Flucht vor politischer Verfolgung in Nicaragua – Wiederholt sich die Geschichte?
Immer mehr Menschen in Zentralamerika sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen: chronische Gewaltanwendung, politische Verfolgung, die damit verbundene Unsicherheit und nun auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie veranlassen immer mehr Menschen dazu, im Ausland Schutz zu suchen. Davon betroffen sind nach wie vor auch viele Menschen aus Nicaragua. Es ist weiterhin kein Ende der Krise Sicht, die immer weiter zum offenen Bürgerkrieg mutiert und den zentralamerikanischen Staat fest umklammert hält. Während die Proteste gegen den Präsidenten Daniel Ortega und seine Frau, die Vizepräsidentin Rosario Murillo, durch die Staatsgewalt brutal niedergeschlagen werden, hält sich das Präsidentenpaar mithilfe der Repressionen weiterhin an der Macht fest. Ihre Regentschaft hat längst autoritäre Züge angenommen und weckt bei vielen Nicaraguanern schmerzhafte Erinnerungen an die Herrschaft des Diktators Anastasio Samoza – dieser etablierte eine Familiendiktatur.
Autoritäre Strukturen wurden nach und nach gefestigt

Links im Bild: Präsident Daniel Ortega und seine Frau, die Vizepräsidentin Rosario Murillo. |Bild: © OEA – OAS [CC BY-NC-ND 2.0] – Flickr
Der Wandel zu einer immer weiter personalistischen und autoritären Herrschaft Ortegas war ein schleichender Prozess. Immer mehr sind Bürger- und Menschenrechte eingeschränkt worden, immer weiter ist die Demokratie im Land untergraben worden. Zwischen 1985 und 1990 war Ortega schon einmal Präsident von Nicaragua gewesen, bevor er 2007 wiedergewählt wurde. Seitdem hat er das Amt des Präsidenten ununterbrochen bekleidet. In dieser Zeit hat er immer weiter autoritäre Strukturen aufgebaut, die 2013 durch eine Verfassungsreform auch im Grundgesetz Nicaraguas verankert wurden. Das Wiederwahlverbot, das die Wiederwahl des Präsidenten auf zwei Amtszeiten beschränkt hat, wurde ganz gestrichen. Die Macht des Präsidenten wurde weiter gestärkt, während die Stellung des Parlaments und der politischen Parteien gezielt geschwächt wurde. Auch das Neutralitätsgebot des Militärs wurde ausgehebelt: dieses kann nun auch Verwaltungsaufgaben übernehmen, was ursprünglich verboten war. Auf diese Weise hat Ortega es geschafft, institutionelle und zivilgesellschaftliche Machtbarrieren zu umgehen, oder sich dieser vollständig zu entledigen. Die relative Stabilität der nicaraguanischen Wirtschaft bis 2018 hat diese Machtanhäufung durch den Präsidenten zusätzlich verschleiert. 2016 wurde dann auch Ortegas Frau Rosario Murillo zur Vizepräsidentin gewählt. Seit dem wiederholten Amtsantritt 2017 ist Daniel Ortegas Macht besonders groß und auch 2018 behielt er trotz der anhaltenden Protestwelle die Kontrolle über den Staatsapparat. Die Polizei und das Militär sind fest in seiner Hand, genauso wie die sandinistische Partei, das Parlament mit einer Mehrheit seiner Partei von mehr als 70 Prozent, die Justiz und auch paramilitärische Kampfgruppen. Und eben diese setzt er ein, um gegen Demonstranten und Kritiker vorzugehen. Erst im Juli hatte er öffentlich bekannt gegeben, die Wahlen, nicht wie von den Demonstranten gefordert, vorzuziehen, sondern bis 2021 im Amt bleiben zu wollen. Danach würde er am liebsten seine Frau als Nachfolgerin im Präsidentenamt sehen, meinen seine Kritiker. Sie werfen ihm vor, eine Familiendynastie aufbauen zu wollen. Seine Kinder haben ebenfalls wichtige Position in der Wirtschaft und den Medien inne. Viele Nicaraguaner fühlen sich damit in vergangen geglaubte Zeiten zurückgesetzt, als noch der Diktator Samoza den Staat mit seinem Familienclan beherrschte. Dabei war Ortega selbst an der Revolution 1979 maßgeblich beteiligt, als der Diktator Samoza von der Sandinistischen Front der Nationalen Befreiung FSLN gestürzt wurde. Nun hat er selbst die autoritären Strukturen wiederbelebt. Wie Venezuela wird Nicaragua von einem linken Präsidenten regiert, treibt aber dennoch in Richtung einer Diktatur. Viele befürchten, dass sich die Situation ähnlich derer in Venezuela entwickeln könnte. Schätzungen zufolge hat der Staat durch die Krise bereits etwa 600 Millionen US-Dollar verloren.
Pläne zur Reform der Sozialversicherung hat Proteste ausgelöst

Die friedlichen Proteste gegen die Reform des Sozialversicherungssystems wurden brutal niedergeschlagen. |Bild: © Jorge Mejía peralta [CC BY 2.0] – Flickr
Die Unruhen, welche nach und nach weiter eskalierten, nahmen ihren Anfang im April 2018, als Pläne der Regierung zur Reform des Sozialversicherungssystems bekannt wurden. Ohne Mitwirkung des Parlaments und ohne die sonst übliche Absprache mit Unternehmen und Gewerkschaften beschloss Präsident Daniel Ortega ein Maßnahmenpaket, das nicht nur die Kürzung aller Renten um einen Beitrag von rund 5 Prozent für die Krankenversicherung vorsah, sondern auch eine Erhöhung der Arbeitnehmerbeiträge für die Rentenversicherung von nun 7 Prozent statt 6,25 Prozent des Lohns sowie eine Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge für die Rentenversicherung von 19 auf 22,5 Prozent. Zusätzlich würden nach dem neuen Maßnahmenpacket die künftigen Rentenbescheide bis zu 30 Prozent herabgesetzt werden. Diese Pläne versetzten große Teile der Bevölkerung in Angst und Schrecken: nicht nur weil die Renten oft ohnehin mager waren, sondern auch weil viele nun fürchteten, dass es aufgrund der Beitragserhöhungen für Arbeitgeber vermehrt zu Entlassungen und somit zu mehr Arbeitslosigkeit kommen könnte. Aus diesem Grund versammelten sich in der Hauptstadt Managua am 18.April 2018 vor allem Studenten und Rentner zur friedlichen Demonstration. Doch schon zu Beginn der Protestkundgebung wurden die Demonstranten von Schlägergruppen der regierungsfreundlichen „Sandinistischen Jugend“ angegriffen und niedergeprügelt. Die Nachricht über den brutalen Zwischenfall verbreitete sich innerhalb kurzer Zeit und führte zu Massenprotesten in der Hauptstadt Managua und in großen Teilen des Landes. Die Proteste wurden zu diesem Zeitpunkt vor allem von Studenten getragen, die schon Anfang April gegen die massive Vernachlässigung des Umweltschutzes durch die Regierung protestiert hatten, nachdem ein Naturschutzgebiet im Südosten Nicaraguas einem verheerenden Brand zum Opfer gefallen war. Sie äußerten unter anderem den Verdacht, dass der Brand im Zusammenhang mit Bauplänen der Regierung für einen Kanal stehen könnten.
Brutale Repression der friedlichen Proteste führte zu Eskalation

Bei Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten wurden mehrere hundert Menschen getötet. |Bild: © Jorge Mejía peralta [CC BY 2.0] – Flickr
Die Proteste weiteten sich in den folgenden Tagen immer weiter aus, die gewaltsamen Übergriffe durch regierungsfreundliche Gruppen und Sicherheitskräfte nahmen ebenfalls zu. Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften forderten mehrere Tote und viele Verletzte. Die staatliche Repression und die brutale Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen führten nicht nur zur Eskalation der Situation, sondern weckte für viele Nicaraguaner Zweifel an der Legitimität der Staatsregierung. Längst ging es nicht mehr ausschließlich um die geplante Sozialversicherungsreform. Die über Jahre angestaute Wut über das Präsidentenpaar und ihr zunehmen autoritäres Regime traten zu Tage. Auf den Druck der Öffentlichkeit hin nahm der Präsident die Reformpläne zunächst zurück, doch es war zu spät, um die Bevölkerung allein damit zu beschwichtigen. Die Demonstranten forderten längst den Rücktritt Ortegas und Murillos sowie anschließende Neuwahlen. Der Präsident hingegen bezeichnete die Protestwelle als eine von außen gesteuerter Verschwörung. In den nächsten Wochen kam es immer wieder zu Massenprotesten, bei denen bis Ende 2018 zwischen 300 und 400 Menschen getötet wurden. Die Sicherheitskräfte gingen dabei gnadenlos vor. Ortega ging zu einer gezielten Kriminalisierung und Verfolgung seiner Gegner und der Demonstrationsteilnehmer über. Dazu wird vor allem ein neues Anti-Terror-Gesetz genutzt, das erst im Juli 2018 verabschiedet wurde und sehr vage Formulierungen enthält. Die Zahl der politischen Gefangenen wuchs immens an; bis Februar 2019 sollen es mehr als 760 gewesen sein. Dazu kommen zahlreiche Berichte von außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter und verschwundenen Personen. Der Präsident geht immer weiter gegen die Presse- und Medienfreiheit, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit vor. Journalisten werden nicht nur an ihrer Arbeit gehindert, sie sind ebenso wie kleine NGOs und Menschenrechtsaktivisten ein Ziel politischer Verfolgung geworden. Mittels gewaltsamer Unterdrückung und Einschüchterung sollen sie zum Schweigen gebracht werden. Sogar der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wurde während der Krise der Zugang zum Land verweigert. Die Menschenrechtsverletzungen haben ein so schweres Ausmaß angenommen, wie es seit der Diktatur unter Samoza niemand für möglich gehalten hätte. Die zwischenzeitliche selektive Freilassung von Gefangenen und die zeitweilige Gesprächsbereitschaft Ortegas sind nicht etwa einem Sinneswandel zuzuschreiben, sondern dem Versuch, die durch die internationale Gemeinschaft verhängten Sanktionen rückgängig zu machen. Diese verurteilt das Vorgehen der Regierung aufs Schärfste. Doch nach wie vor ist Ortega festentschlossen bis 2021 im Amt zu bleiben.
Mehr als Hunderttausend Menschen bereits geflohen
Feststeht, dass mittlerweile mehr als 100.000 Nicaraguaner vor politischer Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Protesten geflüchtet sind. Bis heute fliehen nach Angaben der UNHCR etwa 4000 Menschen pro Monat. Ein Ende der Krise ist aktuell nicht in Sicht.

Die meisten nicaraguanischen Flüchtlinge suchen Schutz im Nachbarstaat Costa Rica. |Bild: © dconvertini [CC BY-SA 2.0] – Flickr
Dass sich die Situation in Nicaragua destabilisierend auf die gesamte Region auswirken kann, zeigt sich bereits am Beispiel Costa Ricas. Der Nachbarstaat hat etwa 81 000 nicaraguanische Flüchtlinge aufgenommen, was einem Anteil von rund 80 Prozent entspricht. Die sozio-ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie und der damit einhergehende wirtschaftliche Abschwung machen nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch ihrem Gastgeberstaat schwer zu schaffen. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen sind etwa dreiviertel der Geflüchteten mit Nahrungsmitteln unterversorgt. Aber auch der einheimischen Bevölkerung ergeht es ähnlich. Die ansteigende Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber im Land treibt mittlerweile immer wieder Menschen zu Protesten auf die Straßen. Dabei sind vermehrt ausländerfeindlichen Parolen wie „Nicaraguaner raus“ zu hören. Das politische Klima hat sich merklich verändert, die eigentliche Gastfreundschaft ist teilweise Intoleranz gewichen. Das macht die Situation der geflüchteten Nicaraguaner nicht gerade leichter. Die Operation Costa Rica der
UNHCR ist jedoch chronisch unterfinanziert. Die Möglichkeiten, humanitäre Hilfe zu leisten, wird dadurch deutlich erschwert. Von den benötigten US$26.9 Millionen für 2020 sind bisher nur etwa 46% durch internationale Gelder finanziert worden.
Die internationale Gemeinschaft ist also nicht nur gefragt, die notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen, um die humanitäre Not in den Aufnahmestaaten nicaraguanischer Flüchtlinge zu lindern. Die ist auch gefragt, weiterhin Druck auf das Regime unter Ortega auszuüben, solche schweren Menschenrechtsverletzungen zu unterlassen.
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