Haiti und die Dominikanische Republik: Eine Insel, zwei Welten – Teil 1
Die vom Karibischen Meer umspülte Insel Hispaniola umfasst zwei unabhängige Staaten, namentlich Haiti und die Dominikanische Republik. Abgesehen von der Tatsache, dass beide Länder sich dieselbe Insel teilen, könnten die Lebensbedingungen der Bürger Haitis und der Bevölkerung der Dominikanischen Republik wohl kaum unterschiedlicher sein. Ein in der Dominikanischen Republik geborenes Kind stirbt mit 62 Prozent geringerer Wahrscheinlichkeit im Säuglingsalter als ein in Haiti zur Welt gekommenes Kind. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Dominikaner ist 14,1 Jahre höher, ihr Pro-Kopf-Einkommen 9,4-mal höher und ihre Arbeitslosenquote 35 Prozent niedriger, als die in ihrem Nachbarstaat Haiti und seiner bettelarmen Bevölkerung. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass eine einzelne Insel zwei Länder beheimatet, welche sich in ihrer Entwicklungsstufe so grundlegend voneinander abgrenzen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss man auf die Kolonialgeschichte der Insel zurückblicken. 1)My Life Elsewhere: Haiti compared to Dominican Republic; Stand heute, 24.06.2020 2)Visiting the Dominican Republic: La Hispaniola; Stand heute, 24.06.2020 3)The Guardian: The Dominican Republic and Haiti: one island riven by an unresolved past; Stand heute, 24.06.2020
„Haben sie nicht Männer und Frauen in mit Stacheln gespickte Fässer gesteckt und sie die Berghänge hinunter in den Abgrund gerollt?“
Christopher Kolumbus entdeckte die Insel, die er La Isla Española (Auf Deutsch die Spanische Insel oder Hispaniola) taufte, beanspruchte sie für die spanische Krone und gründete dort die erste europäische Siedlung im karibischen Raum. Das einheimische Volk der Taino wurde innerhalb der kurzen Zeit von 25 Jahren durch Krankheiten wie Windpocken oder Masern, welche durch die europäischen Kolonisatoren eingeschleppt worden waren, nahezu vollständig ausgelöscht.
Als das spanische Interesse an der Insel mit der Entdeckung von Gold und Silber andernorts in Lateinamerika nachließ, zogen die ursprünglichen Besatzer nach Osten und ließen den westlichen Teil von Hispaniola für französische Freibeuter frei. Die Französische Westindische Kompanie übernahm allmählich die Kontrolle über die Kolonie, und bereits 1665 hatte Frankreich sie formell als Saint-Domingue beansprucht. Durch einen Vertrag mit Spanien 30 Jahre später trat Madrid das westliche Drittel der Insel, welches heute das Territorium von Haiti bildet, an Paris ab. Der Rest der Insel, der heute zum Territorium der Dominikanischen Republik gehört, verblieb weiterhin unter dem Namen Santo Domingo fest in Spanischer Hand. 4)Council on Foreign Relations: Haiti’s Troubled Path to Development; Stand heute, 24.06.2020 5)The Guardian: Haiti: a long descent to hell; Stand heute, 24.06.2020 6)The Guardian: The Dominican Republic and Haiti: one island riven by an unresolved past; Stand heute, 24.06.2020
Aus wirtschaftlicher Sicht stellte die französische Okkupation einen überwältigenden Erfolg dar. Haiti galt als die Perle der Antillen und gehörte zu einer der reichsten Inseln des französischen Imperiums. In den 1780er Jahren exportierte Haiti 60 Prozent des gesamten Kaffees, der in Europa konsumiert wurde. Doch Haitis Reichtümer ließen sich nur durch die Einfuhr von jährlich bis zu 40.000 Sklaven ausbeuten. Im späten 18. Jahrhundert entfielen mehr als ein Drittel des gesamten transatlantischen Sklavenhandels auf Haiti.
Die Bedingungen für diese Männer und Frauen waren grauenvoll. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Sklaven auf Haiti betrug 21 Jahre. Ihre Misshandlung gehörte zur Tagesordnung, so schrieb ein ehemaliger Sklave in seinen Memoiren über die französischen Kolonialherren: „Haben sie nicht Männer kopfüber aufgehängt, in Säcken ertränkt, auf Brettern gekreuzigt, lebendig begraben, in Mörsern zerquetscht? Haben sie nicht Männer und Frauen in mit Stacheln gespickte Fässer gesteckt und sie die Berghänge hinunter in den Abgrund gerollt?“ 7)The Guardian: Haiti: a long descent to hell; Stand heute, 24.06.2020
Die Verhinderung jeglicher Entwicklung in der ersten postkolonialen schwarzen Republik
In den späten 1700er Jahren rebellierten ehemalige Sklaven gegen die französische Herrschaft und dieser Aufstand mündete schließlich im Jahr 1804 in die Gründung der ersten postkolonialen schwarzen Republik, welche den Namen Haiti erhielt. Haiti avancierte zu einem Symbol für Selbstbestimmung und Rassengleichheit. Doch die junge Republik wurde sofort an der Entwicklung gehindert. Als Gegenleistung für die diplomatische Anerkennung ihrer Unabhängigkeit von Frankreich zwang die damalige französische Regierung Haiti zu enormen Reparationsleistungen im Umfang von etwa 150 Millionen Francs. Dies war eine immense Summe und wesentlich mehr, als Haiti sich leisten konnte. Haiti zahlte von 1825 bis 1947 Reparationen an Frankreich.
Um an Geld zu kommen, nahm das Land enorme Kredite bei amerikanischen, deutschen und französischen Banken auf, zu exorbitanten Zinssätzen. Um 1900 gab Haiti etwa 80 Prozent seines Staatshaushalts für die Rückzahlung von Krediten aus. Dies zerstörte seine Wirtschaft vollständig. Als die ursprünglichen Reparationen und Zinsen zurückgezahlt waren, war das Land im Grunde mittellos und in einer Schuldenspirale gefangen. „Haiti richtete seine Wirtschaft auf die Rückzahlung der französischen Schulden aus und verpasste die Industrialisierung, das Bildungswesen und die Entwicklung seiner Regierung und seiner demokratischen Institutionen“, so erklärt Brian Concannon, Gründer des „Institute for Justice & Democracy“, wie Haiti daran gehindert wurde die Entwicklung des eigenen Landes voranzutreiben. 8)The Guardian: Haiti: a long descent to hell; Stand heute, 24.06.2020 9)Council on Foreign Relations: Haiti’s Troubled Path to Development; Stand heute, 24.06.2020
Des Weiteren sind koloniale Praktiken und nicht etwa nur die geographische Lage und schieres Pech verantwortlich daran, dass Haiti heutzutage kontinuierlich von Tragödien, wie dem Erdbeben 2010 welches schätzungsweise 230.000 Haitianer getötet haben soll, heimgesucht zu werden scheint. In Haiti haben die letzten fünf Jahrhunderte zusammen ein Volk hervorgebracht, das so arm ist und einen Staat, der so hoffnungslos ineffizient ist, dass, egal welche Naturkatastrophe als nächstes zuschlägt, ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung um ein Vielfaches verstärkt werden.
Ein Grund, warum Haiti mehr als sein Nachbar, die Dominikanische Republik, unter Naturkatastrophen leidet, ist die massive Abholzung des Landes, die unter der französischen Besatzung begann. So erklärt die britische Historikerin Von Tunzelman: „Die Franzosen haben das Land überhaupt nicht gut verwaltet… Der Prozess der Bodenerosion begann damals. Und in dem Chaos, das auf die Revolution folgte, wurde das Land einfach in kleine Grundstücke aufgeteilt, die hauptsächlich von einzelnen Familien besetzt waren. In den 1950er Jahren haben die Menschen es abgeholzt und auf Holzkohle gekocht. Als die Bevölkerung zunahm, nahmen die Wälder ab. Haiti ist heute zu etwa 98 Prozent entwaldet. Das Problem ist, es waren diese Wälder, diese Baumwurzeln, die den Boden zusammenhielten. Mit jedem neuen Sturm verschwindet also mehr Mutterboden und mehr Lehm.“ Somit wird Ackerland einfach in Schutt und Asche verwandelt und mögliche Erosionen stark begünstigt. Nähert man sich der Grenze Haitis zur Dominikanischen Republik, beginnt wieder das satte Grün des Waldes, die Spanischen Kolonialherren hatten die Dominikanische Republik diesem Rodungsprozess nicht ausgesetzt. Ein Erdbeben hat hier weniger Auswirkungen, weil die Konstruktionen stärker sind, die Bauvorschriften durchgesetzt werden und der Boden nicht so anfällig für Erosionen ist. 10)The Guardian: Haiti: a long descent to hell; Stand heute, 24.06.2020 11)Council on Foreign Relations: Haiti’s Troubled Path to Development; Stand heute, 24.06.2020 12)The Balance: Haiti Earthquake Facts, Its Damage, and Effects on the Economy; nicht mehr verfügbar
Der Rückblick auf die Kolonialgeschichte zeigt, wie die einst reichste Kolonie des amerikanischen Kontinents sich zum ärmsten Land der westlichen Hemisphäre verwandeln konnte. Die Dominikanische Republik hingegen entstand mit vergleichsweise wenig Entwicklungshürden. Ihr Territorium wurde von den Kolonialherren verhältnismäßig geringfügig ausgebeutet, und das Land musste nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1844 keinerlei Reparationszahlungen leisten. Dies erklärt die enormen Diskrepanzen in der heutigen Lebensqualität zwischen den beiden Ländern und wie es dazu kam, dass auf einer einzigen Insel zwei so völlig unterschiedliche Welten beheimatet sind. 13)The Guardian: Haiti: a long descent to hell; Stand heute, 24.06.2020 14)History: Dominican Republic declares independence as a sovereign state; Stand heute, 24.06.2020
Fußnoten und Quellen:
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