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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
Zwänge der Vergangenheit und Repression treiben Eritreas Jugend in die Flucht
Asmara ist wahrscheinlich die schönste Stadt im subsaharischen Afrika. Das Zentrum Eritreas wirkt mit seinen breiten, palmengesäumten Boulevards, der italienischen Art-déco Architektur und den Futorismo-Gebäuden wie in einer Zeitkapsel archiviert. Autos fahren hier nur wenige. Die meisten Asmarions bewegen sich auf dem Velo fort. Die Hauptstadt ist jedoch ein bisschen zu romantisch. Hinter den anmutenden Fassaden lauern Repression, Menschenrechtsverletzungen und die Last der Vergangenheit.
Eritrea als Spielball internationaler Großmächte
Zwischen 1890 und 1941 ist Eritrea italienische Kolonie. Dann kommen die Briten und besiegen die Italiener. Großbritannien verkauft die gesamte eritreische Infrastruktur und übergibt das Land der UNO. Eine Anekdote aus dieser Zeit erfasst die Quintessenz der eritreischen Kollektiverfahrung. Eine Einheimische jubelt den siegenden Briten zu, bis einer der Soldaten sagt: „Ich habs nicht für dich getan.“ Die Vereinten Nationen beschließen, eine Föderation für Eritrea und Äthiopien. Das Bündnis funktioniert nicht. 1962 annektiert der äthiopische Kaiser Eritrea und der längste Krieg des afrikanischen Kontinents beginnt. Es dauert bis ins Jahr 1993 und fordert 200 000 Menschenleben, dann wird Eritrea unabhängig. Echten Frieden bedeutet das jedoch nicht. Kein Jahrzehnt später beginnt mit dem Kampf um das Grenzstädtchen Badme ein neuer Krieg. 80 000 Menschen sterben. 2002 spricht ein internationales Schiedsgericht Badme den Eritreern zu. Äthiopien akzeptiert den Entscheid nicht. Ein kalter Krieg setzt ein. Die Bedrohung durch das Nachbarland nutzt Staatschef Isayes Afewerki um den Nationaldienst, der bisher auf 18 Monate beschränkt war, für unbefristet zu erklären. Afewerki ist Präsident der ersten Stunde und auch fast 27 Jahre später noch Machthaber Eritreas. Er schaltet die freie Presse aus und lässt Regimekritiker verhaften. Wahlen gibt es seit seit 1993 nicht mehr. 2018 schließen Eritrea und Äthiopien offiziell Frieden. Von einer Lockerung der Repressionen ist bisher nichts zu spüren.
Europa ist schuld, dass die Jungen das Land verlassen
Es ist schwierig in Eritrea an Informationen zu gelangen. Es gibt nur eine einzige Partei (die Regierungspartei) und nur eine einzige Zeitung (die Regierungszeitung). Die Internetnutzung ist sehr eingeschränkt. Die Regierung geht mit Auskünften so sparsam um, als befände man sich noch mitten im Krieg. Das Land ist abgeschottet und arm. Die meisten Einwohner sind Kleinbauern, sonst produziert Eritrea nicht viel. Präsident Afewerki setzt ganz auf „self-reliance“, also nationale Selbstversorgung. Wie gut das klappt, zeigt ein Beispiel aus dem vergangenen Oktober. Die vorher allgegenwärtigen Plastikflaschen waren aus den Supermarktregalen verschwunden. Einheimisches Trinkwasser schien es nicht mehr zu geben. Stattdessen musste Wasser aus dem Sudan importiert werden und war seltsamerweise auch noch billiger. Gründe für das Debakel kommunizierte die Regierung nicht. Vage und widersprüchliche Gerüchte kursierten. Die Löhne in Eritrea sind niedrig, allerorts herrscht Mangel. Internationale Sanktionen erschweren die Situation zusätzlich.
Jeden Monat fliehen rund 5 000 Eritrea aus ihrer Heimat. Die Hälfte der insgesamt rund fünf Millionen Einwohner soll im Exil leben. Es sind vor allem die Jungen, die sich auf den Weg nach Europa machen. Sie passieren die Transitländer Libyen und Sudan und dann das Mittelmeer. Wenn man die eritreische Regierung nach den Gründen fragt, dann bekommt man einseitige Antworten. Asyl, eine Wohnung, Taschengeld und das alles ohne einen Finger krümmen zu müssen, lockt junge Afrikaner an, so Informationsminister Yemane Gebremeskel. „Das spricht sich natürlich herum, und jeder, der es geschafft hat, zieht zehn Weitere nach, die ihrer Familie zu Hause das Blaue vom Himmel vorschwärmen, aber nichts von den negativen Seiten erzählen. Und natürlich schildern die Migranten das Elend in Eritrea so krass wie möglich, damit sie Asyl bekommen.“ Das mag nicht nur falsch sein, in erster Linie ist es aber die eritreische Masche, die Schuld immer bei allen anderen zu suchen. Pull-Faktoren gibt es viele, die Push-Faktoren werden verschwiegen. Gespräche dauern lange, bis Regierungsvertreter auch wirtschaftliche Gründe einräumen. Fakt ist wohl: Mit einem Staat, dem die Jungen davonlaufen, kann irgendetwas nicht stimmen. Die Tortur einer Flucht alleine aus wirtschaftlichen Gründen auf sich zunehmen, scheint in diesem Fall äußerst unrealistisch. 1) ZDF: Flucht aus Eritrea: Die Doppelmoral der EU; Beitrag vom 04.06.2019 – nicht mehr verfügbar
Kessete Awet lebt seit 34 Jahren in Europa. Zusammen mit seinen Eltern kam er über den Sudan nach Deutschland. Die Menschen seien verzweifelt und hätten Angst vor dem diktatorischen Regime in Eritrea, sagt Awet. Sie werden lebenslänglich zum Militärdienst verpflichtet, haben keine Zukunft und fliehen deshalb. Es geht darum, entweder in Eritrea zu bleiben und zu sterben oder irgendwo anders ein bisschen Leben zu erhaschen. Tatsächlich ist der Nationaldienst in erster Linie ein staatliches Kontrollsystem, das die Freiheit der Bevölkerung einschränkt. Nach dem Frieden gab es immer wieder Ankündigung, er würde wieder auf die vormaligen 18 Monate zurückgestuft werden. Es blieb bei den Ankündigungen. Radikale Staatsvertreter sprechen von den Migranten unverhohlen als Verräter. Man ist sich bewusst, dass in Eritrea eine Diktatur herrscht, aber entschuldigt diese Tatsache mit der Notwendigkeit einer unvermeidlichen Abschottung des jungen und schwachen Staates. Die Vergangenheit scheint die Zukunft zu erdrücken. 2) Deutsche Welle: Geflüchtete aus Eritrea: Der lange Arm des Regimes; Artikel vom 22.09.2019
Krebs, Herzinfarkt oder eine Operation – besser nicht in Eritrea, falls du überleben willst
Es steht außer Frage, dass Eritreas Entwicklung im Laufe seiner schwierigen Geschichte immer wieder von fremden Mächten torpediert wurde, aber so schön Asmara auch sein mag, in den Regierungsgebäuden hält eine alte Elite ein autokratisches System am Leben. Viele Schlüsselämter werden von Greisen besetzt, deren Verdienste um die Unabhängigkeit größer sind als die Kompetenzen für ihre Position. Diktator Afewerki stützt seine gesamte Legitimation auf seine Rolle als heroischer Guerilla-Führer im Kampf um die Freiheit. Nach außen hin wirkt sein System gelegentlich recht gut poliert. HIV-Rate, Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind tief. Trotz leerer Staatskassen existiert eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Der Zugang zu Bildung ist im Vergleich zu vielen anderen afrikanischen Staaten besser. Minister und Präsident gelten als eher nicht korrupt, sie kommen ohne Prunk und Wichtigtuerei anderer Regenten auf dem Kontinent aus. Einseitig betrachtet, klingt das alles gar nicht schlecht. Der zweite Blick zeigt jedoch: Das Schulwesen ist autoritär, hierarchisch und nicht auf eigenständiges Denken ausgelegt. Wie höhere Bildung ohne Internetnutzung funktionieren soll, ist zudem äußerst schleierhaft. Sowohl unter Muslimen als auch unter Christen ist eine Radikalisierung zu beobachten und mit der Gesundheitsversorgung verhält es sich äußerst relativ. Ein Eritreer sagt: „Impfen, Gebären oder Wundversorgung – kein Problem. Krebs, Herzinfarkt oder eine Operation – besser nicht in Eritrea, falls du überleben willst.“
Damit Arbeitsplätze entstehen und auch die Jugend im Land bleiben kann, wird Eritrea von Deutschland und der Europäischen Union finanziell unterstützt. Finanzhilfe hat jedoch noch nie gegen autokrate und diktatorische Regime geholfen. Grobe staatliche Menschenrechtsverletzungen prägen den Alltag. Die Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit sind eingeschränkt und die Bewegungs- und Reisefreiheit beeinträchtigt. Frauen sind von Genitalverstümmelung und häuslicher Gewalt betroffen. Zwangs- und Kinderarbeit, Menschenhandel, Folter und willkürliche Verhaftungen sind keine Seltenheit. Eritrea gilt nicht ohne Grund als das Nordkorea Afrikas. 3) humanrights.ch: Länderinformation: Menschenrechte in Eritrea; Zuletzt abgerufen am 23.03.2020 4) Focus Online: Das „Nordkorea Afrikas“: Wer aus Eritrea flieht, hat Folter und Sklaverei erlebt; Artikel vom 02.08.2019 5) Neue Züricher Zeitung: Eritrea: Wenn ein grosser Teil der Jugend weggeht oder wegwill, muss etwas faul sein im Staat – ein Besuch in Eritrea; Artikel vom 27.11.2019
Fußnoten und Quellen:
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