
Mitglieder der Freien Syrischen Armee, die gegen das Assad-Regime kämpfen | Bild: © Hunterbracewell - dreamstime.com
Eskalation in Syrien: Die Großoffensive in Idlib treibt hunderttausende in die Flucht
Seit neun Jahren währt der Bürgerkrieg in Syrien. Machthaber Assad bombardiert mit russischer Unterstützung eine der letzten Rebellenhochburgen des Landes und gerät dadurch in Konflikt mit der Türkei. Durch die blutigen Kämpfe haben hunderttausende Syrer ihre Heimat verloren und fliehen vor dem Vorrücken der syrischen Armee.
Wie sieht die aktuelle Situation in Syrien aus?
Trotz unzähliger Waffenruhen und diplomatischen Verhandlungen konnte das unsägliche Leid der Bevölkerungen immer noch nicht gelindert werden. Seit mehr als zwei Monaten führt die syrische Armee eine Militäroffensive gegen die letzte Rebellenhochburg in der Region Idlib an. Damit Machthaber Baschar al-Assad wieder jeden Zentimeter des Landes im Griff hat, rücken syrische Truppen mit der Unterstützung russischer Luftwaffe weiter voran. In den letzten Wochen haben sie zahlreiche Ortschaften und Verkehrsachsen unter ihre Kontrolle gebracht. Die jüngsten Erfolge waren die Einnahme der Stadt Maarat al-Numan und die Kontrolle der Autobahn M5, welche Damaskus mit Aleppo verbindet. Die Offensive korreliert mit der vollständigen Zerstörung der Infrastruktur, wobei auf zivile Einrichtungen keine Rücksicht genommen wird. Ganze Landstriche werden entvölkert, um Platz zu schaffen für das Vorrücken der syrischen Bodentruppen. Für die Zivilisten werden die Kämpfe zur humanitären Katastrophe. Viele flüchten in die überfüllten und medizinisch unterversorgten Flüchtlingslager nahe der türkischen Grenze. Weiter verschärft wird die Situation durch die anhaltenden Spannungen zwischen der Türkei und dem Assad-Regime. Vergangene Woche schossen syrische und türkische Soldaten aufeinander. Beide Seiten hatten Tote zu beklagen. Somit steigt die Angst vor einer weiteren Eskalation, die unvorhersehbare Ausmaße annehmen könnte. 1) NZZ: Idlib: Das Neuste im Kampf um Syriens letzte Rebellenbastion; Artikel 11.02.2020 2) Süddeutsche Zeitung: Unter Beschuss und auf der Flucht; Artikel vom 04.02.2020 3) Deutsche Welle: Idlib – Von der Welt im Stich gelassen; Artikel vom 04.02.2020
Welche Rolle spielt die Türkei und droht nun eine weitere Eskalation in der Region?
In der umkämpften Region Idlib unterstützt die Türkei die oppositionellen Kräfte und unterhält 12 Wachposten. Diese beruhen auf einer Vereinbarung aus dem Jahr 2017 und dienen zur Überwachung einer sogenannte „Deeskalationszone“. Einige dieser Posten wurden in den vergangenen Wochen von syrischen Truppen belagert, was zu türkischen Gegenmaßnahmen, Drohungen und einer erhöhten Militärpräsenz führte. Anhand der Konfrontation wird deutlich, wie die unterschiedlichen Interessen der involvierten Mächte zunehmend aneinander geraten. Die türkischen Ziele in der Region sind vielfältig und werden durch die andauernde Offensive gefährdet. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan möchte eine Massenflucht in Richtung seiner Grenze verhindern. Mittlerweile hat die Türkei über 3.5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen und die innenpolitische Zustimmung schwindet. Außerdem möchte Ankara seinen Einfluss in der Region nicht verlieren. Es will weiterhin einen Platz am Verhandlungstisch haben, um über die zukünftige Ordnung in Syrien mitzuentscheiden. Hierbei kann es um wirtschaftliche Interessen wie die Erdöl- und Erdgasvorkommen gehen oder aber um die Vermeidung eines autonomen Kurdenstaates im Norden Syriens. Ob sich die Lage nun zuspitzt und weiter außer Kontrolle gerät, ist schwer einzuschätzen. Allerdings bleibt festzuhalten, dass das Kräftemessen in Idlib blutige Konsequenzen für alle Beteiligten mit sich bringt und vor allen auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wird. 4) Süddeutsche Zeitung: Türkei greift Assads Truppen in Idlib an; Artikel vom 03.02.2020 5) NZZ: Eskalation in Syrien: Erdogan verliert die Geduld mit Putin; Artikel vom 04.02.2020 6) Deutsche Welle: Idlib – Von der Welt im Stich gelassen; Artikel vom 04.02.2020 7) Süddeutsche Zeitung: Blutiges Kräftemessen in Idlib; Artikel vom 11.02.2020
Die humanitäre Situation ist selbst für syrische Verhältnisse erschreckend
Abseits der politischen Machtprobe ist die humanitäre Lage für die fast drei Millionen Einwohner aus der Region entsetzlich. Selbst nach neun Jahren dauerhafter Kämpfe, unzähliger Opfer und Millionen von Flüchtlingen ist die aktuelle Situation außergewöhnlich. Die Luftangriffe treffen zivile und gesundheitliche Einrichtungen und verschärfen die Umstände für die Bevölkerung dramatisch. Obwohl medizinische Versorgung wichtiger denn je ist, müssen immer mehr Krankenhäuser schließen oder werden zerstört. Zudem werden lebenswichtige Hilfsgüter knapper und eine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage ist nicht in Sicht. Durch die katastrophale Situation kommt es zu Fluchtbewegungen, die selbst in Syrien einmalig sind. Seit Dezember sind bis zu 700.000 Menschen in Richtung der türkischen Grenze geflüchtet. Viele von ihnen sind Vertriebene aus anderen Regionen Syriens. Da die Türkei die Grenzen bis dato geschlossen hält, harren die meisten in überfüllten Flüchtlingslagern aus. Eine gesundheitliche Versorgung ist kaum gegeben und kann den hohen Bedarf nicht decken. Durch die winterlichen Verhältnisse wird die Notlage noch weiter verschärft. Zudem sind die Menschen von allen Seiten eingesperrt. Währenddessen Assads Truppen weiter vorrücken, hat die Zivilbevölkerung keine Möglichkeit zu fliehen. Sie sind zwischen der türkischen Grenze, den oppositionelle Milizen und der vorrückenden Frontlinie eingekesselt. 8) UNO Flüchtlingshilfe: Syrien: Humanitäre Notlage nach Massenflucht; Artikel vom 11.02.2020 9) Ärzte ohne Grenzen: Idlib: Hunderttausende fliehen – medizinisches Personal in Angst; Artikel nicht mehr verfügbar
Fußnoten und Quellen:
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