Wie eine terroristische Gruppe die ugandische Bevölkerung 25 Jahre lang tyrannisierte
7.000 Kilometer und 15 Jahre hat es gebraucht, um Nakout wieder mit ihren drei Kindern zu vereinen, wenn auch nur aus der Ferne und über das Telefon. Ihrer Tochter, die sie zuletzt als Baby gesehen hat, schreibt sie einen Brief. Sie schreibt ihr, sie fühle sich schuldig, sie sei eine schlechte Mutter gewesen. Aber sie verspreche, irgendwann sähen sie sich wieder. Bewegende Worte und Zeilen, wenn man weiß, durch welche Hölle Nakout die letzten Jahre gehen musste.
Uganda, eines Nachts im Oktober 2003. Nakout und ihre Familie wachen auf, als bewaffnete Männer ihre Haustüre eintreten. Sie gehören der Rebellengruppe Lord’s Resistance Army an. Ihren Mann exekutierten sie vor den Augen Nakouts und ihrer Kinder. Sie selbst wird von den Rebellen mitgenommen und entführt. Ihre Tochter und zwei Söhne sah sie seither nicht wieder. Die nächsten Jahre lebte sie in Gefangenschaft der LRA und wurde als Sexsklavin fast täglich missbraucht, bis ihr die Flucht nach Europa gelang. 12 Jahre lang wurde sie insgesamt festgehalten, sie gebar in dieser Zeit auch ein Kind von Joseph Kony, dem Anführer der LRA, welches ihr aber nach einigen Monaten entrissen wurde. Seit kurzem lebt sie in Finnland, sie leidet jedoch an posttraumatischen Belastungsstörgen. Nakout hat das Überlebensschuld-Syndrom. Sie plagen extreme Schuldgefühle, die Gefangenschaft und Torturen überlebt zu haben, wohingegen viele andere Menschen um sie herum dabei gestorben sind. Dazu kommt, dass sie das Gefühl hat, ihre Kinder im Stich gelassen zu haben. Nachdem sie in Finnland ankam, gelang es ihr, ihre Tochter und zwei Söhne in Uganda ausfindig zu machen. Sie versucht seither eine Beziehung mit ihnen aufzubauen. 1)reliefweb: Abducted mum finally finds safety in Finland, but yearns to see Children again – Artikel vom 22.02.2020 2)Washington Post: Kidnapped as children, they escaped from Kony’s LRA to be reunited with their families in Uganda – Artikel vom 13.08.2018
Das Schicksal Nakouts und ihrer Familie ist leider kein Einzelfall. Mehr als 25 Jahre terrorisierte die Lord’s Resistence Army die ugandische Bevölkerung. Seit ihrer Gründung 1986 tötete die kultähnliche Rebellengruppe mehr als 100.000 Menschen und entführte rund 20.000 Kinder. Seit 2005 liegt ein Haftbefehl des internationalen Strafgerichtshofes gegen den Anführer der LRA, Joseph Kony, vor. Zwölf Anklagepunkte hinsichtlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und 21 Kriegsverbrechen werden darin aufgeführt. Das brutale Vorgehen der Gruppe gegen die Bevölkerung hat in der Vergangenheit zu einer massiven Fluchtbewegung geführt, bei der mehr als 1,7 Millionen Menschen ihre Heimat verließen, um den Gräueltaten zu entkommen. Die Praktiken der Rebellen sind menschenverachtend: Vor allem nachts überfielen sie ganze Dörfer und töteten wahllos Dorfbewohner. Die Angriffe der Gruppen erlangten schnell Bekanntheit durch ihre Brutalität. Sie folterten und verstümmelten ihre Opfer auf grausame Art und Weise. Die Gesichter der Gefolterten wurden teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt, Ohren, Lippen und Nase abgeschnitten. Nachdem die Rebellen die Mehrheit der Bewohner der Dörfer gefoltert und getötet hatten, entführten sie die Kinder der getöteten Eltern. In Gefangenschaft der LRA stand ihnen ein grausames Schicksal bevor: Die Jungen wurden zu Kindersoldaten gedrillt. Sie wurden zum Kämpfen, Töten und Vergewaltigen ausgebildet. Die Mädchen wurden als Sexsklavinnen über Jahre hinweg festgehalten. 3)BBC: Joseph Kony – Kidnapper, warlord, ‚prophet‘ – Artikel vom 27.07.2018 4)Spiegel: Kriegstraumata – Was die Schlächter von Uganda übrig ließen – Artikel vom 23.04.2009
Hintergrund des Blutvergießens, der Massaker und Entführungen, ist das Ziel Konys, einen Gottesstaat mit Hilfe einer Widerstandsarmee zu errichten, regiert nach den zehn Geboten. Der selbsternannte Prophet verkündete Gottes vermeintliche Wahrheit und instrumentalisierte Religion für seine gewaltvollen Zwecke. Seit der Haftbefehl gegen den Anführer der LRA erlassen wurde, sucht man unablässig nach ihm. Bisher konnte man Kony noch nicht finden. Er ist seit mehreren Jahren untergetaucht, man vermutet ihn im Sudan oder Südsudan. Auch die LRA hat sich seit 2005 sukzessive aus Uganda zurückgezogen und ihr Einflussgebiet auf den Kongo, die Zentralafrikanische Republik und den Sudan verschoben. 2017 stellten die USA ihr Suchaufgebot nach Joseph Kony nach fast sieben Jahren ein. Es scheint, als wäre er vom Erdboden verschluckt. Die NGO Invisible Children warnt davor, die Bedrohung der LRA zu unterschätzen, auch wenn sie nichtmehr so stark ist wie vor 15 Jahren. Dass die Rebellen auch in dezimierter Truppenstärke noch zu grausamen Massakern fähig sind, haben sie 2009 bewiesen. 30 Kämpfer haben damals während eines viertägigen Gemetzels im Kongo mindestens 345 Zivilisten getötet und 250 Menschen entführt. Auch 2018 wurden 160 Zivilisten durch die Rebellen im Kongo und der Zentralafrikanischen Republik verschleppt. 5)The New Humanitarian: Q&A on Joseph Kony and the Lord’s Resistance Army – Artikel vom 21.03.2012 6)BBC: Joseph Kony – Kidnapper, warlord, ‚prophet‘ – Artikel vom 27.07.2018
Doch auch wenn die LRA in Uganda heute weniger aktiv als vor vier Jahren erscheint, wirken ihre Untaten fort. Nach Einschätzung von Experten ist es zu früh, von einer Normalisierung in der Region zu sprechen. In ökonomischer Hinsicht findet jedoch eine gewisse Regeneration statt: Vertriebene kehren zurück, bewirtschaften ihr Land, Lebensmittel sind wieder verfügbar. Doch zu groß sind die Traumata, welche die Kämpfer verursacht haben. Familien wurden vernichtet, Landstriche verwüstet. 7)Spiegel: Was wurde aus dem Warlord Joseph Kony? – Artikel vom 03.02.2016
Menschenrechtsorganisationen kritisieren deshalb die EU und vorwiegend die UN, deren Vorgehen gegen die LRA in Form verschiedener Missionen uneffektiv und unkoordiniert ist. Die Afrika-Missionen der UN, MONUSCO und UNMISS, haben zwar den Auftrag, Menschen vor den Angriffen der Rebellengruppe zu schützen, umgesetzt wird diese Prämisse jedoch selten, weil ihr keine Priorität zugeschrieben wird. Humanitäre Hilfe für Regionen, in denen die LRA weiterhin eine Bedrohung ist für die Menschen, ist deshalb oft nur mangelhaft gewährleistet. 8)The New Humanitarian: Q&A on Joseph Kony and the Lord’s Resistance Army – Artikel vom 21.03.2012
Fußnoten und Quellen:
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