige Impfstoff müsse ein “globales öffentliches Gut” werden und für “alle Teile der Welt” zugänglich sein Doch ein paar Wochen später, als die ersten Vakzine ihren Freifahrtschein erhielten, war vom so selbstverständlich bekundeten Altruismus keine Spur mehr.
Den weltweit fünf reichsten Staaten zusammen mit der EU fallen nach Medienberichten mehr als 50 Prozent aller geplanten Dosen zu, obwohl sie nur 14 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Und Pharmakonzerne winken ihnen fröhlich zu, ungeachtet dessen, wen der Impfstoff erreicht. Biontech/Pfizer verkaufte von den 1,3 Milliarden Impfdosen, die 2021 produziert werden können, bereits mehr als 570 Millionen an die EU und die USA. Geht es um die längerfristige Versorgung mit dem Vakzin, schlossen die USA, die EU, Australien, Großbritannien und die Schweiz schon im September Verträge über 5,3 Milliarden Impfdosen. 2,6 Milliarden sollen an Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder China gehen. Für alle anderen bleibt der Rest.
So laut hier die Ungerechtigkeit zum Himmel schreit, so präsent sind desto trotz Stimmen aus der Bevölkerung, die anklagend Richtung Regierung zeigen und eine unzureichende Sicherung des Impfstoffes bemängeln. Dabei stehen uns hierzulande nach Zahl der gesicherten Dosen im Schnitt 4,5 Phiolen pro Kopf zur Verfügung, während für einen ausreichenden Schutz lediglich zwei notwendig wären. Über die Hamsterkäufe von Nudeln bis Toilettenpapier wurde Anfang des Jahres nur verständnislos der Kopf geschüttelt, nun spiegelt sich jenes Verhaltensmuster erneut in der Sicherung der kleinen Impfdosen wider. 3)der Freitag: Purer Impfnationalismus; Artikel vom 07.12.2020 4)epo.de: Covid-19: Arme Länder vom Impfschutz weit entfernt; Artikel vom 12.01.2021 5)nordbayern: Corona-Impfstoff: Ärmere Länder gehen bei der Verteilung vorerst leer aus; Artikel vom 02.01.2021
Ruft man sich dabei ins Gedächtnis, dass der Reichtum des Globalen Nordens und somit die Grundlage für den breitflächigen Erwerb des Impfstoffes zu einem Großteil auf der Ausbeutung derer beruht, die nun unter der ungleichen Verteilung leiden, zeichnet sich das Gesicht des Neokolonialismus immer deutlicher ab. Industriestaaten preschen mit dem Selbstverständnis einer nationalen Überlegenheit im Kampf um den Impfstoff vor und lassen dabei wissentlich all jene hinter sich, die ihrer Ansicht nach im Weltmarkt nun mal nicht bestehen können. Dabei beanspruchen sie nicht nur das Endergebnis der fluiden Substanz für sich, sondern ebenso das Know-how darüber. Denn knapp ein Viertel aller im Westen ausgestellten Rezepte beruht auf traditionellen Heilpflanzen und indigenem Wissen darüber. Steht der Globale Norden zwar weltweit für wissenschaftliche Progressivität und Fortschritt, so bildet jahrzehntelange Forschung indigener Gruppen oft die Grundlage dafür. Der Rechtsexperte Ikechi Mgebeoji beschreibt, wie sich Pharmakonzerne medizinisches Wissen entschädigungslos aneignen und später durch Patentrechte geschützt selbst vermarkten. Traditionelle Medizin macht bei der Erstversorgung im Globalen Süden ganze 80 Prozent aus. Das Wissen dazu wird häufig mündlich weitergegeben. Um ein Patent anzumelden, braucht es jedoch Schriftlichkeit. Diese Aufgabe übernehmen Pharmakonzerne, machen die Erfindung gewerblich anwendbar und schneiden Vorwissen auf ihre industriellen Produktionsformen zu. Indigenes Wissen wird auf diese Weise strukturell vom rechtlichen Anspruch im Patentsystem ausgeschlossen. 6)taz: Politikwissenschaftlerin über Patente: „Reiche Länder profitieren“; Artikel vom 04.01.2021 7)Frankfurter Rundschau: Wettrennen um Impfstoff gegen Corona: Patentschutz vorübergehend aussetzen – eine echte Option; Artikel vom 20.10.2021
Das Patentrecht wird dabei ebenso zum Spiegel weltweiter Machtverhältnisse wie zum Monopol auf Zeit – mit dem Know-how über den Impfstoff ist es Industrieländern möglich, den Wettbewerb auszuhebeln, um auf Innovation und Produktion zu setzen sowie den Pharmakonzernen Monopolpreise zu gewähren, während der Globale Süden auf eine solidarische Geste des Nordens warten muss. Doch Altruismus steht dem aus dem Kolonialismus hervorgegangenen Kapitalismus bekanntlich nicht besonders gut – anderenfalls müssten wir hier nicht zwischen Arm und Reich unterscheiden.
Der US-amerikanische Impfstoffhersteller Moderna verzichtet bereits darauf, Patentrechte während der Pandemie einzufordern. Von Biontech blieb ein solcher Schritt bislang aus. Um schnell möglichst viele Leben zu retten, wäre eine Zusammenarbeit zwischen Pharmakonzernen und Regierungen weltweit unerlässlich. Würde allgemein auf ein Patentrecht verzichtet und Wissen über die Impfstoffherstellung bedingungslos geteilt werden, könnten Produktionskapazitäten erweitert werden, um eine breitflächige Versorgung mit dem Vakzin zu garantieren. Wenn “die Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll”, ist nach deutschem Recht sogar die Aufhebung eines Patentschutzes gegen Entschädigung möglich.
Es schockiert, dass selbst im weltweiten Ausnahmezustand profitorientierten Konzernen unhinterfragt eine Monopolstellung mit absoluter Preismacht zugestanden wird. Wenn die Marktmacht entscheidet, wer versorgt wird und wer nicht, dann behalten wir Abhängigkeits- und Machtstrukturen bei, die den bestehenden ökonomischen Neokolonialismus immer weiter antreiben. Die Pandemie konfrontierte uns bisher unausweichlich mit den Auswirkungen struktureller Ungleichheit – und das wird sie auch weiterhin tun. Denn was wir hier sehen, ist keine Krise des Virus, es ist eine Krise des gesamten Systems. 8)der Freitag: Purer Impfnationalismus; Artikel vom 07.12.2020 9)der Freitag: Suspendiert den Patentschutz!; Artikel vom 06.01.2021 10)Frankfurter Rundschau: Wettrennen um Impfstoff gegen Corona: Patentschutz vorübergehend aussetzen – eine echte Option; Artikel vom 20.10.2021
Fußnoten und Quellen:
Werner Unger
Veröffentlicht um 19:06h, 27 JanuarHallo Lucia,
super Artikel – W