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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
Venezuela: Humanitäre Lage verschärft sich infolge der US-Sanktionen zunehmend
„Die ohnehin schwierige Lage hat sich zuletzt noch einmal verschlechtert“, berichtete Oliver Müller, der Leiter des Hilfswerks des Deutschen Caritasverbandes, Ende September im Anschluss an eine Reise nach Venezuela. Die Menschen erhielten immer weniger Nahrungsmittel, darüber hinaus käme es andauernd zu Stromausfällen und sowohl das Gesundheits- als auch das Bildungssystem liegen am Boden. 1) epo.de: Venezuela. Caritas besorgt über Verschärfung der humanitären Lage; Artikel vom 24.9.2019
Als bei der 42. Tagung des Menschenrechtsrates am 9. September dieses Jahres die UN-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet das Wort ergriff, um ihren Bericht vorzustellen, rückte alsbald die Menschenrechtslage in Venezuela in den Fokus. Schließlich, so die Diplomatin, trügen die Sanktionen der US-Regierung unter Präsident Donald Trump gegen Venezuela dazu bei, „die humanitäre Situation des Landes zu verschlechtern“. Denn die Leidtragende von Sanktionen ist immer in erster Linie die Bevölkerung. Dementsprechend durchläuft die Wirtschaft auch „die wohl akuteste hyperinflationäre Episode, die Lateinamerika je erlebt hat“, heißt es in dem Rapport weiter. Derzeit liegt der Mindestlohn in dem Tropenland laut Bachelet bei zwei US-Dollar im Monat! „Eine Familie muss das Äquivalent von 41 monatlichen Mindestlöhnen erhalten, um den Bedarf an Grundnahrungsmitteln decken zu können“, fügte sie weiter an. Die einzige Lösung für die angespannte Lage sieht die ehemalige chilenische Präsidentin darin, dass sowohl Regierung als auch Opposition wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. 2) amerika21: Aufruf von UN-Kommissarin Bachelet zum Dialog in Venezuela ohne Resonanz; Artikel vom 11.9.2019 3) epo.de: Venezuela. UN-Kommissarin Bachelet kritisiert Lage der Menschenrechte; Artikel vom 11.9.2019 4) eltiempo.com: La ONU denuncia más casos de posibles ejecuciones en Venezuela; Artikel vom 9.9.2019
Begeben wir uns in das im Norden des südamerikanischen Kontinents liegende Land. Wie in ganz Lateinamerika ist auch in Venezuela das antikoloniale Erbe heute noch zu spüren. 1992 war ein besonderes Jahr für diese Region, da aus Sicht der Indigenen 500 Jahre Widerstand gefeiert wurde. Am 12. Oktober 1492, so heißt es, legten die Schiffe von Christoph Kolumbus an einer Insel der Bahamas an und man betrat erstmals die Neue Welt. Und so legten jüngst die Erinnerungen an jenes Ereignis und den damit verbundenen Kampf die Grundlage für eine neue Strömung, welche alsbald – Ende der 90er Jahre – den Kontinent erfassen sollte: Mit dem „Socialismo del Siglo XXI.“ – dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – als ideologischem Hintergrund eroberten unlängst eine Reihe von linksgerichteten Regierungen Lateinamerika und gossen damit erneut Wasser auf die Mühlen des anti-imperialistischen Widerstandes. Eng mit dieser Strömung ist auch das Konzept des „Buen vivir“ verknüpft, bei dem das indigene Grundprinzip der Vereinbarkeit von Kultur und Natur im Vordergrund steht. Will heißen: Der Respekt vor der Natur, dem Leben – oder Pachamama, wie es in Lateinamerika heißt – ist fester Bestandteil des politischen Lebens und soll nicht dem schnellen Profit geopfert werden.
Während politische Strömungen kommen und gehen, prägte der Faktor Erdöl das Land über die letzten Jahrzehnte hinweg konstant. Venezuela verfügt – zumindest potentiell – über die größten Erdölreserven der Welt. Auch wenn diese Reserven derzeit nur zu Teilen ausgeschöpft werden, spielt das Land weiterhin im Konzert der Großen Erdöllieferanten mit. Während das Fördervolumen jedoch im Jahr 2000 noch bei 2,7 Milliarden Barrel lag, wird heute nur noch ein Drittel dessen gefördert. Wo liegen die Gründe für diese Entwicklung? Erstens ist Venezuela weitgehend von der technologischen Expertise abgeschnitten, da man sich politisch von den westlichen Ländern mit dem entsprechenden Know-how isoliert hat. Zweitens leidet das Land auch unter der Blockade der Amerikaner. Zudem sinkt bei den größten Abnehmern von venezolanischem Erdöl aufgrund der neuerlichen Erdöl-Ausbeutung qua Fracking die Nachfrage. Der dritte Faktor für die rückläufige Förderquote ist die auswuchernde Korruption. Erst kürzlich wurde der Generaldirektor der staatlichen venezolanischen Erdölgesellschaft PDVSA mit einer Milliarde Dollar an gestohlenem Geld in Andorra erwischt. Erschwerend für die venezolanische Erdölwirtschaft kommt hinzu, dass es sich um Schweröl handelt. Das heißt, dass man es mit dem Öl anderer Länder mischen muss, weshalb es hier einen großen Faktor der Abhängigkeit gibt. Nebenbei bemerkt verfügt das Land auch über keine einzige Raffinerie. 93 Prozent der Wirtschaft ist in dem sozialistischen Land vom Erdöl abhängig. Das ist gemeint, wenn vom „Fluch des Erdöls“ die Rede ist.
Wagen wir einen Blick auf die politischen Konstellationen. Bevor Hugo Chavez an die Macht kam, profitierte lediglich eine Oberschicht von ca. 20 Prozent der Bevölkerung vom Erdölrausch. Chavez, der schließlich zehn Jahre nach seinem missglückten Putschversuch 1999 doch noch zum Regierungschef wurde, musste erst noch die Oligarchen im Umfeld der staatlichen PDVSA entmachten, bevor er 2002 endlich zum alleinigen starken Mann in Venezuela wurde. Es folgte eine Reform der Sozialsysteme; alsbald stieg die Alphabetisierungsquote an und die Kindersterblichkeit begann zu sinken. Er setzte auf das aus Brasilien kommende Modell der „Sozialökonomie“, im Rahmen dessen er viele Milliarden in Gemeinschaften fließen ließ, welche sich als eigenverantwortliche Unternehmer etwas aufbauen sollten. Allerdings versickerten diese Gelder nicht selten. Bezeichnend ist, dass auch unter Chavez sehr viel Öl in die USA geliefert wurde. Insofern wird auch manchmal von einer „Show-Revolution“ gesprochen, bediente man sich vordergründig doch einer anti-imperialen Rhetorik, schloss aber zugleich im Hintergrund Deals mit den Imperialisten ab. Mit dem Tod Chavez‘ übernahm Nicolas Maduro die Regierung, letztlich jedoch nicht die Macht. Dafür fehlt ihm die charismatische Führungskraft, mithilfe derer Chavez die Bevölkerung hinter sich einen konnte.
Als logische Konsequenz dessen hat nun ein neuer Mann die Szene betreten. Die Rede ist von Juan Guaidó, der aus den Reihen der radikalen Oppositionellen kommt, die auf eine nordamerikanische Militärintervention setzen. Damit wird die Monroe-Doktrin mit neuem Leben gefüllt, die den lateinamerikanischen Kontinent als Washingtons Hinterhof begreift. Erbarmungslos wird die Sanktionen-Politik (gegen die Bevölkerung), bei der die Wirtschaft als militärisches Instrument genutzt wird, vorangetrieben. Was wir nun also in Venezuela haben, ist eine Patt-Situation mit einem Verlierer: der Bevölkerung. 3 Millionen Venezolaner haben die Flucht ergriffen; 40.000 sind aufgrund von blockierten Medikamenten gestorben.
Unter dem Strich lässt sich also festhalten, dass für Maduro die Fußstapfen des Charismatikers Chavez zu groß sind. Der dadurch entstandene Raum wird derzeit von den oppositionellen Kräften um Guaidó gefüllt. Im Sinne der Bevölkerung kann die Lösung nur in einem Dialog der beiden Lager bestehen. Insofern halten wir es mit Bachelet, die in ihrem Bericht meinte: „Ich wiederhole meinen Appell an die Regierung und die Opposition, ihre Differenzen zu überwinden und Verhandlungen Vorrang einzuräumen.“ 5) KenFM im Gespräch mit: Leo Gabriel (lateinamerika-anders.org); Beitrag vom 21.9.2019
Fußnoten und Quellen:
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