Ausbeutung von Rohstoffen in Sibirien vertreibt indigene Völker
Die Natur Sibiriens ist reich an Bodenschätzen. Öl, Gas, Kohle, Edelmetalle, Edelsteine und andere Ressourcen sind hier in großen Mengen vorhanden. Den Wert und das Potenzial dieser Region für die wirtschaftliche Zukunft Russlands erkannte auch die russische Regierung früh. Schon in den 1960er Jahren wurden vermehrt Bergbaubetriebe und Erdölraffinerien angesiedelt. Das Industrienetzwerk hat sich seitdem immer weiter in Sibirien ausgebreitet. Der Rohstoffabbau in Sibirien, der Arktis und im Fernen Osten Russlands nimmt immer weiter zu. Zu Beginn dieses Jahres hat die russische Regierung ein neues Investitionsprogramm verabschiedet, demzufolge in den kommenden Jahren 210 Milliarden Euro in die Ölförderung der russischen Arktis fließen sollen. Der russische Mineralölkonzern Rosneft plant derweil mit seinem Unternehmen Vostok Oil die Erschließung dreier neuer Ölfelder im Gebiet des Wankor-Öl- und Gasfeldes im Osten Sibiriens. Für den Export ist eine neue Pipeline zur Taimyr-Halbinsel geplant. Gazprom, das weltweit größte Erdgasförderunternehmen, möchte zudem auf der Jamal-Halbinsel ein petrochemisches Werk errichten, in dem Polyethylene und Polypropylene produziert werden sollen. Nicht nur die Taimyr- und die Jamal-Halbinsel, sondern auch andere große Teile Sibiriens bilden jedoch den Lebensraum verschiedenster indigener Völker. Dass mit den Vorhaben erhebliche Risiken für die Umwelt und eine weitere Verdrängung der indigenen Völker Russlands einhergehen, scheint weder die russische Regierung, noch die beteiligten Rohstoffkonzerne zu stören geschweige denn abzuhalten. 1) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 2) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der russischen Arktis; Artikel vom 30.07.2020 3) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker im Norden Russlands und Sibiriens; Artikel vom 23.04.2005 4) Die Welt: Der Arktis-Plan soll Russlands Öl-Imperium retten; Artikel vom 04.11.2019 5) Survival International: Die Völker Sibiriens; Stand 2020
Rohstoffabbau: eine große Gefahr für Indigene, Tiere und Umwelt
Schon in den 1960ern wurden weite Teile Sibiriens, die zuvor die Heimat der Dolganen, Nenzen, Nganassanen, Nivchen, Ewenken, Enzen, Schoren, Sami, Oroken und Chanten gewesen waren, für die Nutzung durch Mineralöl- und Rohstoffkonzerne zugängig gemacht. Nicht nur wurden Indigene aus ihren Gebieten verdrängt und zur Sesshaftigkeit an bestimmten Orten gezwungen. Auch die Weideflächen ihrer Rentiere mussten weichen. Die Rentierhaltung stellt jedoch neben Fischfang und der Jagd die Lebensgrundlage der Indigenen Sibiriens dar. Die Vertreibung der indigenen Gemeinschaften in immer kleinere Gebiete setzt sich bis heute fort. Die durch die Industrie in Anspruch genommenen Flächen dehnen sich dagegen immer weiter aus. Ein Netzwerk aus Pipelines durchzieht das Land und zerstört die Weideflächen der Rentierherden. Das Ökosystem Sibiriens ist jedoch hochempfindlich: Der Klimawandel macht den Permafrostböden, auf welche die Infrastruktur aus Tanks, Pipelines, Bohrstationen und Industriegebäuden gebaut worden ist, schwer zu schaffen. Die tauenden Permafrostböden machen diese Infrastruktur zu einer unkontrollierbaren Gefahr. Waldbrände, ausgelöst durch extreme Trockenheit und Hitze, beschleunigen den Tauprozess und lassen den Untergrund plötzlich absacken. Die darauf errichtete Infrastruktur kann dadurch erheblichen Schaden nehmen. Erst am 29.05.2020 kam es zu einem schweren Unfall, als große Mengen an Diesel aus einem Treibstofftank des Konzerns Nornickel ausliefen. Dieser war vermutlich durch die auftauenden Permafrostböden beschädigt worden. Durch das Unglück wurden viele Flüsse und Seen in der Umgebung verseucht. Für einige Tage versuchten das Unternehmen und lokale Behörden zunächst den Vorfall zu verschleiern und herunterzuspielen. Die in der Region lebenden Dolganen und Nenzen sind jedoch auf das Wasser aus jenen Flüssen und Seen angewiesen. Die nun verseuchten Gewässer stellen nicht nur die Trinkwasserquelle für sie selbst und ihre Rentiere, sondern auch ihre Fischerei- und Jagdgründe dar. Immer wieder führt der Rohstoffabbau zu solchen Unfällen. Pipelines und Tanks schlagen leck und verseuchen umliegende Gewässer in dramatischem Ausmaß. Mit fortschreitendem Klimawandel sind wohl immer mehr Unfälle solcher Art zu erwarten. Knapp einen Monat später, im Juni dieses Jahres, tauchten Berichte auf, dass toxisches Abwasser von Nornickel in die Tundra abgepumpt worden war, welches unter anderem mit Schwermetallen und Schwefelsäure verseucht war. Der Vorfall wurde zwar von Nornickel bestätigt, das Unternehmen behauptete jedoch, dass hohe Regenfälle zum Auslaufen eines Absetzbeckens geführt hätten. Umweltschützer und Journalisten bestreiten diese Version der Ereignisse und konnten sogar Beweise vorlegen. Bild- und Videoaufnahmen dokumentieren, dass durch zwei Schläuche tatsächlich Abwasser aus dem Becken in die Tundra gepumpt worden war. Bei der Nickelproduktion von Nornickel wird zudem giftiger Staub freigesetzt, der die Luft belastet, und die Transportwege des Unternehmens durchziehen wichtiges Weideland. Auch der Konzern Vostok Coal zerstört immer weiter den Lebensraum der wilden Rentiere, verletzt Lizenzverträge und dringt sogar in geschützte Gebiete vor. Viele Indigene waren bereits gezwungen ihre traditionelle Lebensweise, aufzugeben und abzuwandern. 6) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 7) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der russischen Arktis; Artikel vom 30.07.2020 8) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker im Norden Russlands und Sibiriens; Artikel vom 23.04.2005 9) Survival International: Die Völker Sibiriens; Stand 2020 10) DW: Russia: Norilsk environmental disasters — what you need to know; Artikel vom 01.07.2020 11) BBC: Russian Arctic oil spill pollutes big lake near Norilsk; Artikel vom 09.06.2020 12) Greenpeace: The river runs red – catastrophic oil accident in the Russian Arctic; Artikel vom 05.06.2020 13)Greenpeace: The human cost of oil: How Indigenous and ethnic minorities bear the brunt of disasters; Artikel vom 26.06.2020 14) Greenpeace: What are the Russian authorities trying to hide?; 30.06.2020 15) Reuters: Russia’s Nornickel fights cover-up accusations over Arctic oil spill; Artikel vom 10.07.2020 16) Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie e.V. (INFOE); Ölpest in Russland verweist auf Geschichte von Rechtsverletzungen an indigenen Völkern; Artikel vom 23.06.2020 17) International Work Group for Indigenous Affairs IWGIA: Russian oil spill exposes history of Indigenous Peoples’ rights violations; Artikel vom 23.06.2020 18) Frankfurter Allgemeine FAZ: Bis einem das Pferd im Boden versinkt; Artikel vom 31.10.2019 19) DW: Klimawandel; Gefahr durch tauenden Permafrost in Sibirien; Artikel vom 07.12.2018 20) Greenpeace: Der alte Mann und der See; Artikel vom 21.08.2015 21) Greenpeace: Das sibirische Öl-Inferno; 11.06.2013
Zerstörung der Lebensgrundlagen und Vertreibung
Ähnliche Berichte liegen über die Halbinsel Jamal vor, die das Hauptfördergebiet Russlands für Erdgas darstellt. Auch hier leiden die etwa 15 000 Nenzen unter der steigenden Nachfrage nach Erdöl, Erdgas und anderen Rohstoffen. Die Infrastruktur, welche für die Industrie aufgebaut worden ist, hat auf den empfindlichen Permafrostböden großen Schaden angerichtet. Ob sich die Natur in absehbarer Zeit beziehungsweise jemals davon erholen wird, ist fraglich. Die Weidegebiete der Herden der Nenzen wurden ebenfalls zu einem großen Teil zerstört. Die restlichen, noch nutzbaren Weideflächen werden immer kleiner und führen so zu Konflikten zwischen indigenen Rentierhaltern. Mittels Schikanierung und der willkürlichen Beschlagnahmung von Jagdwaffen und Nahrungsmitteln durch regionale Behörden wird den Indigenen das Leben ebenfalls absichtlich schwer gemacht. 22) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 23) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker im Norden Russlands und Sibiriens; Artikel vom 23.04.2005
Auch im Bezirk Kemerowo in Westsibirien leidet die ansässige indigene Gemeinschaft unter dem exzessiven Rohstoffabbau. Da sich in diesem Teil des Landes eins der größten Kohlevorkommen des Landes befindet, hat sich eine große Kohleindustrie angesiedelt. Etwa 10.000 Schoren leben in diesem Gebiet. Viele von ihnen wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Rund 74 Prozent von ihnen leben mittlerweile in Städten. Ihre traditionelle Lebensweise waren sie gezwungen aufzugeben. Diejenigen von ihnen, die sich gegen die Kohleindustrie und ihre Pläne zur Kohleförderung wehrten, wurden bedroht, kriminalisiert und verfolgt. In den Jahren 2013 und 2014 kam es zu Brandanschlägen, bei denen alle Häuser im Dorf Kazas zerstört wurden. Die indigene Bevölkerung des Dorfes war gezwungen, ihre Siedlung zurückzulassen. Die Tatsache, dass es einen Checkpoint gibt, von dem aus das ansässige Kohleunternehmen den Zugang zum Dorf bewacht, legt die Vermutung nahe, dass der Brandanschlag der Vertreibung der Bewohner dienen sollte. Diese berichten auch, durch die Polizei und den Geheimdienst terrorisiert und bedroht worden zu sein. Insgesamt musste das Dorf der Indigenen in der Region Kemerowo schon dreimal verlegt werden. 24) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 25) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker im Norden Russlands und Sibiriens; Artikel vom 23.04.2005
Auch die Sami in der Region Murmansk auf der Kola-Halbinsel sind von den Umweltschäden durch den Rohstoffabbau stark betroffen. Weite Flächen der Region sind schwermetallvergiftet, die Luft wird verpestet, und die den Indigenen zur Verfügung stehenden Gebiete werden immer weiter zugebaut. Viele ihrer besten Weideflächen, Fischfang- und Jagdgründe wurden mittlerweile durch die russische Regierung an Investoren verpachtet. Erst im November 2018 wurde ein Jagdrevier von etwa 72 Hektar versteigert, in welchem auch der wichtige Fluss Ponoi liegt. All dies geschah ohne Zustimmung und ohne Absprache mit den Sami. Zu Zeiten der Sowjetunion wurden sie hierhin zwangsumgesiedelt. Nun werden sie weiter vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage. Denn für die weitere Nutzung der Fläche für die Jagd oder Fischerei benötigen sie nun Lizenzen. Vor allem jugendliche Sami entscheiden sich daher oft, ihr traditionelles Leben aufzugeben und in größere Städte zu ziehen. 26) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 27) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker im Norden Russlands und Sibiriens; Artikel vom 23.04.2005
Russland wichtigster Handelspartner der EU für Öl, Gas und Kohle
Auch die Europäische Union profitiert auf Kosten der indigenen Völker Sibiriens von den Öl- und Gasvorkommen Russlands. Rund ein Viertel des in die EU importierten Erdöls stammt aus Russland, was den Staat zum wichtigsten Handelspartner in Bezug auf die Rohölversorgung der Europäischen Union macht. Ihr Hauptlieferant für Erdgas ist ebenfalls Russland, mit einem Anteil von fast 40 Prozent der Erdgasimporte. Und auch für feste Brennstoffe wie Kohle ist Russland ihr wichtigster Zulieferer. 28) Statista: Verteilung der Erdölimporte der Europäischen Union nach Herkunftsland im Jahr 2019; Stand 2020 29) Bundeszentrale für politische Bildung bpb: Energieimport der Europäischen Union (EU-28); Artikel vom 09.07.2019
Auch für Deutschland ist Russland der wichtigste Handelspartner, wenn es um die Öl- und Gas-Wirtschaft geht. Mit mehr als 30 Millionen Tonnen Rohöl jährlich stellt Russland etwa ein Drittel des Rohstoffimportvolumens der Bundesrepublik. Die enge Zusammenarbeit wird vor allem bei der Betrachtung eines aktuellen Großprojekts deutlich. Die Pipeline Nord Stream 2 soll jährlich mehr als 55 Milliarden Kubikmeter Gas nach Deutschland und in andere europäische Staaten bringen. Die Pipeline zieht sich über die Jamal-Halbinsel und durch die Ostsee bis in den Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern. Die Route verläuft durch Gebiete indigener Völker, die nicht angemessen in die Planung einbezogen worden sind, und durch das Biosphärenreservat Kurgalskij. Nicht nur die geschützten Tiere und Pflanzen, sondern auch die Lebensweise der Indigenen werden durch das Projekt in Gefahr gebracht. Die Pipeline steht kurz vor der Fertigstellung – es fehlen noch knapp 150 Kilometer. Momentan sind die Bauarbeiten wegen Sanktionsdrohungen der USA jedoch auf Eis gelegt worden. 30) Statista: Deutsche Rohölimporte nach ausgewählten Exportländern in den Jahren 2012 bis 2018 in 1.000 Tonnen; Stand 2020 31) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 32) Focus Online: EU-Kommission zu Nord Stream 2: US-Sanktionen würden gegen Völkerrecht verstoßen; Artikel vom 14.08.2020
Weil die Russische Föderation weder die Konvention 169 der ILO ratifiziert hat, noch der UN-Deklaration zu den Rechten indigener Völker beigetreten ist, ist die rechtliche Stellung der indigenen Völker Sibiriens wesentlich schwächer als die indigener Völker in anderen Teilen der Arktis. Oft können sie sich nur sehr schwer gegen die Entziehung ihrer Lebensgrundlagen wehren. Ein weltweites Bewusstsein über die Art und Weise des russischen Rohstoffabbaus und seine Folgen für die indigenen Völker Russlands sollte vor allem unter Verbrauchern geschaffen werden. Dieses könnte den Indigenen im Kampf um die Anerkennung und Achtung ihrer Rechte unterstützen. 33) Gesellschaft für bedrohte Völker: Indigene Völker der Arktis zwischen Klimawandel und Rohstoffboom; Bericht Juni 2020 34) Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie e.V. (INFOE); Ölpest in Russland verweist auf Geschichte von Rechtsverletzungen an indigenen Völkern; Artikel vom 23.06.2020
Fußnoten und Quellen:
Bernhard
Veröffentlicht um 21:32h, 14 JanuarGuter Artikel. Mehr davon.