Rund 3 Millionen Hongkonger könnten nach Großbritannien fliehen
Was vor knapp dreieinhalb Wochen noch eine freie Stadt war, erinnert heute nur noch wenig an das alte Hongkong. Bereits jetzt ist die einst so offene, kritische und von Freigeist geprägte Sonderverwaltungszone kaum noch wiederzuerkennen. Angst und Unsicherheit haben auf Hongkongs Straßen Einzug gehalten. Die Post-Its mit pro-demokratischen Sprüchen, die zuvor großflächig die Wände der Läden, Cafes und Restaurants bedeckt haben, sind verschwunden. Selbstzensur findet auf allen Ebenen statt. Social media Einträge und Chatverläufe werden gelöscht, Journalisten tilgen ihre Namen von Artikeln aus digitalen Archiven. Bücher wurden aus den Bibliotheken entfernt. Die Proteste und Demonstrationen, an denen im vergangenen Jahr große Menschenmassen teilgenommen haben, sind weitgehend verstummt. Die Auswirkungen des neuen Sicherheitsgesetzes sind schon jetzt spürbar. 1) Time: It’s So Much Worse Than Anyone Expected; Why Hong Kong’s National Security Law Is Having Such a Chilling Effect; Artikel vom 23.07.2020 2) Die Zeit: Es war einmal eine freie Stadt; Artikel vom 24.07.2020 3) Tagesschau: Wie das Sicherheitsgesetz Hongkong verändert; Artikel nicht mehr verfügbar
Statt Recht regiert jetzt die Angst
Das neue Sicherheitsgesetz, welches am 30.06.2020 in Kraft getreten ist, gilt als der tiefste Einschnitt in die Autonomie Hongkongs. Mit diesem erhält die chinesische Regierung deutlich mehr Einfluss, um sowohl die Meinungs- als auch die Versammlungs- und Pressefreiheit zu unterdrücken und sogar strafrechtlich zu verfolgen. Sie hat sozusagen eine Art Parallel-Justizsystem in Hongkong etabliert. Gefährlich sind dabei insbesondere die sehr vage ausformulierten Bestimmungen des Gesetzes. Grundsätzlich kann damit alles als Gefährdung der Nationalen Sicherheit erklärt werden, was von den chinesischen Behörden als Subversion, Abspaltung, Terrorismus oder heimliche Absprache bzw. Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften interpretiert wird. Für die genannten Vergehen ist unter anderem eine lebenslange Haft als Höchststrafe und eine Auslieferung Beschuldigter auf das chinesische Festland vorgesehen. Zudem ist das Gesetz auf jeden Menschen weltweit anwendbar, unabhängig von Aufenthaltsort und Nationalität. Nun fürchtet die demokratische Opposition, dass das Gesetz vor allem auf sie abzielt. Dass das Gesetz zu politisch motivierter Strafverfolgung mit hohen Strafen herangezogen wird, ist sehr wahrscheinlich. Bereits jetzt sind einige Fälle bekannt, in denen Bürger mithilfe des neuen Sicherheitsgesetzes angeklagt wurden: wegen des Besitzes von Fahnen, Bannern und T-Shirts mit politischen Slogans wie „Independent Hongkong“. Die neuen Befugnisse der chinesischen Zentralregierung reichen bis in die Kontrolle und Verwaltung von Schulen, sozialen Organisationen, den Medien und dem Internet in Hongkong. Den Strafbehörden ist es ab sofort erlaubt, ohne richterlichen Beschluss Online-Inhalte aus dem Netz zu sammeln und darin enthaltene persönliche Userdaten zu erhalten. Darüber hinaus können die Behörden nun ohne richterlichen Beschluss auch Durchsuchungen vornehmen, die Reisefreiheit beschränken, Vermögenswerte einfrieren oder beschlagnahmen und Online-Inhalte zensieren. Informationen von Organisationen und Einzelpersonen können eingefordert werden, auch wenn eben diese Informationen sie belasten könnten. Die Behörden unterstehen keiner Kontrolle, ihr Handeln wird weder von lokalen Gerichten geprüft, noch unterliegt es lokalen Gesetzen. Das neue Gesetz hat Hongkong bereits spürbar verändert. Viele Menschen denken darüber nach, ihre Heimat zu verlassen. Einige Journalisten haben dies bereits getan. 4) Amnesty International: 10 Dinge, die du über Hongkongs neues „Sicherheitsgesetz“ wissen solltest; Artikel vom 22.07.2020 5) Tagesschau: Maas will auf „Sicherheitsgesetz“ reagieren; Artikel nicht mehr verfügbar 6) Time: It’s So Much Worse Than Anyone Expected; Why Hong Kong’s National Security Law Is Having Such a Chilling Effect; Artikel vom 23.07.2020 7) Tagesschau: Letzter Ausweg Großbritannien; Artikel nicht mehr verfügbar 8) Tagesschau: Wie das Sicherheitsgesetz Hongkong verändert; Artikel nicht mehr verfügbar 9) Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Briefing Notes Gruppe 62; Informationszentrum Asyl und Migration; Pressemitteilung vom 06.07.2020
Vertragsbruch auf völkerrechtlicher Ebene
Mittlerweile sind Fragen rund um das neue Sicherheitsgesetz auch auf völkerrechtlicher Ebene angekommen, da es eindeutig die Autonomie Hongkongs verletzt. In den 1980ern rückte der Zeitpunkt, an dem der Pachtvertrag für Hongkong zwischen Großbritannien und China nach 99 Jahren auslaufen würde, immer näher. Um die Rückgabe Hongkongs an China im Jahr 1997 umfassend zu regeln, wurde 1984 ein Rückgabevertrag zwischen der britischen und chinesischen Regierung ausgehandelt. In diesem wurde festgelegt, dass Hongkong noch weitere 50 Jahre nach der Rückgabe, demnach bis 2047, seine bisherige Autonomie als Sonderverwaltungszone behalten werde. Gemäß dem Prinzip „Ein Land zwei Systeme“ sollte Hongkong weiterhin ein liberales, demokratisches und marktwirtschaftliches System mit eigenem Wirtschafts- und Rechtssystem, eigenen Gesetzen, bürgerlichen Freiheiten und eigener Währung bleiben. Die Zentralregierung Chinas sollte nach den Bestimmungen des Vertrags nur für die Außenpolitik sowie die Landesverteidigung zuständig sein. Damit genossen die Bewohner Hongkongs unter anderem Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Undenkbar im restlichen autoritären und sozialistischen China. Hongkong ist also zu Festlandchina nicht nur durch eine sichtbare und kontrollierte Grenze, sondern auch durch seine Rechte und Freiheiten abgetrennt. Die beiden Systeme könnten nicht unterschiedlicher sein. Der Vertrag, die sogenannte Chinesisch-britische gemeinsame Erklärung oder Sino-British Joint Declaration, wurde von den Regierungen beider Vertragsstaaten unterzeichnet, ratifiziert und bei den Vereinten Nationen hinterlegt, zu deren Mitgliedstaaten ebenfalls beide Parteien gehören. Das Sicherheitsgesetz höhlt die Autonomie Hongkongs klar aus und stellt somit einen Vertragsbruch auf völkerrechtlicher Ebene dar. Es ist der Versuch Chinas, den eigenen Einfluss und die Kontrolle auf Hongkong auszuweiten. Das Gesetz, welches vom Volkskongress Peking erlassen wurde, umgeht dabei auch das eigene Parlament Hongkongs. Zwar streitet die chinesische Staatsregierung ab, mit dem neuen Sicherheitsgesetz einen völkerrechtlichen Vertragsbruch begangen zu haben. Doch die Lage ist eindeutig. Nach Argumenten Chinas ist die Wirkung der Joint Declaration nicht länger gültig, da ihr einziger Zweck darin bestand, zu regeln, wie China die Souveränität über Hongkong wiedererlangt. Und nachdem eine Rückgabe an China erfolgt ist, sei der Kern des Vertrags erfüllt. Demnach würde laut China nur noch das Hongkonger Grundgesetz von 1997 als einziges juristisches Dokument den Autonomiestatus Hongkongs regeln. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Aus völkerrechtlicher Sicht und nach UN-Recht ist es völlig klar, dass bilaterale Verträge für die gesamte Laufzeit Geltung haben. Die Tatsache, dass der Vertrag bei den Vereinten Nationen hinterlegt worden ist, bekräftigt nur, dass es sich weiterhin um einen völkerrechtlich bindenden Vertrag handelt. 10) Time: It’s So Much Worse Than Anyone Expected; Why Hong Kong’s National Security Law Is Having Such a Chilling Effect; Artikel vom 23.07.2020 11) Hong Kong Watch: The Sino-British Joint Declaration; nicht mehr verfügbar 12) Tagesschau: Die Frage der „inneren Angelegenheiten“; Artikel nicht mmehr verfügbar 13) Auswärtiges Amt: „Ein Land, zwei Systeme“ ; Historischer Kompromiss und Formel für Hongkongs Zukunft; Artikel vom 29.05.2020 14) Tagesschau: Hongkong im Dilemma der Systeme; Artikel nicht mehr verfügbar 15) ntv: EU lässt London im Stich „In Hongkong gab es nie eine Demokratie“; Artikel vom 22.07.2020 16) Tagesschau: Johnson bietet leichtere Einwanderung an; Artikel nicht mehr verfügbar 17) Tagesschau: Letzter Ausweg Großbritannien; Artikel nicht mehr verfügbar
Internationale Reaktion: Großbritannien als Zufluchtsort
Schon im Juni hatte die britische Regierung empört auf das Vorhaben Chinas reagiert, das umstrittene Sicherheitsgesetz zu verabschieden. Der Premierminister Boris Johnson stellte einem großen Teil der Bevölkerung Hongkongs eine erleichterte Einbürgerung in Großbritannien in Aussicht. In einer Pressemitteilung vom 01.07.2020 kündigte die britische Regierung an, die bisher geltenden Einreisebestimmungen für Inhaber des Passes für britische Bürger im Ausland (BNO) und deren Familienangehörige zu lockern. Künftig soll diesen ein auf 5 Jahre befristeter Aufenthalt, statt der bisher geltenden 6 Monate, ermöglicht werden, mit der Möglichkeit im Vereinten Königreich zu leben und zu arbeiten. Nach diesen fünf Jahren können sie einen Antrag auf einen Niederlassungsstatus stellen und nach weiteren 12 Monaten mit diesem Status die britische Staatsbürgerschaft beantragen. Die genauen Bestimmungen werden wohl in den nächsten Monaten bekannt gegeben. In der Zwischenzeit steht den Inhabern der BNO-Passes der Standard-Einwanderungsweg nach Großbritannien offen. Heute besitzen rund 350.000 Hongkonger einen Pass für britische Bürger im Ausland (BNO). Weitere 2,5 Millionen Hongkonger haben darüber hinaus einen Anspruch auf diesen Pass und könnten ihn beantragen. Der chinesische Regierungssprecher Zhao Lijian protestierte immer wieder scharf gegen die Pläne Großbritanniens. Er ernannte sie zum einen eine Verletzung des Völkerrechts als auch eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen. 18) CNN: Boris Johnson promises UK will provide Hong Kongers path to citizenship after national security fears; Artikel vom 04.06.2020 19) Government of the United Kingdom: National security legislation in Hong Kong; Foreign Secretary’s statement in Parliament; Beitrag vom 01.07.2020 20) Government of the United Kingdom: UK to extend residence rights for British Nationals (Overseas) citizens in Hong Kong; Pressemitteilung vom 01.07.2020 21) Tagesschau: Johnson bietet leichtere Einwanderung an; Artikel nicht mehr verfügbar 22) Time: It’s So Much Worse Than Anyone Expected; Why Hong Kong’s National Security Law Is Having Such a Chilling Effect; Artikel vom 23.07.2020
Neben Großbritannien bieten auch Australien und Taiwan Möglichkeiten zur Flucht aus Hongkong, jedoch können sich viele der knapp 7,4 Millionen Einwohner Hongkongs eine solche Strategie nicht leisten. Während andere Länder zeitnah reagiert haben, zögerte die Bundesregierung eine Stellungnahme hinaus. Als wichtigster Handelspartner der Bundesrepublik hat China eine große wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland, besonders während der Pandemie. Sowohl die USA als auch Kanada, Australien und Großbritannien haben ihre Auslieferungsabkommen mit Hongkong bereits seit mehr als einer Woche ausgesetzt. Am 17.07.2020 äußerte sich auch die Bundesregierung nach langem Schweigen erstmals zum Inkrafttreten des umstrittenen Sicherheitsgesetzes. Nach einer Videokonferenz mit Chinas Außenminister Wang Yi am Freitag, den 24.07.2020, drohte nun auch Außenminister Maas mit Konsequenzen für die Beziehungen der Bundesrepublik zu China und Hongkong, sollte das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ durch das neue Sicherheitsgesetz untergraben werden. Maas stellte dabei in Aussicht, dass Deutschland notfalls auch unabhängig von der EU auf das Sicherheitsgesetz reagieren würde. Dabei seien unter anderem Maßnahmen geplant, welche die Vereinfachung der Einreise für Hongkong-Chinesen, einen Exportstopp für bestimmte Rüstungsgüter, Stipendienprogramme für bedrohte Wissenschaftler, Künstler oder Journalisten sowie ein Ende des Auslieferungsabkommens mit Hongkong miteinschließen. Diese Vorschläge wurden in einer deutsch-französischen Kooperation auch in Brüssel vorgebracht, wo momentan an einem koordinierten EU-weiten Vorgehen gearbeitet wird. 23) Tagesschau: Großbritannien setzt Auslieferungen aus; Artikel nicht mehr verfügbar 24) Die Bundesregierung: Regierungspressekonferenz vom 17. Juli 2020; zuletzt aufgerufen am 28.07.2020 25) Tagesschau: „Bundesregierung sendet Schweigen“; Artikel nicht mehr verfügbar 26) Tagesschau: Maas will auf „Sicherheitsgesetz“ reagieren; Artikel nicht mehr verfügbar 27) Auswärtiges Amt: Im Dialog mit China; Beitrag vom 24.07.2020 28) Die Zeit: Maas droht China wegen Sicherheitsgesetz mit Konsequenzen; Artikel vom 24.07.2020 29) Reuters: Maas für kritischen, aber engen Dialog mit Peking; Artikel vom 24.07.2020
Fußnoten und Quellen:
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