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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
Sie fordern ein Ende der Polizeigewalt: Die #EndSARS-Proteste mobilisieren ein ganzes Land
„Früher war ich davon überzeugt, dass sich die Lage in Nigeria bessern wird, aber ich habe aufgegeben“, erklärt Karo Omu, die Nigeria 2016 verließ, auf einem #EndSARS-Protest in London. „Dies ist das erste Mal nach langer Zeit, dass ich das Gefühl habe, es könnte wieder besser werden“. 1)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020
Seit dem 8. Oktober besetzen Menschen die Straßen von Großstädten in 21 Bundesstaaten Nigerias. Sie fordern ein Ende der Polizeigewalt, der außergerichtlichen Hinrichtungen und der Erpressung durch die Special Anti-Robbery-Squad (SARS), einer Einheit der nigerianischen Polizei, die für die Bekämpfung von Gewaltverbrechen sowie Raubüberfällen und Entführungen zuständig ist. Ausgelöst wurden die Proteste durch ein Video auf Twitter, das die Tötung eines jungen Mannes durch einen SARS-Offizier zeigt. 2)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020 3)Amnesty International:Nigeria: Authorities must initiate genuine reform of the police; Artikel vom 15.10.2020
Während die Demonstrationen auf Seiten der Protestierenden friedlich blieben, griffen Sicherheitskräfte mit Brutalität durch: Tränengas, Wasserwerfer und scharfe Schüsse wurden eingesetzt, um die Menge zurückzudrängen. Mittlerweile kann angenommen werden, dass bei den Protesten zahlreiche Personen verhaftet und mehr als 58 Menschen getötet wurden. Dies betrifft auch den 20-jährigen Jimoh Isaiq, ein Universitätsstudent, der am 11. Oktober 2020 während einer #EndSARS-Demonstration im Bundesstaat Oyo im Südwesten Nigerias von den Schüssen eines Polizeiteams getroffen wurde, das die Demonstranten angriff. 4)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020
Die Einheit entstand, um Menschen zu schützen
Als zu Beginn der 1990er Jahre ein Anstieg der Kriminalität in Lagos und im südlichen Nigeria verzeichnet wurde, beschlossen Behörden die Gründung einer Spezialeinheit der nigerianischen Polizei gegen Raubüberfall. 1992 wurde daraufhin die Special Anti-Robbery-Squad, auch kurz SARS, gebildet, um bewaffnete Raubüberfälle und schwere Verbrechen zu bekämpfen. Vor dessen Gründung fiel die Raubbekämpfung im Allgemeinen in den Zuständigkeitsbereich der nationalen Polizei. Das Mandat der SARS umfasste nun die Festnahme, Untersuchung und Verfolgung von mutmaßlich bewaffneten Räuber*innen, Mörder*innen, Entführer*innen und anderen vermuteten Gewalttäter*innen. Dabei genoss die Spezialeinheit besondere Privilegien, wie zum Beispiel die Ausführung ihrer Arbeit in Zivil sowie in Zivilfahrzeugen ohne Sicherheits- oder Regierungsabzeichen.
Zehn Jahre lang war sie lediglich in Lagos aktiv, bevor sie sich ab 2002 auf alle 36 Bundesstaaten der Föderation ausbreitete. 5)Al Jazeera:Nigeria’s SARS: A brief history of the Special Anti-Robbery Squad; Artikel vom 22.10.2020
Mehr Machtzugeständnisse schufen ein Klima der Angst
Ermutigt durch die neuen Machtbefugnisse, entfernte sich die Einheit im Laufe ihres Einsatzes immer weiter von ihrer Hauptaufgabe, der Durchführung verdeckter Operationen, und begann mit der Errichtung von Straßensperren sowie der Erpressung von Bürgern. Sie agierte weiterhin in Zivil, begann jedoch, in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen. 6)Al Jazeera:Nigeria’s SARS: A brief history of the Special Anti-Robbery Squad; Artikel vom 22.10.2020
2016 veröffentlichte Amnesty International in diesem Zusammenhang einen Bericht, der 82 Fälle von Menschenrechtsverletzungen, einschließlich außergerichtlicher Hinrichtungen, Folter und anderer Misshandlungen, Vergewaltigungen und Erpressungen durch Offiziere der SARS dokumentierte. Außerdem teilte die Menschenrechtsbewegung ihre Erkenntnisse, die sie bei einem Besuch in einem SARS-Gefangenenlager in Nigerias Hauptstadt Abuja sammelte. Dort fand sie 130 Gefangene vor, die in überfüllten Zellen leben und regelmäßig Foltermethoden wie Erhängen, Verhungern, Schlagen, Erschießen und Scheinhinrichtungen ausgesetzt sind. 7)Al Jazeera: Nigeria’s SARS: A brief history of the Special Anti-Robbery Squad; Artikel vom 22.10.2020 8)Amnesty International:Nigeria: ‘You have signed your death warrant’: Torture and other ill treatment in the Special Anti-Robbery Squad; Stand vom 29.10.2020 9)Amnesty International:Nigeria: Time to end impunity: Torture and other human rights violations by special anti-robbery squad (SARS); Stand vom 29.10.2020
Die Opfer sind meistens junge Männer zwischen 18 und 36 Jahren, die armen oder gefährdeten Bevölkerungsgruppen angehören. Als Grund für eine Durchsuchung dient oftmals lediglich der Besitz eines Laptops oder Smartphones. Sie geraten im Kontext von Cyberkriminalität oder als angenommene „Online-Betrüger“ in das Visier der SARS und werden gefoltert. Entweder um an Informationen und „Geständnisse“ zu gelangen oder als Strafe für ihre angeblichen Vergehen. 10)Amnesty International:Nigeria: ‘You have signed your death warrant’: Torture and other ill treatment in the Special Anti-Robbery Squad; Stand vom 29.10.2020 11)Amnesty International:Nigeria: Time to end impunity: Torture and other human rights violations by special anti-robbery squad (SARS); Stand vom 29.10.2020
2017 warf die SARS dem 23-jährigen Miracle Onwe Laptop-Diebstahl vor, woraufhin sie ihn festnahmen und in einem SARS-Gefängnis inhaftierten. Amnesty International erzählte er von seiner 40-tägigen Haft, in der er gefoltert wurde und kaum etwas zu essen bekam. Als er am 25. März 2017 vor ein Gericht gestellt und wegen bewaffneten Raubüberfalls angeklagt wurde, entließen ihn die Behörden aus Mangel an Beweisen. Ein Anwalt, der Miracles Fall später aufgriff, wandte sich im Mai 2017 an den Generalinspektor der Polizei (IGP) und bat um eine Untersuchung, woraufhin er jedoch keine Antwort erhielt. 12)Amnesty International:Nigeria: Time to end impunity: Torture and other human rights violations by special anti-robbery squad (SARS); Stand vom 29.10.2020
Auch Stimmen aus der LGBTQ-Community klagen über strukturelle Schikane durch die Polizei. Als Grundlage dient den Beamten dabei die Auslebung ihrer Sexualität.
Matthew Blaise, ein Aktivist schildert: „Intergeschlechtliche Menschen sind immer eine Zielscheibe. Wir geraten allein deshalb ins Visier, weil wir existieren“, sagt er. „Ich muss also weder ein Smartphone besitzen, noch extravagant aussehen.“ Seine Erfahrung mit der SARS wurde durch mehrere schmerzhafte Konfrontationen gezeichnet. Nigerianische Gesetze gegen Homosexualität verwehren ihm auch nur die geringste Möglichkeit, die Gewaltausübenden zur Verantwortung zu ziehen und Gerechtigkeit zu fordern. 13)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020
Leere Versprechen der Regierung – Protestierende geben nicht auf
Die Demonstrationen unter der Forderung
#EndSARS führten zur Ankündigung des nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari, die Spezialeinheit aufzulösen. Trotz dieser Nachricht ist es für die Demonstranten keine Option, ihre Proteste zu stoppen. Dass die Regierung ihnen eine Reformierung oder Auflösung der Einheit und somit ein Ende der Gewalt verspricht, geschieht nicht zum ersten Mal. So stellte der damalige Präsident Goodluck Jonathan im Oktober 2010 71 Milliarden Naira (196 Mio. Dollar) für Polizeireformen zur Verfügung. Sechs Jahre später kündigte der Generalinspekteur der nigerianischen Polizei umfassende Reformen an, um die übermäßige Gewaltanwendung durch SARS-Einheiten und die Nichteinhaltung ordnungsgemäßer Verfahren zu korrigieren. Zu gerichtlichen Folgen für SARS-Beamte kam es jedoch nie. Auch die letzte Ankündigung einer Auflösung vonseiten Buharis war mit Vorbehalten versehen: Ganz verschwinden wird die Spezialeinheit nicht. Eine neue Einsatzgruppe, die SWAT, wird die SARS ersetzen. Dabei bleiben ehemalige SARS-Beamte Teil der Polizei und werden lediglich in andere Abteilungen versetzt. 14)Al Jazeera:Nigeria’s SARS: A brief history of the Special Anti-Robbery Squad; Artikel vom 22.10.2020 15)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020Trotz wiederholter Versprechen der nigerianischen Regierung, was Reformen und die Rechtfertigung polizeilicher Herangehensweisen betrifft, stellte Amnesty International fest, dass Folter auch heute noch einen routinemäßigen und systematischen Teil der polizeilichen Ermittlungen bei der SARS darstellt. 16)Amnesty International:Nigeria: ‘You have signed your death warrant’: Torture and other ill treatment in the Special Anti-Robbery Squad; Stand vom 29.10.2020 17)Amnesty International:Nigeria: Time to end impunity: Torture and other human rights violations by special anti-robbery squad (SARS); Stand vom 29.10.2020
Das Problem geht über die SARS hinaus, sagen die Demonstranten. Gewaltverbrechen gegen Zivilisten und das Handeln außerhalb polizeilicher Befugnisse sind keine Seltenheit in Nigeria. Nach Angaben von Amnesty International ist die gesamte Institution der nigerianischen Polizei jedes Jahr für Hunderte von außergerichtlichen Hinrichtungen, andere unrechtmäßige Tötungen und Verschwinden von Personen verantwortlich.
„Einige Polizisten verdienen 50.000 Naira pro Monat (130 Dollar)“, sagt Michael Sonariwo. Der 27-jährige wurde bereits mehr als fünf Mal von SARS-Offizieren festgenommen. „Mit diesem Gehalt müssen sie manchmal eine zwei- oder dreiköpfige Familie ernähren. Wenn die Regierung sie wie Tiere behandelt, handeln sie irgendwann dementsprechend.“ 18)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020

Aufgeben ist keine Option: Protestierende schlafen vor dem Lagos State House of Assembly | Bild: © TobiJamesCandids [CC BY-SA 4.0] – Wikimedia Commons
Der Mut der Nigerianer aller Altersgruppen und unterschiedlicher Hintergründe, die auf die Straßen gehen, um eine Veränderung zu bewirken, ist eine Quelle der Hoffnung für all jene, die das Land bereits aufgaben. Der Kampf um das, was sein könnte, ist ein Kampf mit jungen Menschen an vorderster Front. „Die Jugend erkennt ihre Macht, und es ist wirklich schön, das zu sehen, aber was noch schöner wäre, wäre eine Veränderung“, sagte Omu. 21)BuzzFeed: Nigeria’s military shot and killed peaceful protesters who were calling for an end to police brutality; Artikel vom 22.10.2020
Fußnoten und Quellen:
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