Indiens Lockdown schlägt Millionen Migrantenarbeiter in die Flucht
Mamta blickt auf ihre vier Kinder, die Augen voller Trauer und mit einem unaufhörlichen schonungslosen Gedanken in ihrem Kopf, der sie einfach nicht mehr loslässt: Was wäre, falls sie und ihre Kinder die Rückreise in ihr Dorf nicht schaffen würden? Was wäre, wenn ihre Kinder, darunter auch ihr achtjähriger körperlich behinderter Sohn Sumit, auf dem langen Weg sterben würden? Seit Tagen befinden sie sich auf der Flucht in Richtung ihres eigenen Heimatdorfes. Was zunächst verwunderlich klingt, besitzt eine tragische Entstehungsgeschichte und ist für Millionen von Indiens Wanderarbeitern plötzlich von heute auf morgen die bittere Realität geworden. Es handelt sich um eine Flucht aus den Großstädten, weg von den Jobs, mit denen sie einst ihr tägliches Brot verdienten, und zurück zu ihren ursprünglichen Heimatorten in den ländlichen Regionen des Subkontinents. 1)BBC: Coronavirus:India’s pandemic lockdown turns into a human tragedy; stand 16.06.2020 2)The Guardian: India racked by greatest exodus since partition due to coronavirus; stand 17.06.2020
Der Schuldige für diesen Exodus der Wanderarbeiter, die Indiens Industriemaschinerie über Jahrzehnte am Laufen gehalten haben, ist auf den ersten Blick schnell gefunden: Das Coronavirus, welches weltweit das Leben von Millionen von Menschen grundlegend verändert hat und nach der Entscheidung des indischen Premierministers Modi zu einem strengen Lockdown in Indien führte. Dadurch wurden alle Fabriken Indiens gezwungen, für einige Zeit vollständig zu schließen. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich jedoch die wahren Schuldigen für diese Massenflucht, welche bereits zum jetzigen Zeitpunkt als zweitgrößter Exodus in der Geschichte Indiens bezeichnet werden kann: Die Regierung, welche sich keine Gedanken über das Wohlergehen der Millionen von armen Bürgern seines Landes macht, und eine erbarmungslose Industrie, deren Führungskräfte die Arbeiter seit Jahrzehnten schonungslos ausbeuten. 3)ThePrint: India’s heartless capitalists deserve the labour shortages they are about to be hit with; stand 17.06.2020 4)Independent: Millions of Indian labourers forced to walk hundreds of miles home due to coronavirus lockdown; stand 18.06.2020 5)Stranded Workers Action Network: 32 Days and Counting: COVID-19 Lockdown, Migrant Workers, and the Inadequacy of Welfare Measures in India; aufgerufen am 18.06.2020 6)The Guardian: India racked by greatest exodus since partition due to coronavirus; stand 17.06.2020
Die Flucht als einziger Ausweg
Der Exodus folgte auf die Bekanntgabe Modis, eines 21-tägigen landesweiten Lockdowns (welcher später um einen weiteren Monat verlängert wurde), um die weitere Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Zwischen der Ankündigung des Lockdowns und seinem Inkrafttreten lagen lediglich vier Stunden. Dies führte zu Panik unter den zahlreichen Arbeitsmigranten in allen Großstädten Indiens, die innerhalb dieser kurzen Zeit verzweifelt nach Transportmitteln suchten, um zurück in ihre oft weitentfernten Heimatdörfer zu gelangen. Alle Transportmittel wie Züge, Busse und innerstaatliche Flüge, wurden beim Eintreten des Lockdowns vollständig stillgelegt. Den Millionen von Arbeitsmigranten, welche in dieser kurzen Zeit keinerlei Transportmittel finden konnten, blieb schließlich keine andere Wahl, als Hunderte von Kilometern auf Indiens Highways in Richtung Heimat zu laufen. 7)BBC: Coronavirus:India’s pandemic lockdown turns into a human tragedy; stand 16.06.2020 8)The Guardian: India racked by greatest exodus since partition due to coronavirus; stand 17.06.2020 9)Independent: Millions of Indian labourers forced to walk hundreds of miles home due to coronavirus lockdown; stand 18.06.2020Der Rückmarsch nach Hause war unumgänglich geworden, da die Arbeitsmigranten, während des Lockdowns schlichtweg nicht mehr von den Fabrikbesitzern bezahlt wurden. Bereits als sie noch Gehalt bezogen, erhielten sie enorm niedrige Löhne und besaßen daher nie Ersparnisse, die ihnen helfen würden, mehr als eine Woche lang entlohnt auszukommen. Ohne Bezahlung sind sie nicht in der Lage ihre Unterkunft und Verpflegung aus eigener Kraft zu finanzieren. Hilfe von ihren Arbeitgebern oder vom Staat erwarteten sie vergeblich. Laut einer Umfrage des „Stranded Workers Action Network“, einer Freiwilligengruppe, die das Netzwerk in diesem Jahr ins Leben gerufen hat, um das Bewusstsein für die unmenschliche Behandlung der Migrantenarbeiter Indiens während der COVID-19-Krise zu schärfen, wurde festgestellt, dass 80 Prozent der Arbeitsmigranten während des Lockdowns keinerlei Bezahlung erhalten haben. 10)ThePrint: India’s heartless capitalists deserve the labour shortages they are about to be hit with; stand 17.06.2020 11)Stranded Workers Action Network: 32 Days and Counting: COVID-19 Lockdown, Migrant Workers, and the Inadequacy of Welfare Measures in India; aufgerufen am 18.06.2020
Der größte Exodus seit der Teilung Pakistans
Viele der Arbeitsmigranten, die sich auf den langen und entbehrungsreichen Marsch begaben, wurden von der Polizei schikaniert und in zahlreichen Fällen geschlagen. Viele Polizeibeamte rechtfertigten diese inhumanen Behandlungsweisen unverblümt als fair, da die nach Hause fliehenden Wanderarbeiter sich auf den Highways bewegten, anstatt, wie von der Regierung gefordert, zu Hause zu bleiben. Das Versäumnis der indischen Regierung, Arbeitsmigranten Hilfe zu leisten, steht in scharfem Kontrast zu ihrer Behandlung von Bürgern, die aufgrund der Pandemie im Ausland gestrandet sind. Für letztere organisierte die indische Regierung Sonderflüge, um sie aus aller Welt sicher nach Hause zu bringen. Eine Vorgehensweise, von der Millionen von Wanderarbeitnehmern in Indien nur träumen können. 12)Stranded Workers Action Network: 32 Days and Counting: COVID-19 Lockdown, Migrant Workers, and the Inadequacy of Welfare Measures in India; aufgerufen am 18.06.2020 13)BBC: Coronavirus:India’s pandemic lockdown turns into a human tragedy; stand 16.06.2020 14)Independent: Millions of Indian labourers forced to walk hundreds of miles home due to coronavirus lockdown; stand 18.06.2020
Das letzte Mal, als so viele Menschen innerhalb Indiens diese langen Strecken zu Fuß zurücklegten, war 1947, während der blutigen Teilung des indischen Subkontinents. Als Indien unabhängig wurde und Pakistan sich abspaltete, flohen Millionen von Menschen auf die andere Seite der neu gezogenen Grenzen, aber selbst in diesen dramatischen Jahren bestand ein aktiver Zugbetrieb. 15)Independent: Millions of Indian labourers forced to walk hundreds of miles home due to coronavirus lockdown; stand 18.06.2020
Westliche Retailer und Modemarken sind maßgeblich für die schreckliche Notlage von Tausenden von Arbeitsmigranten verantwortlich, die in den zahlreichen Textilfabriken Indiens vor dem Ausbruch von COVID-19 arbeiteten. Als die Coronavirus-Pandemie Europa und die USA befiel und die Nachfrage nach Textilprodukten sank, reagierten große Modehersteller und Einzelhändler wie gewohnt: Sie verschoben das Risiko in der Lieferkette einfach weiter nach hinten. „Sie taten dies, indem sie alle vor der Krise erteilten Aufträge – von denen einige bereits versandfertig waren – stornierten“, erklärt Dr. K. Selvaraju, Generalsekretär der „Southern India Mills Association“, welche für die gesamte textile Produktionskette Südindiens zuständig ist. Das Resultat war, dass viele der kleineren indischen Textilfabriken, welche die Material- und Arbeitskosten im Voraus aufbringen mussten, plötzlich kein Geld mehr zur Bezahlung ihrer Migrantenarbeiter zur Verfügung hatten. Infolgedessen erhielten laut einer Umfrage der Frauenrechtsorganisation „Garments Mahila Karmikara Munnade“ 63 Prozent der indischen Arbeiterninnen und Arbeiter der Bekleidungsfabriken, keinen einzigen Cent ihres Lohnes für den Monat April. 16)The New Indian Express: For them, hunger a bigger worry than Covid; stand 18.06.2020
Es ist nicht das erste Mal, dass große westliche Modemarken im Mittelpunkt von Anschuldigungen bezüglich der Verletzung von Arbeitsrechten in ihren indischen Textilfabriken stehen. Bereits 2012 waren schwerwiegende Vorwürfe gegen Modegiganten wie H&M, Gap und Next erhoben worden, denen eine erschütternde Mischung aus Hungergeldern und körperlicher und verbaler Misshandlung von Arbeitern vorgeworfen wurde. Es wurde oft behauptet, dass sich die Arbeitssituation in den indischen Fabriken verändert habe und dass Schutzgesetze für die Tausenden von Arbeitnehmern eingeführt worden seien. Die Corona-Krise zeigt jedoch einmal mehr klar und deutlich, dass sich große Teile der westlichen Modeunternehmen nicht um die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren indischen Fabriken sorgen. Viele der Arbeitsmigranten sind ohne Lohn dazu genötigt, zu Fuß in ihre Tausende von Kilometern entfernten Heimatdörfer zurückzukehren, um dem Hungertod zu entgehen. 17)The New Indian Express: For them, hunger a bigger worry than Covid; stand 18.06.2020 18)The Guardian: India’s clothing workers: ‚They slap us and call us dogs and donkeys‘; stand 17.06.2020
Mamta und ihre Kinder erreichten nach 5 Tagen und über 200 Kilometern Fußmarsch endlich ihr Heimatdorf. Während ihres Marsches hatten sie nichts zu essen, außer einem Dutzend Puri, gebratenes indisches Brot, das sie mit Mehlresten zubereitet hatte, bevor sie aufbrachen. Die Kinder trugen die Schuhe durch, und ihre Beine schwollen an, so dass sie oft vor Schmerz in Tränen ausbrachen. Die Familie lief durch die Nacht und hielt nur für kurze einstündige Pausen an. Nach dieser Odyssee in ihrem Heimatdorf anzukommen, erscheint wie ein Happy End, aber dem ist nicht so, das Leiden ihrer Familie ist noch nicht beendet. So berichtet Mamta: „Obwohl wir im Dorf angekommen sind, haben wir kein Geld für Lebensmittel. Ich weiß nicht, wie wir überleben sollen. Der Hunger wird uns töten, bevor es das Coronavirus tut.“ 19)The Guardian: India racked by greatest exodus since partition due to coronavirus; stand 17.06.2020
Fußnoten und Quellen:
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