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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
Truppenabzug in Afghanistan verschärft prekäre Sicherheitslage
Die Ankündigung Donald Trumps, US-Truppen in Afghanistan zu reduzieren, kommt nicht überraschend. Es handelt sich um eine Verpflichtung, die aus den mit den Taliban geführten Friedensgesprächen in Doha vom Frühjahr 2020 hervorgeht. Was jedoch derzeit für Aufregung sorgt, ist der vorzeitig geplante Abzug der Truppen von 4.500 auf 2.500 bis zum 15. Januar 2021, statt bis April desselben Jahres. Es scheint, als hätte diese Entscheidung weniger mit der Situation im Konfliktland selbst zu tun, als dem Ziel, seinem Präsidentschafts-Nachfolger Joe Biden verbranntes politisches Terrain zu hinterlassen. 1)Thomas Ruttig: Trump stärkt mit beschleunigten Truppenabzug aus Afghanistan die Optionen der Taleban; Artikel vom 18.11.2020 2)Spiegel:US-Präsident will alle Truppen aus Afghanistan abziehen; Artikel vom 08.10.2020
Als die USA ihren Einmarsch in Afghanistan nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 bekannt gaben, verschrieben sie sich dem Kampf gegen den Terror. Unter dem Vorwand einer Vergeltung für die Anschläge, verfolgte die Regierung das Ziel, Al-Qaida und ihr Unterstützungsnetzwerk innerhalb der Taliban durch eine Militäraktion auszulöschen. Die Bush-Regierung gab dem Taliban-Regime in Kabul eine Frist von zwei Wochen, verdächtige Terroristen an die USA auszuliefern. Vergleicht man dieses Ultimatum mit anderen Konflikten, so ist es eine sehr kurz angelegte Aufforderung. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Stationierung von Truppen also zu diesem Zeitpunkt bereits feststand. Nachdem Afghanistan der Forderung der Auslieferung nicht nachgekommen war, gingen die USA 26 Tage später die “Operation Enduring Freedom”an und somit ihre Offensive gegen die Taliban. 3)E-International Relations: Was the NATO Invasion of Afghanistan Legal?; Artikel vom 06.11.2013 4)Fluchtgrund: Land: Afghanistan; Stand vom 25.11.2020
Zwei Jahrzehnte später herrscht immer noch Krieg
Von Frieden kann man 19 Jahre später immer noch nicht sprechen. Seit den Ereignissen von 2001 hat sich die politische Lage dort kaum gebessert. Gewalt und der Terror nahmen zuletzt sogar wieder zu und der Global Peace Index 2020 stufte Afghanistan das zweite Jahr in Folge als gefährlichstes Land der Welt ein. Demnach sterben dort die meisten Menschen aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen. Seit rund 20 Jahren gerät die Zivilbevölkerung immer wieder ins Kreuzfeuer zwischen der Regierung in Kabul und regierungsfeindlichen Gruppierungen, wie den Taliban. Täglich werden bis zu 13 Luftangriffe, durch die afghanische Regierung vorgenommen, die auf die Taliban abzielen. Doch durch ihre Ungenauigkeit fallen ihnen immer wieder Zivilisten zum Opfer. Die finanzielle Unterstützung durch die USA ermöglichte zuletzt einen Ausbau der afghanischen Luftstreitkräfte und somit eine Zunahme der Attacken. Im Gegenzug steigerten die Taliban die Zahl kleinteiliger Operationen: Sie erobern und zerstören landesweit systematisch Kontrollpunkte der Polizei und regierungsfreundlicher Milizen sowie Armeebasen und übernehmen die Kontrolle über Verbindungsstraßen dazwischen. Mordanschläge auf Soldaten, Polizisten, zivile Regierungsmitarbeiter sind in Kabul und anderen Großstädten fast an der Tagesordnung. 5)Schweizerische Flüchtlingshilfe:Afghanistan: Die aktuelle Sicherheitslage; Bericht vom 30.09.2020 6)Economics and Peace: Global Peace Index 2020;Bericht vom Juni 2020 7)Tagesschau: Afghanistan-Experte „Abzug spielt in die Hände der Taliban“; Artikel vom 17.11.2020
Die Corona-Pandemie verstärkt den Hunger
Auf die afghanische Bevölkerung hat sich der seit Jahrzehnten andauernde Konflikt schwer ausgewirkt. Mehr als ein Drittel der Menschen dort sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, erklärte Thomas ten Boer, Landesdirektor der Welthungerhilfe. Die Menschen bräuchten “eine verlässliche Perspektive und endlich Frieden”. Gewaltsame Konflikte, steigende Lebensmittelpreise und fehlende Einkommen schwächen die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und stellen die stärksten Hungertreiber dar. In dieser Situation wirkt die Corona-Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. Der jahrelange Krieg, wiederkehrende Dürren und Überschwemmungen schwächten die wirtschaftliche Leistung ohnehin in den letzten Jahren. Das Virus trifft das Land in einem Zustand, in welchem es ohnehin bereits droht, zu kollabieren. 8)Pro Asyl: Mitten in der Pandemie: Drohende Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Afghanistan; Artikel vom 11.11.2020 9)Thomas Ruttig: Trump stärkt mit beschleunigten Truppenabzug aus Afghanistan die Optionen der Taleban; Artikel vom 18.11.2020
Ein Schritt dem Terror entgegen?
Im Frühjahr 2020 fanden die Friedensverhandlungen von Doha statt. Nach dem Abkommen verpflichteten sich die USA zum Abzug aller stationierter Truppen, Verbündeter wie die Bundeswehr sowie sog. ziviler Sicherheitsdienstleister. Die Einigung sieht für die Taliban im Gegenzug Friedensgespräche mit der Kabuler Regierung sowie die Einstellung des Kampfes gegen sie vor. Nun erfolgt die Beschleunigung der Umsetzung allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem viele Beobachter meinen, die Taliban kämen ihren Verpflichtungen nicht nach. Ob sie sich nach der Verringerung der stationierten US-Soldat*innen noch an die Abmachung halten, erscheint fraglich. Nach einem Truppenabzug der USA würde ihr größtes Hindernis für eine erneute Machtübernahme verschwinden und die internationale Aufmerksamkeit für Afghanistan sinken. Der Durchsetzung ihrer gesellschaftlichen Vorstellungen im Land stände dementsprechend nicht mehr viel im Wege, wäre die afghanische Regierung gegenüber radikal-islamischen Aufständischen erst einmal geschwächt. 10)Spiegel: Bundeswehr muss den Turboabzug planen; Artikel vom 18.11.2020 11)Tagesschau: Afghanistan-Experte „Abzug spielt in die Hände der Taliban“; Artikel vom 17.11.2020 12)Tagesschau: US-Soldaten in Afghanistan: NATO warnt vor schnellem Truppenabzug; Artikel vom 17.11.2020 13)Spiegel:US-Präsident will alle Truppen aus Afghanistan abziehen; Artikel vom 08.10.2020
Frauen fürchten um ihre Rechte
Eine Beteiligung der Taliban an der Kabuler Regierung oder gar ein Umsturz würden die Verfassungsmäßigkeit, gewisse politische Freiheiten und Menschenrechte gefährden. So ständen Fortschritte, die in den letzten Jahren in Sachen Frauenrecht gemacht wurden, in der Schwebe. Zur Zeit der Taliban-Herrschaft hatten Männer die alleinige Entscheidungsgewalt. Als sie 2001 schließlich von den USA verdrängt wurde, herrschte die Hoffnung, dass sich die Situation für Frauen bessern würde. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, die in der Verfassung verankert wurde, entspricht bis heute nicht der Wirklichkeit – täglich sind Frauen Opfer körperlicher, sexualisierter und seelischer Gewalt. Ein Problem, das meist in den Reihen der eigenen Familie stattfindet. Nach Angaben von „Medica Afghanistan“ werden beispielsweise häufig Frauen, die Opfer von Vergewaltigung und Zwangsprostitution sind, wegen Ehebruchs angeklagt. Selten haben sie dabei die Möglichkeit, für ihre Rechte einzutreten und für viele von ihnen bleibt Selbstmord der einzige Ausweg. Auch das Schulsystem hält für Frauen weniger Chancen bereit, was zu mangelnder Bildung und Analphabetismus führt. Besonders erstrebenswert wären Investitionen in Bildung und Einkommensmöglichkeiten für Frauen, sowie ein verbesserter Zugang zur Gesundheitsversorgung. 14)Tagesschau: Afghanistan-Experte „Abzug spielt in die Hände der Taliban“; Artikel vom 17.11.2020 15)Deutschlandfunk Kultur: US-Soldaten in Afghanistan NATO warnt vor schnellem Truppenabzug ; Artikel vom 15.07.2019 16)Blätter Verlagsgesellschaft: Afghanistans vergessene Frauen; Artikel vom April 2019
Wie es um die Frauenrechte nach einer erneuten Machtübernahme oder Regierungsbeteiligung der Taliban stände, formulieren diese nur vage, deuten aber an, dass sich Frauen künftig an das islamische Recht halten sollen. Was immer das konkret heißen mag. 17)Tagesschau: Afghanistan: Die Angst der Frauen vor den Taliban; Artikel vom 02.03.2020
Deutschland nun nicht mehr im Windschatten der USA
Wie sich die Rolle Deutschlands im Afghanistan-Krieg mit Hinsicht auf den Truppenabzug ändern wird, ist weitreichend ungeklärt. Am 22. Dezember 2001 sicherte die Bundesregierung den USA mit einem Beschluss des Bundestages ihre Unterstützung in Reaktion auf die terroristischen Angriffe zu. Dies bedeutete beispielsweise den Einsatz der sogenannten Internationale Schutztruppe für Afghanistan (ISAF), die für Sicherheit sorgen und die Regierung in Kabul beim Wiederaufbau unterstützen soll. Seither blieb die deutsche Beteiligung am Krieg gegen die Taliban bestehen. Während zunächst der gemeinsame Kampf gegen Taliban und die Miliz “Islamischer Staat” im Vordergrund stand, ist der Einsatz im Moment offiziell eine Ausbildungsmission für afghanische Sicherheitskräfte. Meist im Windschatten der USA aktiv, wird sich das nun durch die Rückkehr von US-Truppen nach Amerika ändern. Für die Bundeswehr und die gesamte NATO, die mit rund 12.000 Soldaten aus den Mitgliedstaaten die afghanische Armee ausbildet, ist die US-Unterstützung lebenswichtig. Alle Partner zusammen haben mehr Soldaten am Boden als die USA. Ohne die stets verfügbaren Kampfjets der U.S. Air Force wären die NATO-Truppen aber im Ernstfall, wie einem Angriff der Taliban auf ein NATO-Camp außerhalb von Kabul, auf sich allein gestellt. 18)Spiegel: Bundeswehr muss den Turboabzug planen; Artikel vom 18.11.2020 19)Deutsche Welle: Asien: Afghanistan – Eine Chronik; Artikel vom 06.03.2014
Nach den Worten Donald Trumps handelt es sich um einen sogenannten Teilabzug. In Zukunft werden in Afghanistan zwar noch US-Truppen stationiert sein, jedoch in reduzierter Form. Folgen wird das zum einen auf die afghanische Regierung haben, die nicht mehr jederzeit auf den Beistand der USA zählen kann, wenn sie von den Taliban unter Druck gesetzt wird. Zum anderen auf die Zivilbevölkerung, deren ohnehin fragile Rechte im erneuten Terror zwischen der Regierung von Kabul und regierungsfeindlichen Gruppierungen unterzugehen drohen. Mehr denn je ist Afghanistan durch die Abhängigkeit von den USA und ihren Verbündeten gezeichnet. Klar ist: Der Weg zur Eigenständigkeit wird steinig.
Fußnoten und Quellen:
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