
Bild: © Radekprocyk - Dreamstime.com
Rojava – Wie eine Hoffnung auf Frieden zum Spielball des Imperialismus wurde
In der umkämpften Rebellenhochburg Idlib droht die Lage zu eskalieren. Etwa 900.000 Menschen sind seit Anfang Dezember auf der Flucht vor den vorrückenden syrischen Truppen. Den Weg in die Türkei können sie dabei nicht nehmen, er wird inzwischen versperrt. Die Auffanglager nördlich der Region sind bereits überfüllt. 1) Spiegel: Idlib-Krise: Putins Winterkrieg; Artikel vom 19.02.2020 Ein Ausweg bietet Rojava, die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien. Wie schon in den letzten neun Jahren des Bürgerkriegs hat sie sich bereit erklärt, hunderte Familien aufzunehmen. 2) ANF: Weitere Flüchtlinge aus Idlib erreichen Minbic; Artikel vom 01.02.20 Und das obwohl die Selbstverwaltung derzeit selbst durch die türkische Invasion mit massiven Problemen zu kämpfen hat.
Ausgerufen wurde sie am 17. März 2016, im Chaos des Krieges schafften die Kurden es eine Autonomie zu errichten, die grundlegend auf der demokratischen Form eines Rätesystems, der Befreiung der Frau und einer ökologischen Lebensgrundlage basiert. Mediale Aufmerksamkeit erlangte sie vor allem durch den Kampf um Kobane 2014. Dort hielten die Verteidigungseinheiten YPG und YPJ dem ungleichen Angriff des IS stand. Beobachtet von Presse und Öffentlichkeit rückte die Terrororganisation, ausgestattet mit erbeuteten Panzern, auf die umzingelte Stadt vor. Kobane beherbergte zu diesem Zeitpunkt schon 200.000 Geflüchtete. Der zivile Aufschrei aufgrund von Tatenlosigkeit westlicher Regierungen reichte bis weit über die Gebiete Kurdistans hinaus. Der US-Außenminister verwies auf die strategische Bedeutungslosigkeit. Auf Druck der Öffentlichkeit begann die internationale Koalition mit Unterstützung aus der Luft. Der Forderung der Kurden, einen Korridor durch die Türkei zu öffnen, damit Unterstützer nachfolgen konnten, wurde nicht nachgegangen. Nur unter schweren Verlusten auf Seiten der YPG/YPJ konnte die Stadt im Januar 2015 befreit werden. Der Sieg markierte den Wendepunkt im Kampf gegen den IS.3) Flach, Anja; et. al.: Revolution in Rojava; 2018

Kämpfer der YPG/YPJ | Bild: © Kurdishstruggle [CC BY-NC 2.0] – flickr
Warum geht die Türkei gegen Rojava vor?
Auch nach dem Sieg über das Terrorregime kehrte in die Gebiete kein Frieden ein. Allein seit 2015 marschierte die Türkei dreimal ein. Durch den letzten Angriffskrieg, von der türkischen Regierung „Friedensquelle“ genannt, will der türkische Präsident Erdogan nach eigenen Aussagen einen Teil des Gebiets der Kurden besetzen. Ziel sei es, Terrorismus zu bekämpfen und eine etwa 30 Kilometer lange Sicherheitszone zu errichten, in der bis zu zwei Millionen Flüchtlinge aus der Türkei angesiedelt werden sollen. Von Seiten humanitärer Hilfsorganisationen wie auch des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags wird dieses Vorgehen als völkerrechtswidrig bewertet. Kritiker des Erdogan-Regime vermuten eine Reihe weiterer Ziele der türkischen Regierung: Bestehend auf der lange Geschichte von Feindseligkeiten zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Gemeinschaft ist die Verhinderung der kurdischen Selbstbestimmung naheliegend. Zudem verfolge Erdogan neoosmanische Staatserweiterungspläne, auch dass sich die Türkei aus Gebieten die sie bereits besetzt halten wie Afrin, nicht wieder zurückzieht, spricht dafür. Stattdessen errichtet sie Strukturen die an Kolonialismus erinnern, so werden Löhne in türkischer Währung ausbezahlt und Hinweise auf Türkisch ausgeschildert. Aus innenpolitischen Gründen will die Regierungspartei AKP die Zusammenarbeit zwischen den oppositionellen Parteien HDP, CHP und iYi zerstören und so seinen Machterhalt sichern. Diese haben es geschafft zur Kommunalwahl durch ein Bündnis in vielen Großstädten die AKP zu besiegen. Jedoch stehen die kemalistischen Parteien im Kriegsfall immer auf die Seite des türkischen Staates. Bürgermeister der einzig übriggebliebenen Oppositionspartei HDP hingegen werden abgesetzt und sogar inhaftiert. Ersetzt werden sie durch regierungstreue Vertreter der AKP. 4) Taz: Eindeutig Völkerrechtswidrig; Artikel vom 18.10.19 5) Der Tagesspiegel: Türkei baut Einfluss in Nordsyrien aus; Artikel vom 15.10.18 6) Ermöglichen die USA eine türkischen Einmarsch in die Kurdenregion?; Artikel vom 07.10.19 7) Spiegel: türkische Regierung soll 30 Bürgermeister der Opposition abgesetzt haben; Artikel vom 16.11.19
Militärische Intervention der Türkei im Kurdengebiet
Den Beginn des letzten Angriffskriegs markiert der Abzug stationierter US-Soldaten aus kurdischem Grenzgebiet. Diese fungierten eigentlich als Schutzmacht hinter einer Abmachung über verschiedene Sicherheitsmechanismen, die einen Angriff der Türkei verhindern sollten. Inhalt dessen war, dass sich die YPG fünf Kilometer hinter die Grenze zurückzieht, dabei alle schweren Waffen mitnimmt und alle Sicherheitsanlagen abbaut. Nachdem dies erfolgte, und die Kurden ohne Verteidigung gegen die Türkei waren, zogen sich die USA zurück und überließen die Kurden ihrem Schicksal. Die Türkei begann daraufhin am 9. Oktober 2019 ihren Angriffskrieg, eine Offensive aus Luftschlägen, Artilleriebeschuss und Bodeneinheiten. Zudem wird von vielen Seiten der Vorwurf gegen die Türkei erhoben, auch Gebrauch von verbotenen chemischen Waffen wie weißem Phosphor zu machen. Der Stoff wurde demnach vor allem gegen Zivilisten und Kinder eingesetzt. Auch sollen islamistische Milizen, welche in Verbindung zum IS stehen, die türkische Armee unterstützen. Laut UN erfolgten Angriffe auch auf die Struktur der Grundversorgung wie Gesundheitseinrichtungen, die Stromversorgung und Wasserwerke. Amnesty International berichtete über Kriegsverbrechen, unter anderem den Bruch der Waffenruhe und unrechtmäßigen Angriffen auf Wohngebiete. 8) Der Tagesspiegel: Ermöglicht die USA einen türkischen Einmarsch in die Kurdengebiete; Artiekl vom 07.10.19 9)ANF: Arzt stellt Bericht über Chemiewaffeneinsatz vor; Artikel vom 01.11.19 10) Zeit: Rebellen und Islamisten – Erdogans dubiose Helfer in Syrien; Artikel vom 25.10.19 11) ANF: Nach UN-Angabe 176.000 Menschen in Nordsyrien auf der Flucht; Artikel vom 22.10.19 12)Zeit: Amnesty wirft Türkei Kriegsverbrechen vor; Artikel vom 18.10.19
Die humanitäre Versorgung ist kaum noch zu gewährleisten
Die Lage in dem vom Krieg gezeichneten Rojava droht zu einer humanitären Katastrophe zu werden. Mit dem Angriffskrieg hat der türkische Staat ca. 200.000 Zivilisten vertrieben, schon das UN-Flüchtlingshilfswerk hat vor diesen Hintergrund vor neuen Fluchtbewegungen gewarnt. Die Ressourcen der humanitären Hilfskräfte seien im neunten Jahr des Kriegs am Limit. Der kurdische rote Halbmond versucht die Gesundheitsversorgung alleine zu stemmen. Mit dem Einbruch des Winters verschlechterte sich die Lage zusätzlich. Rund 176.000 Menschen sind derzeit nach UN-Angaben auf der Flucht vor der türkischen Invasion, 80.000 von ihnen sind Kinder. Die meisten befinden sich innerhalb Syriens, manche versuchen auch nach Südkurdistan und in den Irak zu fliehen. Laut Angaben waren schon vor der Invasion ca. 1,8 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Durch die Angriffe wurden auch Haftanstalten getroffen, in denen IS-Terroristen untergebracht waren. Zudem fehlt das Wachpersonal, nachdem durch die türkische Offensive die Front verstärkt werden musste. In den Gefängnissen in Nordsyrien sind insgesamt ca. 12.000 IS-Kämpfer und 75.000 Angehörige eingesperrt, darunter auch 3000 aus dem Ausland. Schon lange fordern die Selbstverwaltung wie auch NGOs, die in den Geflüchtetenlagern humanitäre Hilfe leisten, eine internationale Unterstützung. Es wird von zunehmender Radikalisierung unter den Gefangenen berichtet, vor allem unter den Heranwachsenden. Eine Reorganisation des IS ist zu befürchten, auch dass geflohene Anhänger nach Europa zurückkehren werden. Den Vorschlägen seitens Rojava ein, UN-Sondertribunal in Nordsyrien zu errichten um, IS-Verbrechen aufzuklären und schuldige Dschihadisten zu verurteilen, wird vermutlich nicht nachgekommen. Die Bundesregierung betont stattdessen keine konsularische Vertretung in Syrien zu unterhalten. Um ein Tribunal zu etablieren müsse die Region völkerrechtlich anerkannt werden. Zudem unterhält Berlin keine offizielle Beziehung zu der regierenden Partei PYD, anders als Frankreich, Russland oder die USA. Berlin wolle dabei die türkische Regierung berücksichtigen, für diese gilt die PYD als Schwesterpartei der PKK. 13) BR: Offensive in der Türkei: UNHCR warnt vor neuer Fluchtbewegung; nicht mehr verfügbar 14) Zeit: IS-Leute brechen aus kurdischem Haftlager aus; Artikel vom 13.10.19 15) Tagesspiegel: Syriens Kurden fordern UN-Tribunal für IS-Verbrecher; Artikel vom 17.04.19
Warum lässt Deutschland die Türkei weiterhin gewähren?
Für die Beziehung zwischen beiden Ländern ist dies nicht ungewöhnlich. Sie kooperieren seit über 150 Jahren und sind wichtige Handelspartner. Über 6500 deutsche Unternehmen sitzen in der Türkei, zusammen beschäftigen sie Zehntausende Menschen. Hinzu kommen Gewinne aus der Tourismusbranche sowie aus Exporten. Auch Waffen liefert Deutschland regelmäßig, etwa ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte gehen dorthin. Das macht sie zum größten Empfängerland. Die Waffen wurden auch im Angriff auf die Kurden in Nordsyrien gesichtet. Leopard 2 Panzer aus deutscher Produktion wurden etwa bei der Invasion in Afrin von der türkischen Armee und den verbündeten islamistischen Milizen verwendet. Die Zusammenarbeit beider Länder reicht bis in die deutsche Innenpolitik hinein. So verbot das deutsche Innenministerium im Februar 2019 den kurdischen Mezopotamien-Verlag, begründet mit dem seit 1993 herrschenden Betätigungsverbot der PKK sowie allen dieser nahe stehenden Organisationen. Auch für das Zeigen der Flaggen der beiden Verteidigungseinheiten YPG und YPJ wurden in Deutschland Aktivisten und Demonstranten vor Gericht geladen. Verboten ist zwar nur die Flagge der PKK, aus einem Schreiben des Innenministeriums geht jedoch hervor, dass auch Symbole legaler Parteien verboten sein können, wenn sie ersatzweise von der PKK genutzt werden oder auf deren Ziele hinweisen. Auch der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei von 2016 machte Deutschland in gewisser Weise handlungsunfähig. Erdogan drohte die Grenzen zu öffnen und 3,6 Millionen Geflüchtete in die EU durchzulassen, sollte man die Militäroffensive als Invasion oder Besatzung bezeichnen. 16) Spiegel: Das Fanal von Afrin; Artikel vom 19.03.18 17) SZ: Erdoğan droht mit Ende des EU-Flüchtlingsdeals; Artikel vom 10.10.19 18) Schamberger, Kerem; Meyen, Michael: Die Kurden – Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion; 2018

Demonstrationen gegen den türkischen Angriffskrieg | Bild: © Matthia Berg [CC BY-NC 2.0] – flickr
Fußnoten und Quellen:
Bianca Winter
Veröffentlicht um 22:26h, 17 AprilDas ist eine sehr gute, kurze Übersicht, um etwas über Rojava und die Selbstverwaltung in Nordostsyrien zu erfahren.
Unser Verein Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane hat bereits einige Reisen nach Rojava gemacht, um den Ausstausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen dort zu pflegen und hier in öffentlichen Veranstaltungen vom demokratischen Aufbau der Region zu berichten. Es gibt viel gute Infomaterialien z.B. die Fotobroschüre „Rojava – Frühling der Frauen“: http://rojavafruehlingderfrauen.blogsport.eu/
Die Foto-Ausstellung „Jinwar – Ein ökologisches Frauendorf im Herzen Rojavas in Nordsyrien“:
https://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2020/03/Ausstellung.pdf
Oder ein kleiner Reiseführer zum freien Download:
https://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2020/02/RojavaBroschuere.pdf
https://civaka-azad.org/service/broschueren/