Unruhen in Äthiopien – Droht ein Bürgerkrieg?
„Wir haben unsere Stimme verloren“. Diese Worte beschreiben, wie wohl viele Oromo den Tod des Sängers Hachalu Hundessa empfinden. Hachalu war nicht irgendein äthiopischer Sänger, sondern die musikalische Stimme der Oromo. 2018 wurden seine Lieder zu Hymnen ihrer Protestbewegung gegen die damalige Regierung, die zu einem überrachenden Regierungswechsel führte. Denn obwohl die Oromo die größte ethnische Gruppe in Äthiopien sind, fühlen sie sich seit langem benachteiligt und von politischen Ämtern ausgeschlossen. Die Ermordung Hachalus erschüttert das politische System Äthiopiens, das schon in den letzten sechs Jahren von Instabilität, Unruhen und Protesten gezeichnet war. Diese hatten sehr häufig Gewaltausbrüche und viele Tote zur Folge. 1) DW: Äthiopien: Mord an Sänger Hachalu reißt tiefe Wunden; Artikel vom 02.07.2020 2) The New York Times: Turmoil at Funeral of Singer Shows Ethiopia’s ‘Combustible’ Politics; Artikel vom 02.07.2020 3) Tagesschau: Viele Tote bei Protesten in Äthiopien; Artikel nicht mehr verfügbar 4) Tagesschau: Die Wut im Land des Hoffnungsträgers; Artikel nicht mehr verfügbar 5) Tagesschau: Mehr als 200 Tote bei Unruhen in Äthiopien; Artikel nicht mehr verfügbar
Deutschland sagt vertiefte entwicklungspolitische Zusammenarbeit zu
Im Mai dieses Jahres hatte die Bundesregierung beschlossen, insgesamt die direkte Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe in einigen Staaten zu verringern. In diesem Zuge wurden beispielsweise Staaten wie Myanmar, Sri Lanka und der Mongolei staatliche Hilfen gestrichen, da deren Regierungen wenig reformorientiert seien und Menschenrechte weiterhin schwer verletzt würden. Voraussetzung für die Auswahl der Partnerländer sei deshalb echter Reformwille, eine messbare Verbesserung in den Bereichen der guten Regierungsführung und der Einhaltung der Menschenrechte sowie eine glaubwürdige Bekämpfung der Korruption. Länder, die diese Bedingungen erfüllen, will die Bundesregierung 2020 in Form einer vertieften entwicklungspolitischen Zusammenarbeit noch stärker unterstützen. Eines dieser Länder ist Äthiopien. Schon von 2018 bis 2019 hatte Äthiopien im Rahmen zwischenstaatlicher Verträge von der Bundesregierung Mittel von rund 374,1 Millionen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit zugesprochen bekommen. Im Jahr 2020 wurden bisher rund 40 Millionen Euro aus reinen Haushaltsmitteln, also Zuschüsse und stark subventionierte, zinsgünstige Standardkredite, im Auftrag der Bundesregierung durch die KfW Entwicklungsbank an Äthiopien zugesagt. Empfänger solcher Finanzhilfen ist grundsätzlich der zu unterstützende Staat, welcher die Mittel in der Regel an staatliche Projektträger weiterleitet – in diesem Fall der äthiopische Staat. 6) KfW: Finanzprodukte der FZ Zuschuss und Standardkredit; zuletzt aufgerufen 13.07.2020 7) KfW: Weltweites Engagement; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 8)KfW: Finanzierungsinstrumente und Mittelherkunft; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 9) ZDF: Myanmar, Sri Lanka, Mongolei – Berlin will einigen Ländern Hilfen streichen; nicht mehr verfügbar 10) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Äthiopien Aufstrebendes Land mit großen Herausforderungen; zuletzt aufgerufen am 23.07.2020 11) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Äthiopien Entwicklungspolitische Zahlen und Fakten; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 12) Human Rights Watch: To Heal, Ethiopia Needs to Confront its Violent Past; Artikel vom 28.05.2020 13) Amnesty International: Äthiopien 2019; Bericht vom 08.04.2020 14) Human Rights Watch: Ethiopia: Justice Needed for Deadly October Violence; Artikel vom 1.04.2020
Trotz des Reformplans bleibt die Menschenrechtslage unbefriedigend
Obwohl in den letzten zwei Jahren eine politische Kehrtwende erfolgt ist und unter dem seit 2018 amtierenden Premierminister Abiy Ahmed ein vielversprechender Reformprozess in Gang gesetzt worden ist, sind im Fall Äthiopiens zu Recht Zweifel angebracht, was die Erfüllung der geforderten Voraussetzungen angeht. Vor allem die Einhaltung und der Schutz der Menschenrechte sind nach wie vor unbefriedigend. Mit Abiy Ahmed hat 2018 erstmals ein Oromo das Amt des Regierungschefs erlangt und sofort das ganze Land mit seinen Reformplänen überrascht. Unter ihm wurden tausende Oppositionelle, Blogger und Journalisten freigelassen und mehrere hundert bislang gesperrte Internetseiten wieder freigegeben, was sich auch im Worldwide Press Freedom Index bemerkbar macht. Hier konnte Äthiopien innerhalb von zwei Jahren um rund 51 Plätze nach vorne rücken, auf aktuell Rang 99 von 180. 15) LIPortal: Äthiopien; nicht mehr verfügbar 16) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Äthiopien Aufstrebendes Land mit großen Herausforderungen; zuletzt aufgerufen am 13.05.2020
Das Anti-Terrorgesetz von 2009, welches oft genutzt wurde, um die Meinungsfreiheit und Pressefreiheit auszuhebeln, sowie Oppositionelle zum Schweigen zu bringen, ist jedoch noch immer in Kraft. Zwar wurde im November 2019 ein Entwurf für ein neues Terrorismusgesetz ins Parlament eingebracht, doch dieser enthält nur sehr vage formulierte Bestimmungen, die nach Einschätzungen von Amnesty International das Recht auf freie Meinungsäußerung leicht aushöhlen könnten. Weiterhin berichten Amnesty International und Human Rights Watch von unfairen Gerichtsverfahren gegen Journalisten aufgrund des Antiterror-Gesetzes, willkürlichen Festnahmen, rechtswidrigen und zu langen Untersuchungshaften, unzulässigen Verfahrensverzögerungen sowie auch von Misshandlungen und Folter durch staatliche Behörden. Besonders im Rahmen von Unruhen im Herbst 2019 sowie im Rahmen von Aufständen, die mit der Ermordung Hachalus in Zusammenhang stehen, waren weiterhin viele Journalisten und Regierungskritiker von willkürlichen Festnahmen und rechtswidrigen Inhaftierungen betroffen. Als es im Herbst 2019 zu Gewaltausbrüchen zwischen ethnischen Gruppen kam, wurden darüber hinaus zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen die Staatsgewalt ihrer Schutzpflicht gegenüber ethnischen Gruppen nicht nachgekommen ist. Vielmehr ergriffen Sicherheitskräfte Partei für ihre eigene ethnische Gruppe und beteiligten sich aktiv an Gewaltakten gegen die Bevölkerung, die in ihrem Verlauf nach offiziellen Angaben der Behörden 86 Tote forderten. Eine derartige Eskalation von Konflikten zwischen ethnischen Gruppen und gewaltsame oder auch tödliche Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sind im Vielvölkerstaat Äthiopien keine Seltenheit. Häufig kommt es in diesem Kontext auch zu Brandstiftung und zu Plünderungen. Trotz einiger Reformen scheinen Gewaltausbrüche in ihrer Zahl seit 2018 sogar zugenommen zu haben. Mit ihnen steigt in diesem Jahr auch die Zahl der Binnenvertriebenen auf einen traurigen Höchststand von ca. 3 Millionen an. 17) LIPortal: Äthiopien; nicht mehr verfügbar 18) Auswärtiges Amt: Äthiopien: Reise- und Sicherheitshinweise; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 19) Human Rights Watch: Ethiopia: Justice Needed for Deadly October Violence; Artikel vom 01.04.2020 20) Human Rights Watch: To Heal, Ethiopia Needs to Confront its Violent Past; Artikel vom 28.05.2020 21) Amnesty International: Äthiopien 2019; Bericht vom 08.04.2020 22) The New York Times: Turmoil at Funeral of Singer Shows Ethiopia’s ‘Combustible’ Politics; Artikel vom 02.07.2020
Der Rückhalt des Premierministers schwindet
Bis heute ist die äthiopische Regierung einer umfangreichen Untersuchung und Aufklärung der Ereignisse im Oktober 2019 nicht nachgekommen. Sie ist ebenso daran gescheitert, wirkungsvolle Präventivmaßnahmen gegen Amtsmissbrauch und Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte sowie Maßnahmen zum effektiven Schutz der Bevölkerung vor gewalttätigen Mobs einzuleiten. Stattdessen wurde und wird weiterhin auf repressive Maßnahmen wie die Verhängung des Ausnahmezustands und die Abschaltung des Internets zurückgegriffen. Anklagen gegen hohe Amtsträger und Sicherheitskräfte wegen Menschenrechtsverletzungen wurden meist fallen gelassen. Auch eine Versöhnung zwischen den ethnischen Gruppen des Landes scheint Abiy Ahmed bisher nicht gelungen zu sein, obwohl dieser die besten Voraussetzungen dafür gehabt hätte, denn sein Vater ist ein Oromo und Muslim, seine Mutter eine Amhra und Christin. Mit dem Antritt seiner Amtszeit wurde er als Hoffnungsträger gesehen und hat mit seinen Plänen gleichzeitig große Erwartungen in der Bevölkerung geweckt, welche bedient werden müssen. 23) Tagesschau: Äthiopiens radikaler Reformer; Artikel nicht mehr verfügbar 24) The New York Times: Turmoil at Funeral of Singer Shows Ethiopia’s ‘Combustible’ Politics; Artikel vom 02.07.2020 25) Tagesschau: Zahl der Toten steigt auf 166; Artikel nicht mehr verfügbar 26) Human Rights Watch: To Heal, Ethiopia Needs to Confront its Violent Past; Artikel vom 28.05.2020 27) Human Rights Watch: Ethiopia: Justice Needed for Deadly October Violence; 01.04.2020
Doch der Rückhalt des Premierministers scheint zu bröckeln. Ein fehlgeschlagener Putschversuch im Juni 2019, die Ermordung des Generalstabchefs der äthiopischen Streitkräfte ebenfalls im Juni 2019, eine zunehmende Zerstrittenheit in der Regierungskoalition, eine offiziell wegen des Coronavirus aufgeschobene Parlamentswahl und immer wieder gewaltsam ausgetragene ethnische Konflikte tragen zur Destabilisierung des Landes bei. Eine weitere Belastungsprobe für die Regierung stellt die hohe Aufnahme von Flüchtlingen aus den Nachbarstaaten Eritrea, Sudan und Somalia dar. Im Mai 2020 waren mehr als 760 000 Flüchtlinge in Äthiopien registriert, deren Versorgung das Land und internationale Hilfsorganisationen vor große Herausforderungen stellt. 28) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Äthiopien Aufstrebendes Land mit großen Herausforderungen; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 29) giz: Äthiopien; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 30) DW: Äthiopien: Wahlen verschoben, Kirse imminent; Artikel vom 15.06.2020 31) LIPortal: Äthiopien; nicht mehr verfügbar 32) Auswärtiges Amt: Äthiopien: Reise- und Sicherheitswarnungen; zuletzt aufgerufen am 13.07.2020 33) BBC: Abiy Ahmed’s reforms in Ethiopia lift the lid on ethnic tensions; Artikel vom 29.06.2019
Die Ermordung des Sängers Hachalu bedroht die politische Stabilität Äthiopiens
Die Erschießung von Hachalu Hundessa durch Unbekannte am 30.06.2020 könnte der Tropfen sein, welcher das Fass zum Überlaufen bringt und Äthiopien in eine tiefe Krise stürzt. Proteste und gewaltsame Ausschreitungen vor allem in Oromia, aber auch in anderen Landesteilen, folgten der Trauer und Wut. Wieder kam es zu Massenverhaftungen: Insgesamt 3500 Menschen wurden verhaftet– unter ihnen auch prominente Oppositionelle wie Bekele Gerba oder Jawar Mohammed, der versucht hatte, den Leichnam Hachalus abzufangen und seine Bestattung in der Hauptstadt Addis Abeba durchzusetzen. Nach aktuellen Angaben forderten die Unruhen mindesten 239 Menschenleben. Die Todesfälle sind auf Einsätze der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen zurückzuführen. 34) Tagesschau: Mehr als 200 Tote bei Unruhen in Äthiopien; Artikel nicht mehr verfügbar 35) Tagesschau: Viele Tote bei Protesten in Äthiopien; Artikel nicht mehr verfügbar 36) The New York Times: Hachalu Hundessa, Ethiopian Singer and Activist, Is Shot Dead; Artikel vom 30.06.2020 37) The New York Times: Turmoil at Funeral of Singer Shows Ethiopia’s ‘Combustible’ Politics; Artikel vom 02.07.2020 38) BBC: Hachalu Hundessa – Ethiopia’s murdered musician who sang for freedom; Artikel vom 02.07.2020 39) BBC: Hachalu Hundessa: Ethiopia singer’s death unrest killed 166; Artikel vom 05.07.2020
Besonders die Reaktion der Regierung auf die Ereignisse und ihr Umgang mit der Situation haben vermutlich zu einer weiteren Eskalation beigetragen und könnten die Proteste weiter befeuern. Wieder einmal wurde das Internet abgeschaltet, was es in vielen Fällen unmöglich gemacht hat, die Zahlen der Getöteten und Verletzten einzusehen und zu überprüfen, wie Human Rights Watch kritisiert. 40) Human Rights Watch: Ethiopia Cracks Down Following Popular Singer’s Killing; Artikel vom 01.07.2020 41) New York Times: Turmoil at Funeral of Singer Shows Ethiopia’s ‘Combustible’ Politics; Artikel vom 02.07.2020 42) The New York Times: Hachalu Hundessa, Ethiopian Singer and Activist, Is Shot Dead; Artikel vom 30.06.2020 43) DW: Äthiopien: Mord an Sänger Hachalu reißt tiefe Wunden; Artikel vom 02.07.2020
Es bleibt zu hoffen, dass die geplanten Reformen zur Demokratisierung Äthiopiens erfolgreich voranschreiten können und nicht durch die aktuellen Ereignisse zunichte gemacht werden. Trotz einiger Verbesserungen bleibt die Menschenrechtslage in Äthiopien bisher dürftig. Deutschland als Partnerstaat, der Entwicklungshilfe direkt an die äthiopische Regierung leistet, sollte sicherstellen, dass diese die Bedingungen der Verträge einhält und den Schutz der Menschenrechte auch in der Praxis gewährleistet. Misstrauen, ob die Transformation von einem repressiven autokratischen Regime hin zu einer Demokratie gelingen kann, bleibt. Denn es ist nicht der erste Versuch. Schon in den 1990er Jahren hatte es erste Schritte in Richtung einer vorsichtigen Liberalisierung gegeben. Doch nur wenige Jahre später wurde ein gegenteiliger Weg eingeschlagen, der noch repressiver war als zuvor. 44) Tagesschau: Äthiopiens neue Pressefreiheit; Artikel nicht mehr verfügbar 45) DW: Äthiopien: Wahlen verschoben, Krise imminent; Artikel vom 15.06.2020 46) BBC: Hachalu Hundessa: Ethiopia singer’s death unrest killed 166; Artikel vom 05.07.2020
Fußnoten und Quellen:
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