Die politische Krise in Bolivien: Wer hat Schuld woran?
03. Dez 2019 in
Grund von Lina / earthlink In den vergangenen drei Wochen wurde Bolivien von immer neuen Wellen an Protesten, Demonstrationen und Gewalt erschüttert. 30 Menschen kamen dabei ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Die Opposition beschuldigt den ehemalige Präsident Evo Morales des Wahlbetruges. Morales befindet sich mittlerweile im Exil und wirft Opposition und Militär einen Putsch vor. Wie gerechtfertigt sind die gegenseitigen Anklagen?
Die OAS macht einen Fehler

Evo Morales war mit Sicherheit kein unfehlbarer Präsident. Im aktuellen Konflikt rief er jedoch immer wieder dazu auf, eine friedliche Lösung zu finden. | Bild: © UNIS Vienna [(CC BY-NC-ND 2.0)] – flickr
14 Jahre lang prägte Evo Morales als Präsident maßgeblich die bolivianische Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Der erste indigene Präsident des Landes war nicht unumstritten, stand zum Beispiel in der Kritik als er seine Amtszeit um eine vierte Periode zu verlängern suchte. Das Verfassungsgericht ebnete ihm schließlich den Weg. Die Opposition war enttäuscht. Die Wahl selbst fand am 20. Oktober 2019 statt. Wahlbeobachter war die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Sie war in der Vergangenheit maßgeblich daran beteiligt, das bolivianische Wahlsystem aufzubauen. Dieses System sieht zwei Stimmauszählungen vor: eine schnelle, rechtlich unverbindliche Zählung und eine offizielle, rechtlich bindende Zählung. Nach der Schnellzählung kam es zu Unregelmäßigkeiten. Das unverbindliche Ergebnis machte Morales zum Sieger nach einer Runde. Die OAS verstieß gegen das Protokoll und äußerte Besorgnis über eine angeblich drastische und unerklärliche Trendwende. Damit schufen sie die Voraussetzung für die Betrugsvorwürfe gegen Morales. Unter Berücksichtigung der Geographie weichen die Ergebnisse nicht von denen aus vorherigen Wahlen ab. Die Gebiete, in denen Morales erwartungsgemäß eine überwältigende Mehrheit erhalten hatte, wurden einfach später ausgezählt als Gebiete, in denen die Opposition stark war. Die Trendwende war demnach keineswegs unerklärlich und die Darstellung der OAS falsch. Ihre Funktion bei dieser Wahl erinnert mehr an die eines politischen Akteurs, als an die eines unparteiischen Beobachters. Als die offiziellen Ergebnisse der zweiten Zählung Morales schließlich rechtmäßig zum Präsidenten machten, stieß dies auf taube Ohren. Nur Wenige erkannten seinen Sieg an oder schafften es, die unverbindliche Schnellzählung von der verbindlichen offiziellen Zählung zu trennen. Die Wut war zu diesem Zeitpunkt schon zu groß. Die langanhaltenden Unruhen begannen.
Der Konflikt wird sehr unterschiedlich bewertet
Als Reaktion darauf stimmte Morales einem verbindlichen OAS-Audit der Ergebnisse zu. Am 10. November veröffentlichte die Organisation Amerikanischer Staaten einen vorläufigen Bericht und stützte sich darin vor allem auf technische Schwachstellen und Fehler. Diskrepanzen, die zwar ernst zu nehmen sind und für die Zukunft auch zu beheben gelten, aber keinen erheblichen Einfluss auf das Ergebnis der Wahl hatten. Vor allem aber, nicht nachweislich für betrügerische Zwecke genutzt wurden. Morales veranlasste Neuwahlen. Retten konnte ihn das nicht mehr.

Bolivien ist an Proteste gewöhnt (Bild von 2011). Bei den aktuellen Ausschreitungen sind mindestens 30 Menschen ums Leben gekommen. | Bild: © Robert Williams [(CC BY-NC-ND 2.0)] – flickr
In ganz Bolivien gingen Menschen auf die Straße. Aufgestachelt wurden sie von der Opposition. Ihnen entgegen wirkten die Anhänger der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS). Es gab Übergriffe gegen MAS-Mitglieder, Angriffe auf Teile der indigenen Bevölkerung, Plünderungen und Brandstiftungen. Seit dem 12. November befindet sich Morales im Exil in Mexiko. Er trat als Präsident zurück. Druck und Gewalt auf seine Anhänger und Parteimitglieder wurden zu groß. Militär, Polizei und Opposition verbündeten sich gegen ihn. Die rechtskonservative zweite Vizepräsidentin des Senates Jeanine Áñez ernannte sich selbst zur Interimspräsidentin. Nun klafft eine Lücke in der internationalen Bewertung dessen, was in Bolivien passiert ist. Was die einen nicht aussprechen, steht für die anderen außer Frage. Ob Morales Rücktritt einem Putsch geschuldet ist, oder es bei dem Druck gegen ihn und die MAS tatsächlich darum geht „alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Land zu befreien“, wie es Áñez zusammen fasst, ist umstritten. Es formen sich in Folge dessen zwei Lager. Auf der einen Seite die Unterstützer der gefallenen Regierung. Venezuela, Kuba, Mexiko, Nicaragua und Uruguay, die den Staatsstreich deutlich verurteilen. Die venezolanische Regierung betont folgendes: Es handle sich in Bolivien um eine „ausgeklügelte Operation, die von radikal-rassistischen Sektoren der politischen Opposition, privaten Medien, der US-Botschaft und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) durchgeführt wird“. Auf der anderen Seite steht die De-facto Regierung unter Áñez, deren Mandat die USA, Brasilien und Großbritannien umgehend anerkannten.
Die Beziehungen zwischen Bolivien und den USA sind kompliziert
Die Aussage aus Venezuela ist keinesfalls weit her geholt. Mit dem zunehmenden Linksruck Lateinamerikas um die Jahrtausendwende herum begann eine vermehrte Distanzierung zwischen den Staaten Südamerikas und den USA. Morales produktiver Sozialismus und der von den USA verfolgte Turbokapitalismus lassen sich nur schwer mit einander vereinbaren. Die Beziehungen litten unter der Nationalisierung der natürlichen Ressourcen, die dem bolivianischen Volk zu Gute kommen sollte. 2008 verwies man den US-Botschafter Philip Goldberg des Landes. Der Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten war laut geworden. Es ist kein Geheimnis, dass die USA vor allem die mittelamerikanischen Staaten gerne als ihren „Hinterhof“ betrachten, eingreifen und auch vor militärischer und geheimdienstlicher Unterstützung nicht zurück schrecken. Während Morales Amtszeit waren die Beziehungen von Kritik und Misstrauen geprägt. Vorwürfe der Destabilisierung wurden erhoben. Aber auch das Streben nach guten Beziehungen betonten beide Seiten immer wieder. Letztendlich gefällt Áñez den USA aber wohl einfach besser, kommt gelegener. Dass die Sympathie auf Gegenseitig beruht, beweist die schnelle Nominierung eines bolivischen Botschafters für die Vereinigten Staaten. Die De-facto Regierung weist damit die Richtung ihrer Außenpolitik.
Der Verlierer des Konflikts ist die Bevölkerung

Unter der Führung der rechtskonservativen Interimspräsidentin Jeanine Áñez könnte es vor allem für Indigene und andere Oppositionskritiker ungemütlich werden. | Bild: © Santiago Sito [(CC BY-NC-ND 2.0)] – flickr
An die Fehler Morales‘ zu erinnern, um das Geschehen in Bolivien zu rechtfertigen, wirkt heuchlerisch, solange nicht mindestens auch auf die Äußerungen und politische Ausrichtung der neuen Regierung eingegangen wird. Denn diese Regierung ist äußerst fragwürdig. Ihre Machtübernahme beruht letztendlich auf Meinungsverschiedenheiten und Ablehnung, die nach der Wahl im Oktober eskaliert sind. Die Aussagen der OAS sind bis heute nicht bewiesen. Eine solche politische Krise auszulösen, ohne konkrete Beweise für einen Wahlbetrug zu haben, kann nicht in Schutz genommen werden. Ebenso das brutale Vorgehen von Militär und Polizei nicht. Auch die inzwischen zwar gelöschten aber dennoch massiv rassistischen Tweets gegen die indigene Bevölkerung von Áñez nicht. Morales wird rechtlich nie wieder Präsident von Bolivien. Das haben seine Gegner erreicht. Den Preis, den das ganze Land dafür zahlen muss, ist dabei aber viel zu hoch.
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