![Ein skeptischer Blick in die Zukunft: Dieser Tibetische Lama (Mönch) ist einer von vielen älteren Tibetern, die nun unvermittelt mit massiven Veränderungen ihres Lebensstils konfrontiert sind. | Bild: © smokefish [Pixabay License] - pixabay Ein skeptischer Blick in die Zukunft: Dieser Tibetische Lama (Mönch) ist einer von vielen älteren Tibetern, die nun unvermittelt mit massiven Veränderungen ihres Lebensstils konfrontiert sind. | Bild: © smokefish [Pixabay License] - pixabay](https://www.fluchtgrund.de/files/2020/08/lama-1749360_1920-713x713.jpg)
Ein skeptischer Blick in die Zukunft: Dieser Tibetische Lama (Mönch) ist einer von vielen älteren Tibetern, die nun unvermittelt mit massiven Veränderungen ihres Lebensstils konfrontiert sind. | Bild: © smokefish [Pixabay License] - pixabay
Die letzte Bastion tibetanischer Identität droht der Moderne und China zum Opfer zu fallen
Seit tausenden von Jahren haben Menschen Trennlinien über den Blauen Planeten gezogen und die Erde in Staaten und Nationen aufgeteilt. Allerdings gibt es Teile der Welt, die bisher von keinem Staat, keinem Imperium und keiner Nation gezähmt werden konnten – Land, das so hoch gelegen und Terrain welches so schroff ist, dass es zentralisierten Staaten unmöglich war, wirksame Kontrolle darauf auszuüben. Dies sind die so genannten „non-state spaces“ oder zu Deutsch „nichtstaatliche Räume“.
„Non-state spaces“ haben schon seit jeher, überall auf dem Globus verstreut existiert. Sie liegen meist hoch oben in Berggebieten, weit entfernt von der Reichweite jeglicher Regierung. Die Menschen, die dort leben, kamen nicht zufällig dorthin. Die meisten von ihnen sind im Laufe der Geschichte in die Berge geflohen, um den sich ständig ausweitenden Regierungsstreitkräften zu entkommen. Menschen, die schroffes Territorium, anstatt Steuern, Kriege, Hungersnöte und der Unterwerfung durch jegliche Art von Staatsmacht wählten. Nach Angaben der Weltbank leben heute weltweit etwa 476 Millionen indigene Menschen in über 90 Ländern. Sie schützen circa 80 Prozent der weltweit verbleibenden Biodiversität. Die meisten dieser indigenen Völker wurden in moderne Staaten integriert. Für diejenigen, die tief in den Bergen des Himalayas leben, hat die Geographie den Einfluss jeglicher Art von Staatsmacht weitestgehend aufgehalten. Ein Beispiel für diese Bevölkerungsgruppen sind die Bewohner von Mustang. Mustang liegt im heutigen Staat Nepal auf einem Hochplateau nahe der tibetisch-chinesischen Grenze und ist umgeben von einer etwa 6000 Meter hohen Bergkette. Doch in den letzten Jahren scheint sich, selbst im höchsten Gebirge der Welt, dieser staatenlose und somit auch grenzenlose Lebensstil dem Ende zuzuneigen. 1)James C.Scott: The Art of Not Being Governed; Buch publiziert am, 30.11.20102)John B. Wright: The Changing Tibetan Buddhist Landscape of Upper Mustang, Nepal; Artikel publiziert am, 29.07.20153)Susanne von der Heide: Changes and Developments in Upper Mustang, Nepal: Decision making at the Local Level; Artikel publiziert im, Sommer des Jahres 20004)Global oneness project: Modernizing Mustang: A Hidden Tibetan Kingdom Meets Its Future; Artikel stand heute, 26.08.20205)M. N. Rajesh: The Battle for Ancient Tibet in the Modern Narratives of the People’s Republic of China and the Tibetan Exiles with Reference to Indic influences; Artikel publiziert am, 01.09. 20196)World Bank: Indigenous People; Artikel zuletzt geupdated am, 24.09.20197)United Nations: State of the World’s Indigenous Peoples; Report vom, 12-24.05.20028)Libertarianism.org: The modern state is a contingent historical development, born in blood–not a permanent or inevitable feature of human society; Artikel vom, 10.08.20189)Galen Murton: Bordering Spaces, Practising Borders: Fences, Roads and Reorientations across a Nepal–China Borderland; Artikel publiziert im Jahr, 2017
Mustang: Ein Leben jenseits der modernen Welt

Blick über Mustang, das malerisch von der imposanten Himalaya-Gebirgskette umrahmt wird. | Bild: © simonsimages [CC BY 2.0] – flickr
Bis zu den 1950er-Jahren war das Reisen über das nepalesisch-chinesische Grenzgebiet zwischen Mustang und Tibet nur locker geregelt. Insbesondere für die Bauern, Wanderhirten und Saisonhändler der Region wurden die Räume auf beiden Seiten der Grenze routinemäßig für jährliche Veranstaltungen aufgesucht. Eine dieser Veranstaltungen ist die seit Jahrhunderten stattfindenden – Tsongra-Messen – für den Handelsaustausch zwischen tibetischen-, mustangischen-, chinesischen- und nepalesischen Händlern und Kaufleuten. Es handelte sich um seit langem etablierte, relativ informelle, lokal verwaltete Veranstaltungen, die sowohl auf der tibetischen als auch auf der nepalesischen Seite der heutigen sino-nepalesischen Grenze stattfanden.
„Unser ganzes Leben dreht sich
um unsere Tiere."

Bild einer Nomadin: Für die Nomaden Mustangs ist die Nichtexistenz von Grenzen lebensnotwendig. | Bild: © tashinamgyal [Pixabay License] – pixabay
Gewinner und Verlierer eines sich zu Ende neigenden Lebensstils ohne Grenzen

Nomaden, die fast ausschließlich von den Produkten ihrer Tiere leben, haben es schwer, sich in die neue Wirtschaft zu integrieren. | Bild: © tashinamgyal [Pixabay License] – pixabay
1950 annektierte China Tibet auf kontroverse Weise und handelte mit Nepal eine Grenzlinie aus, die quer durch das Weideland von Mustangs Nomaden verläuft, welche Tibet als ihr Heimatgebiet betrachten. Zu ihrem Glück existierte diese Grenze jedoch nur in der Theorie und die Nomaden konnten ihre Tiere weiterhin tief bis ins Gebiet von Tibet hinein weiden lassen, wie sie es seit Hunderten von Jahren gewohnt waren. Doch im Laufe der Jahre begann China immer reicher zu werden und mit dem Reichtum kam der Wunsch, den größer werdenden Einfluss zu nutzen, um die eigenen Grenzen effektiver zu bewachen – insbesondere in Tibet, wo Menschen massenweise nach Nepal flohen, um der chinesischen Besatzung zu entkommen.
China besaß nun das Geld, die technologischen Kenntnisse und geopolitische Motivation, diese Region zu „zähmen“. Das Reich der Mitte begann die tibetischen Proteste zu zerschlagen und eine militärische Infrastruktur auf der tibetischen Hochebene aufzubauen. 1999 initiierte China den Bau eines Zauns an der Grenze zu Nepal und beendete damit die ungehinderte Mobilität, von der das Volk Mustangs jahrhundertelang in diesem „non-state space“ abhängig gewesen war. Dieser Ort, der stets zu hoch für Grenzen gewesen war, musste sich plötzlich an das Konzept von Grenzen und Kontrolle anpassen, die von einer weit entfernten Regierung ausgingen. Außerdem wurden die ersten Straßensysteme installiert, die die Region mit China verbinden sollten. In den frühen 2000er- Jahren wurde eine Mustang-Tibet-Straße gebaut. Staatliche Kräfte drangen langsam immer mehr in das Leben der Region ein. Mit den Straßen verließen viele Bürger Mustangs ihre jahrhundertealten indigenen Praktiken. Das Straßensystem gestaltete auch die Beziehungen dieser Gemeinden zur Außenwelt neu und verlagerte ihre Wirtschaft von Tauschmärkten auf Geldmärkte, wobei die Bewohner Mustangs Geschäfte rund um billige Importgüter aus China kreierten.
Wie immer bei einem Wandel gab es jedoch sowohl Gewinner als auch Verlierer. Die Gewinner sind Ladenbesitzer, die nun ihre chinesischen Waren verkaufen und ihre Familien im Vergleich zu ihrem früheren Leben relativ problemlos ernähren können. Die Reisezeit nach Pokhara für diejenigen, die sich eine Fahrt mit einem Sammeltaxi leisten können, hat sich von 13 Tagen auf Stunden verkürzt. Die Straße hat auch das Leben der Einwohner Mustangs im Allgemeinen wesentlich erleichtert: „Der Lebensstandard der Menschen ist gestiegen“, erklärt Pema Tsering, Programmkoordinatorin einer Naturschutzorganisation in Mustang. Dafür gibt es Belege: Jetzt, da Lastwagen und Traktoren aus Pokhara innerhalb eines Tages Reis, frische Produkte und eine große Menge moderner Waren in das Gebiet bringen können, haben sich neue Gemischtwarenläden – die illegale Kopien von Bollywood-Filmen und andere moderne Waren anbieten – neben jahrhundertealten Ställen und Klöstern angesiedelt. Als Bewohner einer der am wenigsten entwickelten Regionen Nepals haben viele Loba (die indigenen Bewohner von Upper Mustang) das Gefühl, lange genug in der Vergangenheit gelebt zu haben.
"Ich kann meinen Lebensunterhalt nicht außerhalb dieses Nomadenlebens verdienen.“
Aber wie schon zuvor bei zahlreichen anderen sich modernisierenden Gemeinschaften auf der Welt kann ein plötzlicher Einzug der Moderne auch einen Zustrom kultureller, nuancierter Probleme bedeuten. Die zweimal jährlich stattfindende Tsongra-Messe wird nun nur noch auf der tibetischen Seite der Grenze im Territorium Chinas veranstaltet. Die Messe wird von den chinesischen politischen Behörden koordiniert und ist heute weitaus formeller und institutionalisierter als je zuvor. Nomaden, die es gewohnt sind nahezu ausschließlich von den Produkten ihrer Tiere zu leben, haben es schwer, sich zu integrieren und einen Platz in der neuen Wirtschaft zu finden, die auf Bargeld und großen internationalen Warenströmen basiert. So meint der Nomade Dolker: „Viele Leute, die ich kenne, welche einst als Nomaden lebten, haben alles verkauft und sind woanders hingezogen. Manchmal frage ich mich, ob ich das auch tun sollte. Aber ich weiß, dass ich nicht über die notwendigen Kompetenzen verfüge, um meinen Lebensunterhalt außerhalb dieses Nomadenlebens zu verdienen.“
Das Leben der Nomaden wurde zusätzlich verkompliziert, als China ein Verbot für Tibeter verhängte, Yaks aus Nepal zu kaufen. Ein großer Teil des Einkommens der nepalesischen Nomaden stammte aus dem Verkauf ihres Viehs, insbesondere von Yaks, wobei Tibet den größten Markt für Sie darstellte, der nun nicht mehr zugänglich ist. „Vor dem Verbot verkauften wir mindestens sieben bis acht Yaks pro Jahr an tibetische Käufer“, erzählt ein weiterer Nomade namens Gyatso. Mit dem Geld, das durch den Verkauf der Yaks erwirtschaftet wurde, konnte Dolker das Schulgeld seiner Kinder und deren Ausgaben bezahlen. „Ich weiß nicht, wie ich jetzt weitermachen soll“, so Dolker. Nomaden wie Gyatso und Dolker verkaufen nur zwei bis drei Yaks an lokale Käufer: „Wenn das Verbot weiter besteht, fürchte ich, dass Nomaden wie wir keine andere Wahl haben werden, als unsere Yaks sterben zu sehen“, meint der sichtlich betroffene Dolker.

Ein kleiner Junge in Mustang: Viele Kinder seiner Generation werden jetzt an weit entfernten Orten zur Schule geschickt und wachsen in Unkenntnis ihrer eigenen Kultur auf. | Bild: © Dmitry Sumin [CC BY-ND 2.0] – flickr
Auch die Kultur verändert sich rasch und wird nach und nach vom modernen Lebensstil verschlungen. So befürchtet beispielsweise die gesamte Loba-Gemeinschaft allmählich den Verlust von Lowa, ihrem einzigartigen tibetischen Dialekt. Freie staatliche Schulen in der gesamten Mustang-Region sind unterfinanziert und unterrichten die Schüler ausschließlich auf Nepali. Um den Kindern eine Bildung zu bieten, die in einer globalisierten Welt wettbewerbsfähiger ist, schicken die Loba ihre Kinder jetzt in die Hauptstadt Nepals, Kathmandu, nach Indien, Europa oder sogar in die USA, wo sie in Unkenntnis der Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebräuche und des Glaubens ihrer Heimat aufwachsen. Dies macht viele Loba-Eltern traurig: Während sie wissen, dass sie zu Hause nicht das gleiche Maß an Chancen bieten können, machen sie sich Sorgen, dass ihre Kinder im Ausland aufwachsen, als Fremde, die ihre eigene Kultur nicht kennen. Der Dalai Lama hat Mustang und andere ethnisch tibetische Himalaya-Regionen oftmals dazu aufgerufen, die tibetanische Lebensart zu bewahren. Doch das wird nun immer komplizierter und inzwischen wird sogar die tibetische Exilgemeinde in Nepal immer mehr von staatlichen Kräften unterdrückt. 16)John B. Wright: The Changing Tibetan Buddhist Landscape of Upper Mustang, Nepal; Artikel publiziert am, 29.07.201517)The Kathmandu Post: Yak herding is vanishing in Upper Mustang. So are the yaks; Artikel publiziert am, 27.07.201918)Global oneness project: Modernizing Mustang: A Hidden Tibetan Kingdom Meets Its Future; Artikel stand heute, 26.08.202019)Galen Murton: Bordering Spaces, Practising Borders: Fences, Roads and Reorientations across a Nepal–China Borderland; Artikel publiziert im Jahr, 201720)Al Jazeera: Mustang: A Kingdom on the Edge; Artikel publiziert am, 20.02.201221)Tibet Himalaya Initiative: A Himalayan Border Trilogy: Trade and Infrastructure Development at the Nepal-China Borderlands; Artikel vom, 07.09.2015
Chinas Einfluss und Repressalien gegen einen der letzten Bewahrer der tibetischen spirituellen Identität

Exiltibeter protestieren in Pokhara (Nepal) für eine humanere Behandlung der Tibeter im Reich der Mitte. | Bild: © Tom Booth [CC BY 2.0] – flickr
Die Proteste begannen damals in Lhasa im Vorfeld der Olympischen Spiele, die von der Volksrepublik ausgerichtet wurden. Exiltibeter in Nepal demonstrierten auf den Straßen von Kathmandu und Pokhara, um Licht auf die Unterdrückung der Tibeter in China zu werfen. Im Nachgang zu den Protesten gerieten die Tibeter in China unter eine Welle an Repressionen, hinsichtlich ihrer politischen und religiösen Freiheit. Tausende wurden ins Gefängnis geworfen. Zehntausende wurden zu „Umerziehungsprogrammen“ gezwungen. Eine unbekannte Zahl wurde hingerichtet. Die Kontrolle Chinas über diese Gemeinschaften ist absolut. Das Reich der Mitte war in der Lage, die Proteste auf seiner Seite der Grenze mit Gewalt zu kontrollieren, aber die Proteste in Nepal hielten sechs Monate lang an und erregten große Aufmerksamkeit in den internationalen Medien.
„Mit all diesen neuen Regeln nennen wir
Kathmandu jetzt das kleine Lhasa.“
Dies brachte die politische Führung der Volksrepublik in Verlegenheit, und seitdem haben chinesische Funktionäre es sich zur Aufgabe gemacht, Druck auf die Regierung Nepals auszuüben, damit sie solchen Ereignissen ein Ende setzt und die nepalesische Regierung gab diesem politischen Druck nach. Zunächst einmal verbot man jegliche Demonstrationen von Seiten der Exil-Tibeter. Gesellschaftliche Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen wurden gesetzlich untersagt. Außerdem ist es der tibetischen Gemeinschaft nicht mehr erlaubt, den Geburtstag des Dalai Lama zu feiern. Schon das Tragen des Bildes Seiner Heiligkeit könnte mit der Verhaftung und einem Aufenthalt im Gefängnis enden. „Mit all diesen neuen Regeln nennen wir Kathmandu jetzt das kleine Lhasa“, erzählt ein nepalesischer Exiltibeter.

Bild von einem der vielen kulturellen tibetischen Festivals, die jährlich in Mustang stattfinden:
Die Menschen Mustangs halten diese einzigartige Kultur immer noch am Leben – doch für wie lange? | Bild: © Richard Weil [CC BY-ND 2.0] – flickr
Fußnoten und Quellen:
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