![Präsident Paul Biya regiert Kamerun schon seit 1982. | Bild: "President of Cameroon Addresses General Assembly" © UN Photo/Marco Castro [CC BY-NC-ND 2.0] - Flickr Paul Biya Präsident Paul Biya regiert Kamerun schon seit 1982. | Bild: "President of Cameroon Addresses General Assembly" © UN Photo/Marco Castro [CC BY-NC-ND 2.0] - Flickr](https://www.fluchtgrund.de/files/2020/09/KamerunXPaulXBiya-713x495.jpg)
Präsident Paul Biya regiert Kamerun schon seit 1982. | Bild: "President of Cameroon Addresses General Assembly" © UN Photo/Marco Castro [CC BY-NC-ND 2.0] - Flickr
Kameruns Zivilbevölkerung ist gefangen in einer Gewaltspirale
Im Vergleich zu anderen Ländern Zentralafrikas galt Kamerun lange als stabiler Staat mit wirtschaftlichem Wachstum. Heute jedoch ist das Land zerrissen. Es ist Schauplatz bewaffneter Konflikte, für die kein allzu nahes Ende in Sicht ist. Die gesellschaftlichen und innenpolitischen Spannungen vertiefen sich immer weiter, die Bevölkerung ist gespalten. Im Westen des Landes kämpfen separatistische Rebellengruppen für einen eigenen Staat. Der Norden des Landes ist weiterhin Ziel von Angriffen der Boko Haram. 1) Internationale Politik: Konfliktlinien in Kamerun; Artikel vom 01.03.2020 2) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Kamerun; zuletzt aufgerufen am 24.09.2020
Konfliktlinien stammen aus kolonialer Vergangenheit
Wie in vielen anderen afrikanischen Staaten hat der Kolonialismus in Kamerun tiefe Spuren hinterlassen. Insbesondere der Wechsel der Kolonialmächte 1919 hat bis heute starke Auswirkungen und prägt die innenpolitischen Spannungen des Landes. Seit 1884 war Kamerun ein deutsches Schutzgebiet. Mit dem Ende des ersten Weltkrieges und dem Versailler Vertrag aber, erhielt das Land den Status eines Mandatsgebiets des Völkerbundes. Kamerun wurde in zwei geteilt und fortan getrennt verwaltet. Den Großteil des Landes erhielt Frankreich, während Großbritannien etwa ein Fünftel des Staatsgebiets im Westen zugeteilt wurde, das an die britische Kolonie Nigeria grenzte. Etwa 40 Jahre lang entwickelten sich die beiden Teilgebiete Kameruns getrennt voneinander weiter. Das hat bis heute drastische Folgen. Während der frankophone Teil des Landes von der französischen Kultur geprägt ist, ist in den anglophonen Gebieten bis heute der britische Einfluss spürbar. So haben sich nicht nur zwei völlig unterschiedliche Rechtssysteme, sondern auch verschiedene Bildungssysteme nach französischem beziehungsweise britischem Vorbild etabliert. Der deutlichste Unterschied liegt wohl in der gesprochenen Amtssprache der beiden Gebiete. Das hat die Wiedervereinigung der beiden Landesteile nicht unbedingt leichter gemacht. Diese Möglichkeit eröffnete sich, nachdem Nigeria und der französische Teil Kameruns 1960 die Unabhängigkeit erlangt hatten. Anders als Französisch-Kamerun, wurde dem britischen Landesteil jedoch keine Option der Unabhängigkeit gewährt. Stattdessen wurden die Menschen aufgefordert, in einem Referendum darüber zu entscheiden, sich entweder Nigeria oder Französisch-Kamerun anzuschließen. Der nördliche Teil Britisch-Kameruns entschied sich für einen Beitritt zu Nigeria, der südliche Teil Britisch-Kameruns vereinigte sich mit Kamerun. Es entstand ein zweisprachiges Land mit autonomen Regionen: die Bundesrepublik Kamerun. Doch schon im Jahr 1972 wurde diese föderale Struktur des Landes mittels eines Referendums aufgehoben und durch eine einheitliche Struktur ersetzt. Der anglophone Teil des Landes verlor seine Autonomie. Die Vereinigte Republik Kamerun wurde geboren und doch besteht die Zweiteilung der beiden Gebiete weiter fort. Schon in den 1990ern nahmen die innenpolitischen Spannungen zu. Viele anglophone Kameruner fühlen sich als Minderheit gegenüber ihren frankophonen Landsleuten benachteiligt, sowohl wirtschaftlich als auch politisch und gesellschaftlich. Bis heute sehen sie sich in Regierungspositionen unterrepräsentiert und fühlen sich als englischsprachige Staatsbürger auf verschiedenen Ebenen diskriminiert – im Bildungssystem, in der Justiz und im Alltag. 3) LIPortal: Kamerun; nicht mehr verfügbar 4) Internationale Politik: Konfliktlinien in Kamerun; Artikel vom 01.03.2020 5) Deutschlandfunk Kultur: Deutsches Erbe in Kamerun; Nach 100 Jahren startet Aufarbeitung; Artikel vom 12.06.2019 6) Deutschlandfunk: Die Krise im anglophonen Teil Kameruns; Artikel vom 18.05.2019 7) New York Times: Chimamanda Ngozi Adichie: The Carnage of the Cameroons; Artikel vom 15.09.2018 8) Friedrich Ebert Stiftung: Kamerun – Die anglophone Krise; Mehr als nur ein Sprachenstreit; Bericht vom August 2017 9) DW: Cameroon: colonial past and present frictions; Artikel vom 31.01.2017
Anglophone Krise begann mit Niederschlagung der Proteste der Minderheit
Im Oktober 2016 bahnte sich die sogenannte „anglophone Krise“ an. Lehrer und Anwälte streikten und versammelten sich auf den Straßen, um gegen eine zunehmende Frankophonisierung in den anglophonen Regionen zu protestieren: nämlich gegen die Einführung französischsprachiger Lehrer an anglophonen Schulen sowie gegen die Beschäftigung frankophoner Anwälte und Richter an anglophonen Gerichten, die nicht hinreichend mit dem Common Law vertraut sind. Sie forderten eine Einhaltung des in der Verfassung verankerten Bilingualismus und mehr öffentliche Repräsentation der anglophonen Kultur. Den Protesten schloss sich rasch die lokale Bevölkerung an, darunter vor allem die unzufriedene Jugend – insbesondere Studenten. Schnell wurde klar, dass die Proteste, die zunächst gegen die Marginalisierung der englischen Sprache und Kultur gerichtet waren, vielmehr Ausdruck einer tieferen Unzufriedenheit mit der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation des Staates waren. Der Unmut gegen den Reformstau des Präsidenten Paul Biya, der das Land bereits seit 1982 regiert, gegen Korruption und Misswirtschaft, gegen die schlechte Infrastruktur, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnde Zukunftsperspektiven traten zu Tage. Zunächst reagierte die Regierung mit Ignoranz auf die Protestwelle, dann mit gewaltsamer Repression. Mittels Tränengases und Wasserwerfern beendete das Militär die Demonstrationen gewaltsam. Es kam zu Massenverhaftungen von Zivilisten, die an den Protesten teilgenommen hatten. Ganze Dörfer wurden durch Soldaten in Brand gesteckt, mehrere Demonstranten wurden durch Sicherheitskräfte erschossen. Der darauffolgende Dialog mit der Regierung fand ein schnelles Ende, als auch politische Forderungen nach einer Rückkehr zum föderalen System und nach mehr Autonomie für die beiden anglophonen Regionen laut wurden. Die Streiks und Proteste weiteten sich aus, einige Gruppen radikalisierten sich und das öffentliche Leben in den anglophonen Gebieten wurde lahmgelegt. Die Unabhängigkeitsbewegung, die zunächst nur als unbedeutende Randbewegung wahrgenommen worden war, nahm mit zunehmender staatlicher Gewalt an Fahrt auf. Innerhalb eines Jahres wurde daraus ein bewaffneter Aufstand, der vor allem auch von Kamerunern im Ausland unterstützt wird. Die Regierung erklärte die Anhänger der Sezessionsbewegung kurzerhand zu Terroristen und Hochverrätern und fachte so die Gewaltspirale auf beiden Seiten weiter an. Am ersten Oktober 2017 riefen anglophone Separatisten den unabhängigen Staat Ambazonien aus und beanspruchen dabei die anglophonen Gebiete Kameruns. 10) LIPortal: Kamerun; nicht mehr verfügbar 11) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Kamerun; zuletzt aufgerufen am 24.09.2020 12) Internationale Politik: Konfliktlinien in Kamerun; Artikel vom 01.03.2020 13) Deutschlandfunk: Die Krise im anglophonen Teil Kameruns; Artikel vom 18.05.2019 14) New York Times: Chimamanda Ngozi Adichie: The Carnage of the Cameroons; Artikel vom 15.09.2018 15) Friedrich Ebert Stiftung: Kamerun – Die anglophone Krise; Mehr als nur ein Sprachenstreit; Bericht vom August 2017 16) DW: Cameroon: colonial past and present frictions; Artikel vom 31.01.2017
Rebellen und Militär begehen schwere Menschenrechtsverletzungen
Doch obwohl die Rebellen für sich in Anspruch nehmen, die Interessen der anglophonen Bevölkerung zu vertreten, so ist die Sezessionsbewegung alles andere als einheitlich. Tatsächlich ist es die anglophone Zivilbevölkerung, die am meisten unter dem bewaffneten Konflikt zwischen dem Militär und den Separatisten leidet. Sie steht zwischen den Stühlen, ohne zu wissen, wem von beiden sie noch vertrauen kann. Regelmäßig kommt es zu Einschüchterungen, Übergriffen und massiven Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Separatisten. Sie sind nicht nur verantwortlich für Entführungen, sondern auch für außergerichtliche Hinrichtungen und Verstümmelungen. Sie gehen vor allem gewaltsam gegen diejenigen vor, die ihre Anweisungen zum Boykott der Schulen und sonstiger Einrichtungen nicht befolgen. Mit ihren Angriffen richten sie sich auch gegen diejenigen, denen sie unterstellen, die Regierung und die Sicherheitskräfte zu unterstützen und die Sezessionsbewegung zu verraten. Somit werden nicht nur einfache Bürger und Beamte, sondern oft auch Kinder Opfer ihrer Übergriffe. Zudem verüben sie regelmäßige Attacken auf Sicherheitskräfte und deren Angehörige. Schon seit drei Jahren haben in den betroffenen Regionen etwa 80.000 Kinder keine Schule mehr besucht, weil die Sicherheitslage es nicht zulässt. Immer wieder werden Schüler, Studenten und Lehrer angegriffen oder entführt, weil sie sich nicht an den ausgerufenen Boykott von Bildungseinrichtungen gehalten haben. Im Februar dieses Jahres wurden außerdem Bürger und Politiker mittels Einschüchterungen und Kidnapping von der Teilnahme an der Parlamentswahl gewaltsam abgehalten, nachdem die Rebellen auch hier zu einem Boykott aufgerufen hatten. 17) LIPortal: Kamerun; nicht mehr verfügbar 18) Internationale Politik: Konfliktlinien in Kamerun; Artikel vom 01.03.2020 19) Friedrich Ebert Stiftung: Kamerun – Die anglophone Krise; Mehr als nur ein Sprachenstreit; Bericht vom August 2017 20) Human Rights Watch: Cameroon: Civilians Killed in Anglophone Regions; Attacks as Peace Talks Take Place; Artikel vom 27.07.2020 21) Human Rights Watch: Cameroon: Election Violence in Anglophone Regions; Investigate Abuses; Ensure Justice; Artikel vom 12.02.2020 22) Amnesty International: Cameroon; Rise in killings in Anglophone regions ahead of parliamentary elections; Artikel vom 06.02.2020 23) Amnesty International: Cameroon 2019; zuletzt aufgerufen am 24.09.2020
Auf der anderen Seite gehen Militär und Sicherheitskräfte brutal gegen die anglophone Zivilbevölkerung vor, der sie vorwerfen, Separatisten zu beherbergen oder anderweitig zu unterstützen. Auch ihnen werden zahlreiche Vergehen vorgeworfen, darunter außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Brandschatzung und bewaffnete Überfälle auf Dörfer. Erst im Februar dieses Jahres griffen Regierungstruppen und bewaffnete Fulani ein anglophones Dorf an, plünderten die Häuser und steckten sie in Brand. Dabei wurden mehr als 20 Zivilisten ermordet. 24) LIPortal: Kamerun; nicht mehr verfügbar 25) Internationale Politik: Konfliktlinien in Kamerun; Artikel vom 01.03.2020 26) Friedrich Ebert Stiftung: Kamerun – Die anglophone Krise; Mehr als nur ein Sprachenstreit; Bericht vom August 2017 27) Human Rights Watch: Cameroon: Civilians Killed in Anglophone Regions; Attacks as Peace Talks Take Place; Artikel vom 27.07.2020 28) Human Rights Watch: A Chance for Accountability in Cameroon?; Artikel vom 25.06.2020 29) Human Rights Watch: Cameroon: Civilians Massacred in Separatist Area; At Least 21 Killed in Attack on Ngarbuh Village; Set Independent Inquiry; Artikel vom 25.02.2020 30) Human Rights Watch: Cameroon: Election Violence in Anglophone Regions; Investigate Abuses; Ensure Justice; Artikel vom 12.02.2020 31) Amnesty International: Cameroon; Rise in killings in Anglophone regions ahead of parliamentary elections; Artikel vom 06.02.2020 32) Amnesty International: Cameroon 2019; zuletzt aufgerufen am 24.09.2020 33) Amnesty International: Cameroon: Nearly 60 opposition members tortured by security forces; Artikel vom 26.07.2019
Gewalt im Land macht etwa 1 Million Kameruner zu Binnenvertriebenen 34) UNHCR: Cameroon MCO Fact Sheet Juli 2020; Stand Juli 2020
Die Zivilbevölkerung in den anglophonen Gebieten ist gefangen in einer Gewaltspirale, für die bisher kein Ende in Sicht ist. Nach Schätzungen von Human Rights Watch wurden seit Anfang dieses Jahres mindestens 285 Zivilisten in Folge der anglophonen Krise getötet. Inzwischen gibt es allein in den beiden anglophonen Gebieten im Süd- und Nordwesten beinahe 680 000 Binnenvertriebene. Mehr als 50 000 Kameruner sind darüber hinaus ins benachbarte Nigeria geflohen. 35) UNHCR: Cameroon MCO Fact Sheet Juli 2020; Stand Juli 2020 36) Human Rights Watch: Cameroon; Civilians Killed in Anglophone Regions Attacks as Peace Talks Take Place; Artikel vom 27.07.2020
Im hohen Norden des Landes ist zudem die Boko Haram hoch aktiv. Auch hier leidet besonders die Zivilbevölkerung unter den Anschlägen der Terrororganisation. Menschenrechtsorganisationen haben zahlreiche Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung durch Sicherheitskräfte und Soldaten an der Zivilbevölkerung verübt wurden. Auch im Norden Kameruns befindet sich eine große Zahl an Flüchtlingen. Darunter sind etwa 300 000 binnenvertriebene Kameruner und mehr als 100 000 Menschen aus Nigeria, die vor den Angriffen der Boko Haram geflohen sind. Die Angriffe der Terrororganisation verschärfen die Unsicherheit im Land zusätzlich und tragen zu einer weiteren Destabilisierung des Staates bei, der durch den Bürgerkrieg in den anglophonen Regionen schon stark angeschlagen ist. 37) UNHCR: Cameroon MCO Fact Sheet Juli 2020; Stand Juli 2020 38) LIPortal: Kamerun; nicht mehr verfügbar 39) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Kamerun; zuletzt aufgerufen am 24.09.2020 40) UNHCR: Hunger and fear stalk survivors of attack in north Cameroon; Artikel vom 07.09.2020 41) UNHCR: UNHCR condemns deadly attack on internally displaced people in north Cameroon; Pressemitteilung vom 02.09.2020 42) UNHCR: UNHCR outraged by attack on camp hosting displaced people in Cameroon, at least 18 people killed; Artikel vom 04.08.2020 43) Human Rights Watch: Cameroon: Civilians Forced to Do Guard Duty; Investigate 42nd Battalion Abuses in Mozogo; Artikel vom 10.07.2020 44) Amnesty International: Cameroon; Victims of Boko Haram attacks feel abandoned in the Far North; Artikel vom 11.12.2019 45) Amnesty International: Kamerun 2019; zuletzt aufgerufen am 24.09.2020
Auch wenn die Regierung unter Biya seit 2019 vermehrt Gesprächsbereitschaft signalisiert, lehnt sie Verhandlungen über die verfassungsrechtliche Zugehörigkeit der anglophonen Gebiete und die Einführung einer föderalen Struktur weiterhin ab. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Militär und Separatisten halten an, nach wie vor werden Zivilisten Opfer von Übergriffen. Eine nachhaltige Lösung des Konflikts ist momentan nicht in Sicht. 46) Internationale Politik: Konfliktlinien in Kamerun; Artikel vom 01.03.2020
Fußnoten und Quellen:
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