Agrarpolitik: Ausrichtung auf Großkonzerne schafft Fluchtursachen für Kleinbauern
Das Recht auf Nahrung ist ein fundamentales Menschenrecht. Verankert in den Allgemeinen Menschenrechten, verpflichteten sich Staaten dem Ziel, jedem Mensch jederzeit Zugang zu angemessener Nahrung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung zu bieten. Dass dieses Bild nicht der Wirklichkeit entspricht, dürfte kein Geheimnis sein. Während Nahrung in Deutschland für die Meisten jederzeit und in jeder Menge verfügbar ist, litten 2019 rund 690 Millionen Menschen auf der Erde Hunger. Das sind 10 Millionen mehr als im Vorjahr, und die Corona-Pandemie könnte noch etwa 100 Millionen Menschen zusätzlich hungern lassen. 1)bpb: Menschenrecht auf Nahrung; Artikel vom 12.6.2014 2)Welthungerhilfe: Landraub: Wem gehört das Land?; Artikel vom 15.09.2020 3)Brot für die Welt: Ernährung: Sichere Ernährung braucht eine bäuerliche Landwirtschaft; Stand 23.10.2020
Um das zu verhindern, brauchen wir eine gerechte, agrarökologische und demokratische Ausrichtung unseres globalen Ernährungssystems – so lautet die Forderung eines Bündnisses von 46 Organisationen, darunter MISEREOR, FIAN, INKOTA, Oxfam und Brot für die Welt. Ihr „Positionspapier Welternährung 2030“ erschien zum Welternährungstag 2020 nach einer Prognose der Vereinten Nationen, der zufolge im Jahr 2030 150 Millionen Menschen mehr Hunger leiden werden als heute, wenn keine radikale Kehrtwende bei der Hungerbekämpfung vorgenommen wird. Eine solche Kehrtwende könnte Menschen vor dem Verlust ihrer Lebensgrundlage und der Flucht aus ihrer Heimat bewahren. 4)Oxfam: Welternährung – elf Schritte für eine Zukunft ohne Hunger; Artikel vom 09. 10.2020 5)Meine Landwirtschaft: Politik muss Hungernde unterstützen statt Konzerne zu hofieren; Artikel vom 12.10.2020
Denn ein Kernproblem, das hier angesprochen wird, ist eine Politik, die sich an den Interessen großer Konzerne, statt am Menschenrecht auf Nahrung ausrichtet.
Landflächen werden zu Kapitalanlagen für Großkonzerne
Seit Jahrzehnten wird von internationalen Organisationen wie der IWF, der Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) sowie Regierungen in Industrie- und Schwellenländern eine neo-liberale Handelspolitik vorangetrieben, die Großunternehmen hofiert und die soziale Ungleichheit verschärft. Landflächen, die kleinbäuerlichen Erzeuger*innen und Arbeiter*innen ursprünglich als Wohn- und Anbauflächen dienten, verwandeln sich so in Kapitalanlagen für Konzerne.
Land, oder das, was darauf angebaut wird, ist wertvoll. Besonders für Landarbeiter*innen, deren Existenz von landwirtschaftlichen Erträgen abhängt. Sind es nun multinationale Großinvestoren und Regierungen, die es auf Palmöl für die Nahrungsmittelindustrie oder Zuckerrohr für Biokraftstoff abgesehen haben, werden Lebensgrundlagen durch systematische Missachtung von Landrechten geraubt. Offiziell nutzen industrielle Großfarmen für diese Zwecke nur bislang ungenutzte Flächen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Für die Karuturi-Farm in Westäthiopien finden Zwangsumsiedlungen der Bevölkerung statt, die laut offiziellem Regierungsprogramm „freiwillig“ geschehen.„Die Regierung hat uns immer wieder gesagt, wir sollen in ein neues Dorf ziehen, aber wir wollten hier bleiben. Hier haben schon unsere Vorfahren das Feld bestellt“, sagt die Bäuerin Turu Omod. Sie kauert mit ihren drei Kindern vor dem, was von ihrem Speicherhaus und ihrer Maisernte übrig geblieben ist. Vor kurzem brannten am helllichten Tag zeitgleich mehrere Hütten der kleinen Siedlung nieder. Die Bewohner*innen vermuten, dass die Regierung mit dem Feuer dem Umsiedlungsprogramm Nachdruck verleihen wollte. Karmjeet Singh Sekhon, der Investor der gigantischen Farm, die hier entsteht, kümmert sich nicht besonders um das Schicksal von Familien, wie der von Turu Omod. Für ihn muss es mit der Farm vorangehen, er hinkt mit dem Zeitplan bereits hinterher.
Die Aussicht auf Arbeitsplätze, gerechte Entschädigungen oder angemessenen Lohn für die harte Arbeit auf neu entstandenen Plantagen sind meist leere Versprechen. Stattdessen zwingen Hunger und Armut die Menschen zur Flucht. 6)Oxfam: Welternährung – elf Schritte für eine Zukunft ohne Hunger; Artikel vom 09. 10.2020 7)Welthungerhilfe: Landraub: Wem gehört das Land?; Artikel vom 15.09.2020 8)Brot für die Welt: Ernährung: Sichere Ernährung braucht eine bäuerliche Landwirtschaft; Stand 23.10.2020 9)Amnesty International: Land Grabbing: Ausverkauf in Äthiopien; Artikel erschienen im Dezember 2012
Nachhaltige Ernährungssysteme statt Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten
Nicht nur der Landraub lässt Menschen hungern und macht sie zu Flüchtlingen. Die Konzentration von Konzernen auf einzelne Agrarprodukte trägt ebenfalls erheblich dazu bei. Werden bei Monokulturen und der Intensivlandwirtschaft einzelne Pflanzenarten über Jahre hinweg auf derselben Fläche angebaut, verschlechtert dies die Bodenqualität und führt unter anderem zu Versalzung und Nährstoffverarmung. Eine Bewirtschaftung der Felder durch die lokale Bevölkerung wird verhindert, ganze Landstriche veröden und der nachhaltige Anbau von Lebensmitteln für folgende Generationen erweist sich als unmöglich.
Die Nutzung von Flächen für Güter, die anderorts konsumiert werden, unterbindet zudem die Möglichkeit des Aufbaus einer Agrarwirtschaft, die die eigene Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt. Das führt zu einer Abhängigkeit von Importen, die krisenanfälligen Weltagrarmärkten unterliegen. Menschen leiden Hunger und leben also dort, wo Lebensmittel für internationale Märkte produziert werden.Würde man die einheimische Bevölkerung stattdessen mit Lebensmitteln aus regionaler, agrarökologischer und fairer Produktion versorgen, hätte dies positive Auswirkungen auf den Menschen, der so von einer Gemeinschaftsverpflegung und Diversifizierung im Anbau profitieren würde. Nicht zu sprechen von der Biodiversität, der eine Bewirtschaftung ohne synthetische Düngemittel und Pestizide zugutekäme. 10)Oxfam: Welternährung – elf Schritte für eine Zukunft ohne Hunger; Artikel vom 09. 10.2020 11)Quarks: Darum schaden uns Monokulturen; Artikel vom 12.11.2018
Die Welt ernähren – aber wie?
Ernährungssouveränität scheint hier das Stichwort zu sein. Wenn sich menschliche Existenzgrundlagen durch Konzerninteressen gefährdet sehen, müssen agrarwirtschaftliche Abhängigkeiten überwunden werden. Die von Hunger Betroffenen im globalen Süden müssen ermächtigt werden, selbst für sich einzutreten und eine Infrastruktur für bäuerliche Weiterverarbeitung und Vermarktung sowie solidarische Vermarktungsnetzwerke zu schaffen.
Unser Handlungsspielraum in der Problematik erstreckt sich dabei von persönlicher über internationale Ebene.
Als Konsumenten von Produkten, die von unserer Kaufkraft abhängen, haben wir die Wahl. Unterstützen wir Konzerne, dessen Effizienz auf der Ausbeutung von kleinbäuerlichen Erzeuger*innen und Arbeiter*innen beruht oder greifen wir stattdessen das ein oder andere Mal doch zu Produkten aus dem fairen Handel? Entscheidet man sich für letzteres, kann dies zu besserer Bezahlung und Arbeitsbedingungen führen. Auch die Reduzierung des Konsums tierischer Erzeugnisse wäre ausschlaggebend, wenn durch diesen Schritt die Anbauflächen für die Produktion von Tierfutter wie Soja und Getreide genutzt würden, um Menschen zu ernähren. Diese betragen im Moment 33 Prozent und ließen sich effizienter nutzen, wenn der Fokus weniger auf der Ernährung weniger Industriestaaten, sondern vielmehr auf der gesamten Weltbevölkerung läge. 12)Oxfam: Welternährung – elf Schritte für eine Zukunft ohne Hunger; Artikel vom 09. 10.2020 13)Heinrich Böll Stiftung: Futtermittel: Viel Land für viel Vieh; Artikel vom 08.01.2015
„Wer den Hunger bekämpfen will, muss die Rechte der Menschen stärken, die von Hunger betroffen sind“, erklärte Sarah Schneider, Expertin für Welternährung von MISEREOR.
Was Lösungsansätze auf internationaler Ebene betrifft, ist es nur möglich, Verbesserungen zu erzielen, wenn dabei weltweit die Interessen derer im Mittelpunkt stehen, die Nahrung produzieren.
Das Positionspapier des Bündnisses von 46 Organisationen scheint ein wichtiger Schritt, um die Politik an ihre Mitverantwortung zu erinnern und auf die Ursachen von Flucht hinzuweisen. Es bedarf einer Konzentration auf Menschenrechte und ganzheitliche agrarökologische Ansätze, die die Landwirtschaft mit biologischer Vielfalt verbinden und positive Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und der Umwelt anstreben. Nur so können wir soziale Perspektiven eröffnen und Armut als auch Hunger reduzieren. Eine Beschränkung der (Markt-)Macht und des Einflusses von Konzernen im Agrar- und Ernährungssektor ist unerlässlich, wenn Nahrung allgemeines Gut, statt Eigentum von Märkten werden soll. Wo Nahrung nicht mehr den Menschen dient, muss sie für diese wieder zugänglich gemacht werden, denn wir haben mehr als genug. 14)Oxfam: Welternährung – elf Schritte für eine Zukunft ohne Hunger; Artikel vom 09. 10.2020 15)epo.de: Welternährungstag Bündnis fordert agrarpolitische Wende; Artikel vom 09.10.2020
Fußnoten und Quellen:
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