Die Lage im Jemen ist so schlimm wie noch nie
Seit über fünf Jahren herrscht Krieg im Jemen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die Bilanz des Konfliktes ist katastrophal: Die Infrastruktur des Landes liegt in Schutt und Asche, fast vier Millionen Menschen haben ihr Zuhause verlassen. Von den 30 Millionen Jemenitinnen und Jemeniten sind laut den Vereinten Nationen 22,2 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das Auswärtige Amt spricht sogar von 24 Millionen. Die Kämpfe werden von beiden Seiten auf menschenverachtende Weise geführt. Noch schlimmer ist für die Bevölkerung aber wahrscheinlich die Blockade, die Saudi-Arabien über das Land verhängt hat. Keine Güter kommen mehr hinaus oder hinein, nicht einmal Medikamente. Das hat zur Folge, dass sich Krankheiten wie die Cholera oder das Dengue-Fieber sehr leicht verbreiten. 1) UNHCR: Yemen emergency; Stand 09/2020 2) Auswärtiges Amt: Humanitäre Hilfe in Jemen; nicht mehr verfügbar 3) Lüders, Michael: Armageddon im Orient: Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt; 2018
2018 bezeichnete UN-Generalsekretär Antonia Guterres die Situation im Jemen als „größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit“. Heute, zwei Jahre später, hat sich die Lage sogar noch weiter verschlechtert. Die globale COVID-19-Pandemie hat auch das gebeutelte Bürgerkriegsland nicht verschont. Im Gegenteil, sie trifft den Jemen sogar besonders hart.
Das Land ist denkbar schlecht auf eine Pandemie vorbereitet. Die Infrastruktur liegt in Trümmern, viele Medizinerinnen und Mediziner sind geflohen. Jede zweite medizinische Einrichtung funktioniert nicht mehr. Der Rest war auch schon vor Corona an der Belastungsgrenze. Als dann das Virus ausbrach, schlossen viele Krankenhäuser aus Angst vor Ansteckung. Die wenigen, die noch offen haben, sind für viele Menschen nur schwer erreichbar. Und selbst wenn man das Glück haben sollte, in der Nähe eines geöffneten Krankenhauses zu leben, muss man sich immer noch die Behandlung dort leisten können. Für Viele ist jedoch schon die Anfahrt zu teuer. 4) Stern: „Ärzte ohne Grenzen“ im Interview: Krieg, Hunger – und jetzt Corona: Warum wir die Katastrophe im Jemen nicht vergessen sollten; Video vom 04.09.2020
Das Coronavirus hat die humanitäre Lage im Jemen weiter verschärft. Anfang des Jahres konnten zwei Millionen Kinder nicht zur Schule gehen, der Lockdown hat acht Millionen daraus gemacht. Schwerkranke können nicht mehr zur Behandlung ausgeflogen werden. Zeitweise gab es einen kompletten Einreisestopp. Es fehlt an Medikamenten, Schutzausrüstung und medizinischem Gerät. Getestet wird nur wenig. Es fehlen schlicht die Kapazitäten und das Geld. Viele Dörfer und Städte sind auch nicht erreichbar. Und die Huthi-Rebellen, die den Norden des Landes kontrollieren, vertuschen das Virus, statt wirklich etwas dagegen zu unternehmen. 5) Middle East Monitor: UNICEF: Eight million children out of school in Yemen; Artikel vom 10.09.2020 6) tagesschau.de: Geberkonferenz für den Jemen: UN und Saudi-Arabien bitten um Geld; Artikel nicht mehr verfügbar 7) Spiegel Politik: Corona im Jemen: Die unsichtbare Welle; artikel vom 15.06.2020
Den offiziellen Zahlen von 2.030 Infizierten und 587 Toten (Stand 22.09.2020) glaubt kaum jemand. Sie geben höchstwahrscheinlich nur einen Bruchteil des tatsächlichen Ausmaßes wieder. Bestatter, Behörden und Hilfsorganisationen berichten vielerorts von viel höheren Todeszahlen als vor der Pandemie. Auch in der Hauptstadt Sana’a, die im offiziell Corona-freien Gebiet der Huthis liegt, sind die Krankenhäuser überfüllt. 8) WHO: Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard: Yemen; Stand 22.09.2020 9) Médecins Sans Frontières: Coronavirus COVID-19 pandemic: “COVID-19 has made the health system’s collapse complete” in Yemen; Artikel vom 10.06.2020
Die Todesrate unter Corona-Fällen im Jemen ist eine der höchsten weltweit. Das liegt sicherlich auch daran, dass viele Jemenitinnen und Jemeniten durch Hunger, Cholera und Vertreibung bereits geschwächt sind. Hinzu kommen katastrophale hygienische Bedingungen und die Tatsache, dass die meisten Menschen zunächst dringendere Sorgen haben als das „unsichtbare“ Virus. Es sind ideale Voraussetzungen für eine rasche Verbreitung. 10) Spiegel Politik: Corona im Jemen: Die unsichtbare Welle; artikel vom 15.06.2020 11) Stern: „Ärzte ohne Grenzen“ im Interview: Krieg, Hunger – und jetzt Corona: Warum wir die Katastrophe im Jemen nicht vergessen sollten; Video vom 04.09.2020
Als ob Krieg, Hunger, Cholera und Corona nicht schon genug wären, erlebt das Land seit Monaten auch noch die heftigsten Regenfälle seit Jahrzenten. Flüsse traten über die Ufer und wurden zu reißenden Strömen, ein Staudamm im Nordjemen brach. Das Wasser riss alles mit: Zelte, Häuser, Toiletten, Menschen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNCHR berichtet von fast 150 Toten und mehr als 300.000 Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Und der Regen hält immer noch an. 12) UNHCR: 300,000 people lose homes, incomes, food supplies and belongings due to catastrophic flooding in Yemen; Artikel vom 21.08.2020 13) Süddeutsche Zeitung: Hauptstadt des Jemen: Report aus einer zerfallenden Welt; Artikel vom 22.09.2020
Die Lage im Jemen ist heute so schlimm wie noch nie seit Beginn des Krieges. Seit Anfang des Jahres sind laut UN mehr als 100.000 Menschen vertrieben worden – zusätzlich zu den über 3,5 Millionen Flüchtlingen der fünf Jahre zuvor. Über 10.000 davon mussten in Folge der COVID-19 Pandemie fliehen. Das Land braucht dringend internationale Hilfe – und noch wichtiger: Frieden. Doch für beides sieht es schlecht aus. Die Huthis haben eine Offensive auf die Stadt Marib gestartet. Saudi-Arabien wirft nach wie vor Bomben über das Land ab, trotz einer Waffenruhe, die es im April selbst ausgerufen hatte. Die Zahl der Akteure, die im Krieg mitmischen, steigt. 14) International Organization for Migration: Internal Displacement in Yemen Exceeds 100,000 in 2020 with COVID-19 an Emerging New Cause; Artikel vom 21.07.2020 15) Middle East Monitor: Yemen: are Saudi plans contributing to the fall of Marib?; Artikel vom 22.09.2020 16) Spiegel Politik: Deutscher Arzt über Corona im Jemen: „Patienten sind uns innerlich erstickt“; Artikel vom 15.09.2020
Nur wenn Länder wie Deutschland aktiv werden, kann der Krieg beendet werden, meint Tankred Stöbe, der für Ärzte ohne Grenzen im Jemen ist: „Wir sind im Jemen an einem Punkt, an dem die Konfliktparteien anscheinend aus eigener Kraft keine Lösung mehr finden können. Es braucht mehr internationalen Druck.“ Doch davon ist die Realität weit entfernt. 17) Spiegel Politik: Deutscher Arzt über Corona im Jemen: „Patienten sind uns innerlich erstickt“; Artikel vom 15.09.2020
Die USA unterstützen unter Donald Trump das saudische Vorgehen bedingungslos. Immerhin geht es darum, den Einfluss des Erzfeindes Iran einzudämmen. Nebenbei kann man den Saudis für viele Milliarden Dollar Waffen verkaufen. Auch Europa ist nicht unschuldig. Frankreich und Großbritannien liegen unter den größten Waffen-Lieferanten für Saudi-Arabien auf Platz zwei und drei (auf Platz eins sind natürlich die USA). Großbritannien hatte die Waffenexporte an den Golfstaat letztes Jahr wegen saudischen Kriegsverbrechen eigentlich gestoppt, nun hat man sie aber wieder aufgenommen. Die Begründung: Saudische Menschenrechtsverstöße seien „Einzelfälle“. Deutschland beliefert Saudi-Arabien zwar seit 2018 nicht mehr direkt, dafür aber die Vereinigten Arabischen Emirate. Auch die kämpfen im Jemen, und zwar an der Seite der Saudis. 18) Stockholm International Peace Research Institute: Importer/Exporter TIV Tables; Stand 09/2020 19) Independent: UK to resume arms sales to Saudi Arabia despite ‘possible’ war crimes in Yemen, government says; Artikel vom 07.07.2020 20) Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2019; Juni 2020
Um die Folgen des Krieges wenigstens abzumildern, sind die Vereinten Nationen und zahlreiche NGOs vor Ort. Sie versuchen, wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Das war in dem Bürgerkriegsland nie leicht, doch momentan steht die Hilfe vor dem Aus. Es fehlt an Geld. Im Juni hatten die UN bei einer Geberkonferenz für den Jemen 1,35 Milliarden Dollar gesammelt, gerade einmal die Hälfte des benötigten Gelds. 2019 waren noch 2,6 Milliarden zusammengekommen, aber in Zeiten einer globalen Pandemie können viele Länder anscheinend für solche Belange nicht so tief in die Tasche greifen. 21) tagesschau.de: Weniger Geld als erhofft: 1,35 Milliarden Dollar für den Jemen; Artikel nicht mehr verfügbar
Der Geldmangel macht sich im Jemen bereits bemerkbar. Anfang des Monats musste der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) bekanntgeben, dass 70 Prrozent der lebensrettenden Programme im Jemen ausgesetzt werden mussten. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, bedeutet das eine Katastrophe für Millionen Menschen. Das Land steht vor einer riesigen Hungersnot. Die internationale Gemeinschaft muss also dringend mehr Geld geben. Noch wirkungsvoller – und im Übrigen auch billiger – wäre allerdings Frieden im Jemen. 22) Middle East Monitor: UN shuts 70% of life-saving health services due to lack of funds; Artikel vom 12.09.2020 23) UN News: Famine threat returns to Yemen, amid upsurge in fighting; Artikel vom 15.09.2020
Fußnoten und Quellen:
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