![Venezolaner warten samt ihrem gesamten Hab und Gut auf der Simón-Bolívar-Brücke auf die Einreise nach Kolumbien. | Bild: "Visita a Cúcuta - Frontera Colombia/Venezuela" © Comisión Interamericana de Derechos Humanos [CC BY 2.0] - flickr Venezolaner warten samt ihrem gesamten Hab und Gut auf der Simón-Bolívar-Brücke auf die Einreise nach Kolumbien. | Bild: "Visita a Cúcuta - Frontera Colombia/Venezuela" © Comisión Interamericana de Derechos Humanos [CC BY 2.0] - flickr](https://www.fluchtgrund.de/files/2020/07/49535294136_683ee0baae_cXX1X-713x476.jpg)
Venezolaner warten samt ihrem gesamten Hab und Gut auf der Simón-Bolívar-Brücke auf die Einreise nach Kolumbien. | Bild: "Visita a Cúcuta - Frontera Colombia/Venezuela" © Comisión Interamericana de Derechos Humanos [CC BY 2.0] - flickr
Ausmaß venezolanischer Flüchtlingskrise bringt Kolumbien an seine Grenzen
Eines der ersten Dinge, die Venezolanerinnen vernehmen, wenn sie über die internationale Simón-Bolívar-Brücke nach Cúcuta, einer kleinen kolumbianischen Grenzstadt, gelangen, sind die Rufe der kolumbianischen Männer: „Compramos cabello!“, was so viel bedeutet wie „Wir kaufen Ihr Haar.“ Hier bezahlen die Perückenmacher den venezolanischen Frauen etwas mehr als 10 Dollar für ihre Haare. Dieser Betrag liegt weit unter dem marktüblichen Preis in Kolumbien. Dennoch nehmen die meisten Venezolanerinnen das Angebot an, da sie auf jeden Groschen angewiesen sind. Diese Frauen sind Bestandteil eines schier unendlichen Stroms von täglich rund 20.000 Venezolanern, die seit dem Jahr 2015, die Grenzübergangsbrücke nach Kolumbien auf der Suche nach einer besseren Zukunft, überschreiten.
Man muss lediglich ein Jahrzehnt in die Vergangenheit zurückgehen, als der Flüchtlingsstrom genau in die entgegengesetzte Richtung verlief. In Kolumbien wütete seit 1964 ein verheerender Bürgerkrieg. Das Resultat: Schätzungsweise 5 Millionen oder einer von 10 Kolumbianern wurden durch die enorme Gewalt des Bürgerkrieges aus ihrer Heimat vertrieben. Der Konflikt wurde von den „Revolutionary Armed Forces of Colombia“ (FARC) und ihrer revolutionären Bruderorganisation, der „National Liberation Army“ (ELN), und den seit 1964 aufeinander folgenden Landesregierungen ausgetragen. Die kolumbianischen Flüchtlinge waren durch die relative Stabilität, den Frieden und die Prosperität Venezuelas angezogen worden. Ein Wohlstand, der auf einer einst boomenden Ölwirtschaft beruhte. Doch heute steht Venezuela am Rande des Abgrunds, und seine Bevölkerung flieht vor der katastrophalen Wirtschaftskrise, die das Land seit Jahren fest in ihren Fängen hält. 1)WLRN News: Escape From Venezuela: Do Colombians Forget They Were Once The Refugees?; Stand heute, 17.07.2020 2)WLRN News: Escape From Venezuela: Refugees Banging On Doors For Food – And World’s Attention; Stand heute, 17.07.2020 3)U.S. News: Colombians who fled violence stunned by Venezuela’s anti-immigrant crackdown; Stand heute, 17.07.2020 4)The Guardian: Colombia’s internally displaced people caught in corridor of instability; Stand heute, 17.07.2020
Venezuela vom Wohlstand in den Ruin

Proteste gegen die Maduro-Regierung gehören in Venezuela mittlerweile zum Alltag. | Bild: © Diario critico de Venezuela [CC BY 2.0] – flickr
Unabhängige Experten sind sich jedoch einig: Weltweit sinkenden Ölpreise und ein epochales politisches Missmanagement zwangen das Land in die Knie. Die venezolanische Währung Bolivar geriet in den freien Fall und führte dazu, dass Millionen Venezolaner nicht einmal mehr in der Lage waren, sich das Lebensnotwendigste zu leisten. Laut Bloombergs „Cafe con leche Index“ kostet eine Tasse Kaffee heute genauso viel wie 1.800 Tassen im Januar 2018. Sowohl Nahrungsmittel als auch die medizinische Versorgung sind immer schwerer zu erhalten, da die Bestände schrumpfen und die Dienstleistungskosten in astronomische Höhen geschossen sind. Die Regale in den Supermärkten sind oft leer und Venezolanern suchen in ihrer Verzweiflung in Mülltonnen nach weggeworfenen Lebensmitteln. Patienten, die operiert werden müssen, sind gezwungen selbst für ihre medizinische Versorgung aufzukommen, sogar für die Gummihandschuhe, die der Chirurg benutzt, müssen Sie zahlen. Um die enormen Dimensionen dieses wirtschaftlichen Zusammenbruchs zu verdeutlichen, sollte der folgende Vergleich hilfreich sein: Der wirtschaftliche Zusammenbruch Venezuelas verläuft noch gravierender als die Kombination aus der „Großen Depression“ der 1930er Jahre und dem Kollaps der ehemaligen Sowjetunion.
Hunderttausende Familien stehen vor einer verzweifelten Entscheidung: Entweder sie verbleiben im eigenen Land und leiden unter extremem Hunger oder sie verlassen ihre Heimat auf der Suche nach einem Ausweg. Nach Angaben der Vereinten Nationen, sind mehr als 4 Millionen Venezolaner bereits geflohen. Etwa die Hälfte von Ihnen flüchtete nach Kolumbien. Ihre Auswanderung hat den Zusammenbruch der Sozialdienste noch weiter beschleunigt und damit einen Teufelskreis erzeugt, der den Exodus zusätzlich weiter anheizt. 5)The New York Times: Venezuela’s collapse is the worst outside of war in decades, economists say; Stand heute, 17.07.2020 6)The Hill: Venezuela: making the Great Depression look like a mild recession; Stand heute, 17.07.2020 7)The International Rescue Committee: Why are Venezuelans leaving their country?; Stand heute, 17.07.2020 8)Reuters: Colombia gives 440,000 Venezuelan migrants permission to stay; Stand heute, 17.07.2020 9)The Guardian: Venezuelans return home as coronavirus piles more misery on migrants; Stand heute, 17.07.2020 10)The Guardian: ‚Living a daily tragedy‘: Venezuelans struggle to survive in Colombia; Stand heute, 17.07.2020
Kolumbiens Politik der offenen Tür
Konfrontiert mit der massiven Zahl venezolanischer Flüchtlinge unternahm Kolumbien etwas, das man in der heutigen Weltpolitik kaum sieht: Das Land öffnete seine Grenzen. Parallel dazu begannen Nachbarländer wie Ecuador, Peru, Chile und Brasilien rasch damit, ihre Pforten vor den fliehenden Venezolanern zu schließen. Ein vom ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos im Jahr 2018 unterzeichnetes Dekret gewährte mehr als 440.000 Migranten aus Venezuela die Erlaubnis, sich zwei Jahre lang im Land aufzuhalten, sowie Zugang zu allen Sozialdienstleistungen. In einer Erklärung kündigte Santos seinerzeit an: „Wir werden die Venezolaner weiterhin unterstützen, wie wir es bisher getan haben.“ Außerdem bezog er sich auf das Dekret als „einen internationalen Meilenstein in Migrationsfragen.“ Die kolumbianische Regierung begann diese Politik der „offenen Tür“ trotz der Tatsache, dass große Teile der eigenen Bevölkerung selbst dringend humanitäre Hilfe benötigen.
Doch nicht nur die kolumbianische Regierung, sondern auch weite Teile der Bevölkerung nahmen die venezolanischen Flüchtlinge mit offenen Armen auf. Viele von ihnen stellten sogar ihre eigenen Häuser zur Verfügung, indem sie Flüchtlinge kostenlos in ihren eigenen vier Wänden beherbergten. Eine dieser großzügigen Kolumbianerinnen ist Angélica Lamos, deren geräumiges Haus in Cúcuta ein Dutzend venezolanische Familien beherbergt, die vor der katastrophalen Wirtschaftskrise geflohen sind. Lamos nennt ihr Haus „Humildad Extrema“ was man auf Deutsch als „Extreme Demut“ übersetzen kann – dieser Name erinnert sie immer daran, dass auch sie eine Schuld bezahlt: „Ich erinnere mich, dass Venezuela vor vielen Jahren seine Türen für mich und meine Familie geöffnet hat“, sagt Lamos. „Als wir nichts hatten.“ Sie war erst vor 15 Jahren nach Venezuela geflohen, vor den Auswirkungen des Bürgerkriegs, der damals in Kolumbien wütete. „Wir kannten niemanden“, erinnert sich Lamos. „Aber sie gaben uns Arbeit, ließen uns dort ein Leben aufbauen. Das ist es, was uns gerettet hat.“
Als Zehntausende verzweifelter Venezolaner jeden Tag nach Kolumbien zu fliehen begannen, kehrte auch Lamos in ihr Heimatland zurück. Jeden Tag kümmert sich Lamos um ihre Gäste – eine von ihnen ist Lilibel Rangel aus der Stadt Mérida in Venezuela und ihre Kinder. „Für uns“, sagt Rangel, „bedeutet Angélica den Unterschied zwischen dem Schlafen in einem Bett und dem Schlafen auf der Straße.“ Doch die Haltung der kolumbianischen Öffentlichkeit und ihrer Regierung, gegenüber den venezolanischen Flüchtlingen hat sich in jüngster Zeit stark gewandelt. 11)WLRN News: Escape From Venezuela: Do Colombians Forget They Were Once The Refugees?; Stand heute, 17.07.2020 12)Reuters: Colombia gives 440,000 Venezuelan migrants permission to stay; Stand heute, 17.07.2020 13)FP: Don’t Let Venezuela’s Crisis Take Down Colombia Too; Stand heute, 17.07.2020
Einst willkommen und heute nicht mehr erwünscht

Venezolanische Straßenhändler werden inzwischen immer häufiger aus Kolumbien deportiert. | Bild: © Banco Mundial América Latina y el Caribe [CC BY-NC-ND 2.0] – flickr
Nun werden auch häufig venezolanische Migranten abgeschoben. Der zwanzigjährige Victor Colmenares gehörte zu denen, die wegen illegaler Straßenverkäufe deportiert wurden. Er wurde abgeschoben, weil er keine Arbeitserlaubnis besaß. Vor zwei Jahren hatten kolumbianische Behörden den Venezolanern solche Dokumente ohne viele Fragen zu stellen ausgestellt. Außerdem existieren nicht genügend Arbeitsplätze, um die Flüchtlinge zu beschäftigen. „In Cúcuta gibt es nicht einmal Arbeit für die Einheimischen, geschweige denn für die Venezolaner. In den letzten Monaten hat die Kriminalität zugenommen und es gibt viele Venezolaner, die Zonen der Stadt eingenommen haben, um dort zu leben“, so Francisco, ein örtlicher Taxifahrer. Die wachsende einwandererfeindliche Stimmung in Kolumbien ist auch der Grund dafür, dass das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Jahr 2019 eine Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit gestartet hat: „Die Diskriminierung nimmt zu“, meint Jozef Merkx, der die kolumbianischen Operationen des Flüchtlingshilfswerkes leitet. „Viele Kolumbianer meinen, dass die Venezolaner kommen, um ihre Arbeit zu stehlen. Es existieren zahlreiche Vorurteile und wir müssen die Kolumbianer besser aufklären, aus welchen Gründen die Venezolaner in ihr Land strömen.“
Doch Kampagnen wie diese sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es wird erwartet, dass bis Ende 2020 die Zahl der venezolanischen Flüchtlinge die Zahl der syrischen Flüchtlinge übersteigen wird. Allerdings erhielten Sie im Vergleich zu ihren syrischen Pendants nur 1,5 Prozent der internationalen Hilfeleistungen. Kolumbien ist nicht mehr in der Lage, die enorme Zahl an Flüchtlingen zu bewältigen, das Land benötigt dringend zusätzliche, internationale humanitäre Hilfsleistungen und Finanzierungen.
Die Situation verschlechterte sich in diesem Jahr sogar noch zusätzlich, als die Regierungen Kolumbiens und Venezuelas unter der Bedrohung der COVID-19-Pandemie sich dazu entschlossen, ihre gemeinsame Grenze zu schließen. Obwohl venezolanische Flüchtlinge nun in geringerer Zahl nach Kolumbien fliehen können, führt dies keineswegs zu einer Auslastung der Kapazitäten in Kolumbien. Gegenwärtig ist die große Mehrheit der Venezolaner innerhalb Kolumbiens arbeitslos und kämpft ums Überleben, während Millionen Kolumbianer mit den gleichen harten Bedingungen konfrontiert sind. Dies scheint der perfekte Nährboden für zusätzlichen Hass darzustellen und könnte sich schnell zu einem Kampf zwischen den Ärmsten um die nur in begrenzten Mengen vorhandenen Ressourcen entwickeln. 14)WLRN News: Escape From Venezuela: Do Colombians Forget They Were Once The Refugees?; Stand heute, 17.07.2020 15)FP: Don’t Let Venezuela’s Crisis Take Down Colombia Too; Stand heute, 17.07.2020 16)International Crisis Group: Broken Ties, Frozen Borders: Colombia and Venezuela Face COVID-19; Stand heute, 17.07.2020 17)Translating Cuba: Thousands of Venezuelans Flee to Colombia to Escape From Hunger; Stand heute, 17.07.2020
Fußnoten und Quellen:
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