![Mit Ausnahme der russischen Kalaschnikow ist das G3 das am weitesten verbreitete Gewehr auf der Welt. | Bild: © Armémuseum [CC BY-SA 4.0] - Wikimedia Commons G3-Schnellfeuergewehr Mit Ausnahme der russischen Kalaschnikow ist das G3 das am weitesten verbreitete Gewehr auf der Welt. | Bild: © Armémuseum [CC BY-SA 4.0] - Wikimedia Commons](https://www.fluchtgrund.de/files/2020/10/800px-Heckler_X_Koch_G3_Holzschaft_Display_noBG-713x350.png)
Mit Ausnahme der russischen Kalaschnikow ist das G3 das am weitesten verbreitete Gewehr auf der Welt. | Bild: © Armémuseum [CC BY-SA 4.0] - Wikimedia Commons
Deutsche Waffen gelangen auch in Konfliktgebiete
Deutschland exportierte in den ersten zehn Monaten des vergangen Jahres Waffen und andere Rüstungsgüter im Wert von 7,42 Milliarden Euro – fast so viel wie im Rekordjahr 2015 mit einem Wert von 7,86 Milliarden Euro. Das macht Deutschland dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri zufolge zum viertgrößten Waffenexporteur der Welt. 1)Zeit Online: USA bleiben größter Waffenexporteur der Welt; Artikel vom 09.03.20202)Deutsche Welle: Deutsche Waffenexporte vor neuer Höchstmarke; Artikel vom 13.11.2019
Zwar sind diese Exporte alle von der Bundesregierung genehmigt, aber trägt Deutschland damit nicht dazu bei, Konflikte und Fluchtursachen, zum Beispiel in Syrien, zu verschärfen? Ist Deutschland selbst verantwortlich für die hohen Zahlen an syrischen Flüchtlingen im Land?
Vorab kann man schon eines sagen: Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Alle Antworten wie die Daten zu diesem Thema sind lückenhaft, aus folgenden zwei Gründen: Erstens, weil die Politik mit Waffen- und Rüstungsexporten zum Teil sehr intransparent umgeht und das Parlament nur mit den nötigsten Informationen versorgt. Zweitens, weil die Rüstungsbranche hermetisch abgeriegelt ist, was es erschwert, tatsächliche Lieferwege nachzuvollziehen. Zunächst lässt sich festhalten: Deutschland liefert fast nie direkt in Krisengebiete. Der militärische Export in Krisengebiete steht unter strengen Auflagen, etwa dem Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffG) und dem Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Diese Gesetze legen fest, welche Rüstungsgüter einer Genehmigung bedürfen. Das bedeutet, der Staat genehmigt nur in Ausnahmefällen die Ausfuhr in ein Krisengebiet. Ein Beispiel sind die kurdischen Peschmerga: Ihnen wurden 2015 Lenkwaffensysteme, Handgranaten und Sturmgewehre im Wert von 65 Millionen Euro geliefert, um sie im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ auszurüsten. 3)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.2015
Diese Tatsache stimmt mit den Rüstungsexportberichten seit 1999 überein. Demnach haben die Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen – Syrien, Afghanistan, Somalia, Sudan, Südsudan – keine deutschen Waffen in nennenswerter Höhe erhalten. Abgesehen von der Unterstützung der kurdischen Peschmerga gibt es also tatsächlich keine direkten Lieferungen deutscher Waffen in die Krisengebiete des Nahen Ostens. Allerdings muss man auch einen Blick in die Vergangenheit werfen, um die anfangs gestellte Frage annähernd beantworten zu können. Denn die Spannungsgebiete von heute waren nicht selten die befreundeten Diktaturen von gestern, mit denen man in der Vergangenheit gerne Geschäfte gemacht hat. Zum Beispiel der Iran: Damals noch unter der westlich gestimmten Schah-Diktatur, wurde er üppig mit deutschen Rüstungsgütern versorgt. Das Regime erhielt Ende der 70er Waffen im Wert von 1,1 Milliarden Mark, darunter Handgranaten, Pläne für die Produktion von Panzerketten sowie komplette Gewehr- und Munitionsfabriken. Gleichzeitig wurde der Erzfeind Irak in den 80er Jahren regelrecht mit deutschen Rüstungsgütern überflutet: Insgesamt 80 deutsche Firmen, darunter Daimler-Benz, MAN und Siemens, halfen bei der Hochrüstung des Saddam-Regimes. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte die Chemiefabrik in Samara, die mit deutscher Hilfe gebaut wurde. Saddam Hussein nutzte sie für die Produktion von Giftgas, das er gegen die irakischen Kurden einsetzte. Seine militärische Offensive kostete 200.000 Kurden das Leben und vertrieb rund 1,5 Millionen. 4)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.2015
Noch brisanter ist der Fall Syrien: Das syrische Assad-Regime erhielt ebenfalls in den 70er Jahren MILAN-Raketen aus deutsch-französischer Herstellung, mit denen im Libanon-Krieg 2006 gegen Israel gekämpft wurde. Auf Seiten der syrischen Rebellen sind die Raketenwerfer genauso im Einsatz. Heute nutzen auch Kämpfer der Al-Nusra-Front und der Kurden diese Waffen. Zudem werden Raketen vom Typ HOT des deutsch-französischen Konsortiums Euromissile in Syrien eingesetzt. Kämpfer des IS posierten damit in Propagandavideos. Auf den Waffen ist die deutsche Beschriftung zu lesen: „Lenkflugkörper DM 72 – 136 mm Panzerabwehr“. 5)Zeit Online: Flucht vor deutschen Waffen; Artikel vom 17.09.20196)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.2015
Sämtliche Kriegsparteien in Syrien kämpfen, schießen, morden mit der Hilfe deutscher Waffen. Die libanesische Hisbollah, kurdische Kämpfer, die Terroristen des „Islamischen Staates“: Sie alle nutzen Gewehre und Raketen, die in der Bundesrepublik entwickelt wurden. Vor allem das G3-Gewehr der Firma Heckler & Koch ist in zahlreichen Filmaufnahmen und auf vielen Fotos aus dem syrischen Bürgerkrieg zu sehen. Woher die einzelnen Gewehre stammen, wie sie ins Kriegsgebiet gelangten, lässt sich kaum noch feststellen. Zu viele Staaten in der Region haben aus Deutschland die Lizenz erhalten, das Gewehr nachzubauen: Der Iran, der die Hisbollah unterstützt. Saudi-Arabien, das 2015 Kisten voller G3-Gewehre über dem Jemen abgeworfen hat, um dort Verbündete zu unterstützen. Die Türkei, die an Syrien grenzt und ebenfalls Assad-Gegner ausrüsten soll. Insgesamt hat die Bundesregierung Lizenzen für die Eigenproduktion des Sturmgewehrs an 15 Länder verkauft, darunter neben Saudi-Arabien und Iran auch an Pakistan. Obwohl die Lizenzvergabe an die Bedingung geknüpft war, den Re-Export in andere Länder zu vermeiden, gelangten die Waffen in Konfliktregionen in Afrika, Asien und Südamerika. Mit Ausnahme der Kalaschnikow ist das G3 das am weitesten verbreitete Gewehr auf der Welt. Und nicht zuletzt hat ja auch Deutschland selbst kurdische Kämpfer im Nordirak mit Waffen für den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ausgerüstet. Außerdem ließ der syrische Diktator Assad Aufständische mehrfach mit Chemiewaffen bekämpfen. Auch an ihrer Produktion hatten deutsche Firmen einen Anteil: Sie lieferten Chemikalien und Anlagen, deren Ausfuhr bis 1984 nicht beschränkt war. 7)Zeit Online: Flucht vor deutschen Waffen; Artikel vom 17.09.20198)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.2015
Dass diese und andere Beispiele der letzten paar Jahrzehnte nicht leichtfertig mit „Fehlverhalten in der Vergangenheit“ abgetan werden können, liegt an der Natur des Exportgutes: Raketen, Panzer und Mörser haben eine sehr lange Haltbarkeit. Daraus resultieren zwei Probleme. Das eine: Momentan mögen Länder wie Katar und Saudi-Arabien mit eiserner Hand regiert werden und den Anschein der Stabilität ausstrahlen. Allerdings lässt sich nicht mit aller Gewissheit sagen, dass sie nicht schon wenige Jahre später Schauplatz eines bewaffneten Konfliktes sein werden – und die zuvor gelieferten Waffen dabei die Opferzahlen in die Höhe treiben. Das andere Problem: Die Wege auch der legalen Waffenausfuhren sind nicht immer nachvollziehbar. Häufig tauchen sie an einem anderen Ort auf, an dem sie gemäß Vertrag gar nicht sein dürften. Dass Waffen wandern hat der zuvor erwähnte Fall Syrien bereits bewiesen. Auch der Skandal über in den verbotenen Regionen Mexikos aufgetauchte G36 aus deutscher Herstellung bestätigt die Annahme, dass es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt. 9)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.2015
Das gilt insbesondere für die mobilsten und gefährlichsten aller Tötungsmaschinen: Kleinwaffen. Laut einer UN-Studie von 2005 gehen 60 bis 90 Prozent der Opfer in bewaffneten Konflikten auf das Konto von Sturmgewehren, Pistolen und Handgranaten. Jürgen Grässlin, der Autor und Sprecher der Kampagne Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!, schätzt, dass derzeit mindestens 15 bis 20 Millionen G3-Gewehre weltweit im Umlauf sind. Für ihn ist klar: „Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten.“ 10)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.201511)CBC: UN study says small arms fire deadliest; Artikel vom 11.07.200512)Amnesty International: Arms campaign – key facts and figures; Artikel vom 09.10.2003
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der massenhaften Verfügbarkeit insbesondere von Kleinwaffen und Kriegen, die kein Ende finden. Vor allem in den Konflikten des 21. Jahrhunderts, in denen verstärkt nicht-staatliche Akteure auf den Plan treten, ist die unkontrollierbare Weitergabe der Kleinwaffen ein Hauptfaktor in den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen. Das Argument, Deutschland liefere nicht direkt in die Krisengebiete der Gegenwart, hilft daher nur wenig bei der Beantwortung der Frage, ob deutsche Rüstungsexporte die aktuelle Fluchtbewegung aus Syrien mitverursachen. Viel entscheidender sind die über Jahrzehnte genehmigten Exporte in Diktaturen sowie die laxe Lizenzvergabe bei der Kleinwaffenproduktion. 13)Vice: Verursachen deutsche Waffenexporte Flüchtlingsbewegungen?; Artikel vom 28.10.2015
Auch wenn Deutschland tatsächlich keine Waffen direkt in Krisengebiete liefert, so gelangen am Ende eben doch Waffen aus deutscher Produktion in Konfliktgebiete wie Syrien. Mit diesen Waffen wird dort geschossen, gekämpft und auch getötet, kurzum: sich am Bürgerkrieg beteiligt, vor dem die Zivilbevölkerung zu Tausenden flieht. Deutschland trägt somit erwiesenermaßen zum aktuellen Konfliktgeschehen in Syrien und folglich zur dortigen Fluchtbewegung bei.
Fußnoten und Quellen:
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