![360.000 Jesiden mussten vor der Gewalt des IS fliehen. Bis heute sind Tausende Frauen verschwunden oder unter der Gewalt der Dschihadisten. | Bild: © DFID - UK Department for International Development [CC BY 2.0] - flickr Jesiden Flüchtlingscamp 360.000 Jesiden mussten vor der Gewalt des IS fliehen. Bis heute sind Tausende Frauen verschwunden oder unter der Gewalt der Dschihadisten. | Bild: © DFID - UK Department for International Development [CC BY 2.0] - flickr](https://www.fluchtgrund.de/files/2020/09/BildXFGXJesidenXFlXXchtlingscamp-1-713x476.jpg)
360.000 Jesiden mussten vor der Gewalt des IS fliehen. Bis heute sind Tausende Frauen verschwunden oder unter der Gewalt der Dschihadisten. | Bild: © DFID - UK Department for International Development [CC BY 2.0] - flickr
Völkermord an Jesiden durch IS: Die Wurzel des Problems identifizieren
Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Menschenhandel und Mord an einer fünfjährigen Jesidin: So lauten die Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft in Frankfurt gegen Taha A.-J.. Der Iraker soll im März 2013 oder früher Mitglied des Islamischen Staats (IS) geworden sein und in dessen einstigen Herrschaftsgebiet im Irak eine fünfjährige Jesidin brutal ermordet haben. Er habe das Mädchen und ihre Mutter den Ermittlungen zufolge im Sommer 2015 im einstigen irakischen Herrschaftsgebiet des IS aus einer Gruppe gefangen genommener Jesiden gekauft und als Sklavinnen ausgebeutet. Irgendwann soll er das kleine Mädchen zur Bestrafung an ein Fenster gekettet haben, woraufhin dieses bei der enormen Temperatur unter Qualen verdurstete. Gleichzeitig läuft in München der Prozess gegen Jennifer W., einer deutschen IS-Anhängerin und Ehefrau von A.-J. Auch hier wird der Tod des Mädchens behandelt. Der Prozess in Frankfurt ist auch deshalb so bemerkenswert, weil mit A.-J. das erste Mal ein Vertreter des IS repräsentativ für den beabsichtigten Völkermord des IS an den Jesiden rechtstaatlich verurteilt werden könnte. Denn hinter diesem grausamen Ereignis steht der aktuell letzte Genozid der Geschichte: Vor über sechs Jahren, Anfang August 2014, begann der Völkermord durch den IS an den Jesiden im Norden des Irak. 1) DW: IS-Terror: Prozess gegen mutmaßlichen Jesiden-Mörder; Stand 24.04.2020 2) FAZ: Jesiden-Prozess in Frankfurt: Eine Zeugin aus der Mitte der Hölle; Stand 19.05.2020 3) FAZ: Jesiden-Prozess in Frankfurt: Der Schmerz der Mutter; Stand 19.06.2020 4) DW: Völkermord: Die Jesiden fünf Jahre nach dem Genozid; Stand 01.08.2019 5) RND: Völkermord an den Jesiden im Irak: Wie der Genozid heute aufgearbeitet wird; Stand 03.08.2020

Die Jesiden sind eine religiöse und ethnische Minderheit mit eigener Religion, deren Heimat sich besonders im Norden des Irak befindet. An ihnen wurde durch den IS der aktuell letzte Genozid der Geschichte verübt. © Bestoun94 [CC BY-SA 3.0 ] Wikimedia Commons
Angriff durch den IS: Massenmord, Verschleppung, Vertreibung

Die zerstörte Stadt Sindschar im Norden des Irak, Heimat vieler Jesiden. © Levi Clancy [CC0 1.0 ] Wikimedia Commons
Die UN stuften die Gräultaten des IS an den Jesiden als Völkermord ein und versuchen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Es wird vor Ort nachgeforscht und es werden Beweise gesammelt. Auch das Auswärtige Amt beteiligt sich an der Finanzierung der Untersuchungen. Juristisch verfolgen müssten das Verbrechen aber bisher nationale Gerichte. Für eine Verfolgung vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag müsste das Land, in dem ermittelt werden soll, das Gründungsstatut ratifiziert haben und das Gericht eigenständig zur der Sache hinzuziehen, was weder der Irak noch Syrien gemacht hat. Eine Verfolgung vor dem internationalen Strafgerichtshof könnte auch der UN-Sicherheitsrat ermöglichen. Dieser kann zudem ein Sondertribunal ins Leben rufen. Dagegen haben sich Russland und China geweigert. Auch die USA allerdings stehen dem internationalen Strafgerichtshof ablehnend gegenüber. Die Strafverfolgung des Völkermordes kann durch nationale Gerichte erfolgen, wie im eingangs erwähnten Fall von Taha A.-J. durch deutsche Behörden. 16) DW: Völkermord: Die Jesiden fünf Jahre nach dem Genozid; Stand 01.08.2019 17) RND: Völkermord an den Jesiden im Irak: Wie der Genozid heute aufgearbeitet wird; Stand 03.08.2020
Die Wurzel des Problems sitzt tiefer
Neben der unmittelbaren juristischen Aufarbeitung dieses grausamen Genozids und der Strafverfolgung der Täter sollte man allerdings die noch viel tiefgreifenderen Fragen nach Schuld und Ursache nicht außer Acht lassen. Man darf nicht vergessen, welchen Faktoren der Aufstieg der Terrormiliz IS zu verschulden ist. Denn an diesem tragen, es mag plakativ klingen, entspricht aber den Tatsachen, die USA eine erhebliche Mitschuld. Diesem Thema widmet sich sowohl der Nahost-Experte Michael Lüders in seinem Buch „Wer den Wind sät“ als auch der Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser in seinem Werk „Illegale Kriege“. Es muss ein Blick in die jüngere Geschichte des Iraks bemüht werden: Bei dieser spielt der Einmarsch der USA in den Irak 2003 und der Sturz des ehemaligen sunnitischen Despoten Saddam Hussein eine zentrale Rolle. Bevor die USA in den Irak einmarschierten, hatte das Land bereits jahrelang unter einem von den USA initiierten UNO-Wirtschaftsembargo zu leiden. Dieses Wirtschaftsembargo traf die Zivilbevölkerung auf brutalste Art und Weise und ruinierte die irakische Gesellschaft und den Staat. Dies beförderte, wie Lüders schreibt, den Aufstieg terroristischer Gruppen. Den Krieg gegen den Irak und den daraus resultierenden Sturz Saddam Husseins 2003 rechtfertigten die USA, so Lüders und Ganser, mit glatten Lügen. Weder die Behauptung, Saddam hätte etwas mit den Terroranschlägen des 11. September zu tun, noch die Anschuldigung, der Machthaber besitze chemische und biologische Massenvernichtungswaffen, habe der Wahrheit entsprochen, so die beiden Autoren. Beim Einmarsch in den Irak und den Sturz Saddams, der ein Dorn im Auge der USA war, ging es laut Ganser in Wirklichkeit vor allem um Erdöl. Da die USA und Großbritannien keine Mehrheit im UN-Sicherheitsrat fanden und die drei Vetomächte Frankreich, Russland und China den Krieg ablehnten, führten die USA und Großbritannien den Krieg ohne UNO-Mandat durch. Es war also, wie Ganser schreibt, ein illegaler Angriffskrieg, der völkerrechtswidrig war, der das Gewaltverbot der UNO verletzte und den der damalige US-Präsident Bush und der britische Premier Tony Blair veranlassten. Der Regime-Change gelang, Saddam wurde entmachtet und der Irak ins Chaos gestürzt. Hier liegt die Basis für die Entstehung der radikalen sunnitischen Terrorgruppe IS. Nach dem Sturz Saddams bildete der Irak einen fruchtbaren Boden für die Entstehung terroristischer Gruppen wie den IS. 18) Dr. Ganser, Daniele: Illegale Kriege: Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren: Eine Chronik von Kuba bis Syrien; 2016 19) Lüders, Michael: Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet; 2015

Der langjährige irakische Despot Saddam Hussein wurde 2003 durch die von den USA initiierte Militärintervention gestürzt. Die Folgen nicht nur für das land, sondern für die ganze Region waren gewaltig. © Wikilmages [Pixabay License ] Pixabay
Die Entstehung des IS – Auch eine Folge der militärischen Intervention durch die USA
Die USA hatten kein angemessenes Konzept für die Zeit nach dem Sturz Saddam Husseins. Durch das entstandene Machtvakuum verfiel das Land in chaotische und ungeordnete Zustände, gegen die die USA nicht effektiv vorgingen. Die Zentralstaatlichkeit zerfiel. Bush setzte Paul Bremer als Zivilverwalter ein. Dieser betrachtete, so Lüders, die Menschen bei der neuen Konzeptionierung des Staates nicht national als „Iraker“, sondern sprach sie in ihren einzelnen religiösen Gruppen und „Stammeszugehörigkeiten“ wie Schiiten, Sunniten und Kurden an. Zuvor gab es oft Mischehen zwischen Sunniten und Schiiten, und Viertel, die von beiden Gruppen bewohnt wurden. Bremer beförderte mit seiner Herangehensweise die, wie Lüders es ausdrückt, „Konfessionalisierung“ des Irak. Diese habe in der Entstehung von Al-Quaida im Irak und schließlich auch dem „Islamischen Staat“ resultiert. Auch der Versuch, unter den herrschenden Umständen eine funktionierende Demokratie im Irak zu initiieren, schlug mehr oder weniger fehl: Unter Saddam war die sunnitische Minderheit an der Macht und unterdrückte die Schiiten, die die Mehrheit der Bevölkerung im Irak ausmachten. Nach dem Sturz Saddams durch die USA kamen die Schiiten per Wahl an die Macht. Nuri al-Maliki beispielsweise war von 2006 bis 2014 Premierminister und wurde lange von den USA unterstützt, bevor er irgendwann abtreten musste. Er führte einen Rachefeldzug gegen die Sunniten. Diese wurden unterdrückt und diskriminiert, woraufhin sich sunnitischer Widerstand auch gegen die USA als Besatzungsmacht ausbreitete. Die USA initiierten die Auflösung der Armee und ein Verbot der Baath-Partei Saddam Husseins, wodurch Hunderttausende ihren Beruf und damit ihre Lebensgrundlage verloren, die meisten von ihnen Sunniten. Nach Hunderten von Jahren an der Macht war dies ein extremer Schlag für die Sunniten. Dies beförderte laut Lüders deren Widerstand und terroristische Entwicklungen. Unzählige frühere Mitglieder des Militärs und des Geheimdienstes unter Saddam gingen in den Untergrund, viele schlossen sich dem IS an. So stellten Adnan al Sweidawi und Fadel al Hayali, zwei hochrangige Militärs unter Saddam, gemeinsam mit Abu Bakr al Baghdadi die Führungsriege des IS dar. Die Extremisten lernten sich in einem US-Gefangenenlager kennen, im Camp Bucca. Beim sunnitischen Widerstand gegen die USA als Besatzer übernahmen extremistische Gruppen die Führung, Al-Qaida gewann an Einfluss im Irak, schließlich entstand der IS. Schon als zu Beginn der 90er-Jahre im Zuge des zweiten Golfkriegs US-amerikanische Truppen auf arabischen Boden gegen den Irak kämpften, förderte dies die Ablehnung vieler Muslime den USA gegenüber, was wiederum radikal-islamistische Tendenzen beförderte. Auch sahen die Menschen im Irak, die unter dem brutalen Wirtschaftsembargo zu leiden hatten, die Schuld für ihr Leid nicht bei Saddam Husseins Regierung, sondern, wie Lüders schreibt, beim Westen. 20) Lüders, Michael: Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet; 2015 21) Dr. Ganser, Daniele: Illegale Kriege: Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren: Eine Chronik von Kuba bis Syrien; 2016 22) Der Tagesspiegel: „Islamischer Staat“: Wie organisiert ist die Terrormiliz IS?; Stand 28.09.2014 23) Spiegel: Militärbasis: Saudis wollen US-Soldaten nicht mehr; Stand 21.01.2002 24) Deutschlandfunk: Zweiter Golfkrieg: Saddams Blitzkrieg; Stand 02.08.2015
Man kann Ereignisse und Entwicklungen wie beispielsweise den Aufstieg des IS nie monokausal erklären. Es gibt nicht die eine Ursache und den einen Verantwortlichen, derartige Entwicklungen sind extrem komplex und vielschichtig. Dennoch ist der massive Einfluss fremder Mächte, allen voran der der USA, im Falle des Irak gewaltig. Für die Destabilisierung des Irak und dem damit verbundenen Aufstieg des IS spielt die militärische Intervention der USA aus eigenem Interesse eine zentrale Rolle. Es nützt nichts, nur die Symptome extremistischen Terrors zu bekämpfen, und die Ursachen solcher Entwicklungen außer Acht zu lassen. In diesem Zusammenhang sollte man sich darüber Gedanken machen, welche Interessen massive Fremdeinmischung und Militärinterventionen wirklich verbergen, und was sie tatsächlich erreichen. In der Erinnerung und dem Gedenken an den grausamen Völkermord des IS an den Jesiden und bei der juristischen Aufarbeitung dieses Verbrechens darf nicht vergessen werden, die Wurzel des Problems zu identifizieren.
Fußnoten und Quellen:
Keine Kommentare