Syrien Konflikt – Drittstaaten verfolgen Eigeninteressen zu Lasten der Zivilbevölkerung
In einem kürzlich veröffentlichen Bericht erhebt Amnesty International schwere Vorwürfe gegen das syrische Militär unter Präsident Assad und Russland. Der Bericht „Nowhere is safe for us: Unlawful attacks and mass displacement in north-west Syria“ sammelt Zeugenaussagen und Beweise zu Angriffen, die bewusst auf Krankenhäuser und Schulen verübt wurden. Im Januar und Februar dieses Jahres gab es insgesamt 18 dieser illegalen Angriffe auf Gebiete im Nordwesten Syriens, die noch von der Opposition gehalten werden. Die Vertreter der Opposition fordern einen Regimewechsel und mehr demokratische Freiheiten für die Bürger. Deshalb werden sie von Präsident Assad bekämpft. Das syrische Militär wird von Russland durch Waffenlieferungen unterstützt. Amnesty International konnte nun erstmals belegen, dass russische Streitkräfte direkt Luftangriffe auf ein Krankenhaus ausgeführt haben. Außerdem liefert Russland der syrischen Armee Munition, unter anderem Raketen mit Streumunition, die nach dem Völkerrecht verboten sind. Auch diese menschenverachtende Waffe ist bereits gegen Zivilisten eingesetzt worden. In einem Angriff auf eine Schule sind durch Streubomben mehrere Schüler und Lehrer ums Leben gekommen. Eine Lehrerin berichtet von dem Moment, an dem die Bombe einschlug: „Der Schmerz war unerträglich […] Ich spürte eine solche Hitze, als würden meine Füße verbrennen. Zwei Schülerinnen waren in diesem Moment vor mir. Eine war sofort tot, die andere überlebte wie durch ein Wunder.“ Hierbei handelt es sich um ein klares Kriegsverbrechen gegen die eigene Bevölkerung. 1) epo: Gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen; Stand 11.05.2020
Auch andere, am Syrienkonflikt beteiligten Parteien, haben Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen. Um Raqqa, einen der letzten ISIS Rückzugsorte zu erobern, hat die von den USA geführte Militärkoalition die Stadt von Juni bis Oktober 2017 ohne Rücksicht auf Zivilisten in Trümmer gelegt. Rund 1600 Zivile Opfer gab es durch amerikanische, französische und britische Luftangriffe und Artilleriefeuer. Nach offiziellen Angaben des US-Militärs wurden 30.000 Artilleriegeschosse auf die Stadt abgefeuert. Das entspricht einem Einschlag alle sechs Minuten, durchgehend für vier Monate. Wenn man noch miteinbezieht, dass ein Geschoss bis zu 100 Meter vom eigentlichen Ziel abweichen kann, ist offensichtlich, dass in Raqqa Menschenleben für einen militärischen Erfolg geopfert wurden. Man kann sich das Leid der Menschen kaum vorstellen, vom IS in der Stadt gefangen gehalten und als Schutzschild missbraucht, wurden sie von denjenigen bombardiert, die eigentlich geschworen hatten, sie von der Tyrannei zu befreien. Ayat Mohammed Jasem, eine Mutter aus Raqqa, bringt es auf den Punkt: „I saw my son die, burnt in the rubble in front of me. Wasn’t the goal to free the civilians? They were supposed to save us, to save our children.”Bei diesen beiden Beispielen handelt es sich nicht um Einzelfälle. Dennoch versuchen sowohl Russland als auch die westliche Militärkoalition, den Schein einer weißen Weste zu bewahren. Die meisten der zivilen Opfer, der Offensive in Raqqa, werden bis heute abgestritten. Die Koalition hat bisher nur die Verantwortung für den Tod von 159 Zivilisten übernommen, das sind gerade mal 10 Prozent der von Amnesty International nachgewiesenen Fälle. 2) Amnesty International: Syria: Unprecedented investigation reveals US-led Coalition killed more than 1,600 civilians in Raqqa ‘death trap’; Stand 25.04.2019
Der andauernde Konflikt in Syrien ist eine Katastrophe für die Menschen im Land. Mittlerweile leben 85 Prozent der Syrer unter der Armutsgrenze. Es mussten bereits 5,6 Millionen Menschen aus dem Land fliehen, 6,1 Millionen weitere sind Binnenflüchtlinge. 3) Aktion Deutschland Hilft: Das Flüchtlingsdrama in Syrien; Stand 11.03.2020 Am schlimmsten ist die Situation momentan in Idlib. Seit Dezember letzten Jahres sind bereits mehr als 800.000 Menschen aus der Stadt und Umgebung geflüchtet. Der große Teil davon, 81 Prozent, sind Frauen und Kinder. 4) Heise: Idlib: Über 800.000 Flüchtlinge seit Dezember; Stand 14.02.2020 In den neun Jahren des Konflikts sind bereits 380.000 Menschen zu Tode gekommen, darunter 115.000 Zivilisten und davon 22.000 Kinder. Dabei werden Vermisste, die von verschiedenen Konfliktparteien verschleppt wurden, noch nicht mal berücksichtigt. 5) Spiegel: Mehr als 380.000 Tote im Syrienkonflikt seit 2011; Stand 05.01.2020 Es sieht nicht so aus, als ob der Syrienkonflikt bald zu einem Ende kommen könnte. Darum werden diese bestürzenden Zahlen auch in der Zukunft weiter wachsen.
Drittstaaten unterstützen die am Krieg beteiligten Parteien
Einer der Gründe, warum sich der Krieg so stark in die Länge zieht, ist die Beteiligung von Drittstaaten wie Russland, den USA oder europäischer Länder. Ihr direktes Eingreifen oder die Unterstützung von einzelnen Parteien durch Waffen und Geld verlängert den Konflikt. Russland steht auf der Seite des Assad-Regimes und unterstützt es durch Waffen, Militärberater und sein Veto im UN Sicherheitsrat. 6) Konrad Adenauer Stiftung: Syrien Der Krieg und die Folgen; Stand 12.2018 Die EU unterstützt die Opposition, in Form der gemäßigten Rebellen. Sanktionen für den Ölexport nach Europa wurden gelockert. Allerdings nur für den Teil des Landes, der von den Rebellen beherrscht wird, denn Assad soll nicht von den Lockerungen profitieren. 7) Tagesschau: EU lockert Ölembargo für Assad-Gegner; Stand 22.04.2013 Die Bundesregierung hat die Opposition außerdem direkt durch Finanzhilfen in Höhe von fast 49 Millionen Euro unterstützt. 8) Tagesspiegel: Bundesregierung hilft Idlib-Rebellen in Syrien; Stand 30.10.2018Der Konflikt in Syrien hat im Jahr 2011 begonnen, damals schwappte der Arabische Frühling auf das Land über und Studenten protestierten für mehr demokratische Freiheiten. Diese Proteste wurden von der Regierung brutal niedergeschlagen. Daraus ergab sich die Legitimierung für das westliche Eingreifen in Syrien, die Förderung von Demokratie. Dieses Narrativ ist allerdings zeitlich verdreht, die Intention Assad loszuwerden und eine demokratische Pro-westliche Regierung einzusetzen, gab es lange vor den Studentenprotesten, schon im Jahr 1991. Erst kam die Intention, dann die Gelegenheit. 9) MintPressNews: The West Created & Perpetuates The Syrian Civil War; nicht mehr verfügbar Wenn es nicht um Demokratie und die Menschen geht, aus welchem Grund betreiben dann die USA und Europa einen so großen Aufwand, um einen Machtwechsel in Syrien herbeizuführen? Und warum ist es für Russland so wichtig, die aktuellen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten?
Die Europäische Union will ihre Abhängigkeit von russischem Erdgas reduzieren
Eine mögliche Erklärung ist geopolitische Strategie, die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit Europas von der russischen Energieversorgung. Die europäischen Staaten haben nicht genug Öl- und Gasquellen, um den Eigenbedarf der Union zu decken, darum müssen sie Erdgas aus Russland importieren. 10) Welt: Europas Abhängigkeit von russischem Gas; Stand 29.01.2019 Die Kontrolle über Syrien würde es der EU ermöglichen, ihre Energiebezugsquellen zu diversifizieren. Syrisches Territorium böte die Möglichkeit des schnellen Abtransports des Erdöls vom Golf in Richtung der EU durch bereits bestehende Pipelinesysteme. Ein solches Projekt stände keinesfalls in Einklang mit russischen Interessen. Durch die syrischen Pipelines wird russisches Territorium umgangen und die EU zunehmend aus der logistischen Abhängigkeit von Russland herausgelöst. Außerdem ist der Regierung in Moskau der Regimewechsel in Libyen noch in Erinnerung. Dieser hat den Kreml etwa zehn Milliarden Dollar durch fehlende Aufträge über Waffenlieferungen und Bohrkonzessionen gekostet. Ein dritter Grund, warum es für Russland wichtig ist, den Status quo mit Assad als Machthaber zu erhalten, ist die russische Mittelmeer-Marinebasis bei Tartus in Syrien. Diese hat im Zusammenhang mit Erdölexporten eine wichtige Bedeutung. Tartus liegt in der Nähe der türkischen Stadt Ceyhan, der Ölverladestation der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, einem wichtigen Umschlagpunkt, von dem Öl nach Westeuropa verschifft wird. Dieser Hafen ermöglicht es Russland, im Bedarfsfall schnell Einfluss auf Teile der Energieversorgung der EU auszuüben. 11) bpb: Der Syrien-Konflikt: Internationale Akteure, Interessen, Konfliktlinien; Stand 14.02.2013
Syrien kommt nicht zur Ruhe, unter anderem, weil mächtige Staaten versuchen ihre Interessen durch Unterstützung der einzelnen Konfliktparteien durchzusetzen. Dabei sind die Menschen und das Leid, welches sie durch den andauernden Konflikt ertragen müssen, zweitrangig. Die USA, Europa und Russland müssen einen Weg finden, ihre Interessen auf einem anderen Weg durchzusetzen, ohne Menschen dafür leiden zu lassen. Es ist genauso falsch, einen Diktator zu unterstützen, der Kriegsverbrechen gegen sein eigenes Volk begeht, wie zu versuchen, mit Gewalt eine Demokratie zu errichten, wenn man durch die Erfahrung der letzten 60 Jahre weiß, dass es nicht funktioniert. Das Leben von Menschen darf nicht länger zum Spielball von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen werden.
Fußnoten und Quellen:
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