Expansion der Rohstoffgrenzen: Eine lange Geschichte aus Vertreibung, Sklaverei und Landnahme wirkt bis in die Gegenwart
„I got you, babe… I got you, babe…“ – so tönt es allmorgendlich um 6 Uhr aus dem Radiowecker von Phil Connors. Und Kenner unter uns werden angesichts dieser Szene und der Sonny & Cher Melodie schon aufhorchen und den Schauspieler Bill Murray, der Connors in dem 90er-Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ spielt, vor ihrem inneren Auge seine morgendliche Routine abspulen lassen sehen. Tatsächlich ist das Ablaufen einer derartigen morgendlichen Routine ein weit verbreitetes Phänomen. Denn jeden Morgen entsteigen Millionen Europäer den Baumwoll-Laken ihres Bettes, gehen rüber unter die Dusche, deren Wasser durch Kupferrohre fließt, und waschen sich mit Seife, die auf Palmöl basiert. Danach geht’s zum Frühstück mit Tee oder Kaffee sowie Brot mit gezuckerter Marmelade oder Aufschnitt von sojagemästeten Tieren. Dabei ist den wenigsten bewusst, was zuvor alles passieren musste, damit die ganzen Annehmlichkeiten überhaupt erst zur Verfügung stehen, stammt doch ein großer Teil von dem, was wir morgens so gerne nutzen, nicht vom europäischen Kontinent. Es kann gut sein, dass die Baumwolle in China gepflückt wurde, das Palmöl aus Malaysia kommt und das Kupfer in Minen im Kongo abgebaut wurde. Möglicherweise wurde der Kaffee in Kenia, der Tee in Indien, das Zuckerrohr auf Kuba und das Soja in Brasilien geerntet. 1) Wikipedia: Und täglich grüßt das Murmeltier; Stand: 6.5.2019 2) Zeit Online: Nord-Süd-Konflikt: Der große Landraub; Artikel vom 5.9.2018
Blicken wir in die Vergangenheit: Seit vielen Jahrhunderten dienen Rohstoffe und billige Arbeitskräfte, zu manchen Zeiten sogar Sklaven, aus anderen Ländern und Kontinenten Europa und der westlichen Welt als Treibstoff für ihren enormen Wohlstand. Die „Große Divergenz“ – wie es der US-amerikanische Historiker Kenneth Pomeranz ausdrückt – zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden ist dabei Ausdruck des Machtgefälles, innerhalb dessen sich die oftmals ausbeuterischen Praktiken der europäischen Kaufleute und Rohstoffbarone abspielten. Die ideologische Entsprechung scheint dabei der Kapitalismus zu sein, in dessen DNA es steckt, jene geographischen Rohstoffgrenzen permanent voranzutreiben und auszudehnen, um immer wieder aufs Neue Zugang zu noch unerschlossenen Ressourcen zu bekommen – oftmals mit verheerenden ökologischen und sozialen Folgen.
Beispiel Zucker: Zunächst wurde Zucker über ein paar Jahrhunderte als Luxusprodukt auf einigen Inseln im südlichen Mittelmeer angebaut. Mit der Expansion der Rohstoffgrenzen verlagerte sich der Zuckerrohranbau in der Folge auf Inseln vor der afrikanischen Küste wie die Kanaren, ehe er den Weg in die neuen europäischen Kolonien jenseits des Atlantiks in Südamerika und der Karibik fand. Einher mit der damit verbundenen Landnahme ging eine Vertreibung in großem Stil: Geschätzte zwei Millionen Arawak und Kariben wurden ihres Landes enteignet oder sogar getötet. Gleichzeitig wurden Sklaven aus Afrika angeschifft, welche die Wälder für die riesigen Plantagen rodeten. In den Geschichtsbüchern ist von der sogenannten „Plantagenmaschinerie“ die Rede: einer Kombination von industrieller Landwirtschaft, neuartiger Arbeitsorganisation, Sklaverei und Landraub. Während in den Landstrichen rund um die Plantagen die Bevölkerung unter den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu leiden hatte, brachten es einige Zuckerbarone zu überbordendem Reichtum. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei blieb das krasse Abhängigkeitsverhältnis weiter bestehen. Infolge der „Kontraktarbeit“ wurden Millionen von Arbeitern durch ausbeuterische Verträge in die Lohnabhängigkeit gedrängt und so an die Zuckerindustrie gebunden. 3) Zeit Online: Nord-Süd-Konflikt: Der große Landraub; Artikel vom 5.9.2018
Reisen wir in die Gegenwart und begeben uns nach Kambodscha. „Seit Mitr Pohl unser Land weggenommen hat, haben meine Familie und ich sehr gelitten. Mein Haus wurde niedergebrannt. Ich wurde ohne Grund festgenommen, so dass meine Familie nichts mehr zu Essen hatte und ich Müll sammeln musste, um zu überleben. Bis heute habe ich weder Land noch ein Haus“, berichtet Ma Okchoeurn, eine vertriebene kambodschanische Bäuerin. Der thailändische Konzern Mitr Phil ist der weltweit viertgrößte Zuckerproduzent und versorgt bekannte Marken wie Coca-Cola, Pepsi, Nestlé und Mars mit dem weißen Gut. Die Expansion des Unternehmens in die kambodschanische Provinz Oddar Meanchey im Nordwesten des Landes war verbunden mit „gewaltsamen Vertreibungen, dem Niederbrennen von Häusern, der Plünderung von Ernten und Vieh sowie der Inbesitznahme von Land örtlicher Bauern“, wie die Menschenrechtsorganisation FIAN berichtet. Mit anderen Worten: Alter Wein in neuen Schläuchen. 4) epo.de: Kambodscha: Beschwerdeverfahren gegen Zuckerzertifizierer Bonsucro; 13.3.2019 5) FIAN: Pressemitteilung: Landgrabbing – Klage gegen größten asiatischen Zucker-Produzenten; nicht mehr verfügbar
Beispiel Baumwolle: Mit der Industriellen Revolution und der Expansion der europäischen Textilindustrie im späten 18. Jahrhundert begann der Siegeszug des „weißen Goldes“. Anfänglich in Brasilien und der Karibik, verlagerte sich das Zentrum des Anbaus in den 1790er Jahren in die USA, von wo Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als drei Viertel der in europäischen Fabriken verarbeiteten Baumwolle stammten. Damit bestand der US-Außenhandel um das Jahr 1850 zu 60 Prozent aus dem weißen Gut! Praktisch folgte die Baumwollindustrie dem Zuckermodell: Landnahme und Sklavenarbeit standen Pate bei der Ausdehnung der Baumwoll-Rohstoffgrenzen. Nach der Abschaffung der Sklaverei ging das Ausbeutungssystem in eine „Pachtbauernschaft“ über, im Rahmen derer sich die ehemaligen Sklaven durch Knebelverträge mit den weißen Landbesitzern in eine Schuldknechtschaft treiben ließen. Eine grassierende Armut unter den Bauern war die Folge. Alsbald verschob sich die „Baumwollgrenze“ weiter Richtung Indien, Ägypten, Zentralasien und Westafrika. Stete Begleiter jener „Grenze“ waren extreme Armut, politische Unterdrückung und Zwangsarbeit. Ende des 19. Jahrhunderts verhungerten in Indien nach Schätzungen der britischen Medizinzeitschrift „The Lancet“ 19 Millionen Bauern infolge magerer Ernten. Die meisten Toten zählte man in den Gegenden des Baumwollanbaus. 6) Zeit Online: Nord-Süd-Konflikt: Der große Landraub; Artikel vom 5.9.2018
Springen wir ein weiteres Mal in die Gegenwart und nach Afrika. Von den Plantagen Burkina Fasos gibt es gute Nachrichten. Mit 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ist die Baumwollproduktion in dem westafrikanischen Land einer der größten Wirtschaftsfaktoren. Insgesamt 4 Millionen Menschen, also 30 Prozent der Bevölkerung, hängen direkt oder indirekt von der Baumwollindustrie ab. Als im Jahr 2009 – einhergehend mit süßen Versprechungen seitens des Konzerns hinsichtlich Gewinnsteigerungen – Monsantos genmanipulierte Baumwolle „Bollgard II“ eingeführt wurde, waren die Bauern noch geblendet ob der erwarteten Produktionserhöhung. Einige Jahre später machte sich Ernüchterung breit:
„Die Samen von Monsanto waren sehr teuer: 27.000 CFA-Francs (41 €) für einen Hektar, gegenüber 1.000 CFA-Francs (1,50 €) für den konventionellen Baumwollsamen. Uns wurde gesagt, dass wir weniger Arbeit mit gentechnisch veränderter Baumwolle (CGM) hätten. Aber nach zwei Jahren mussten wir feststellen, dass der Arbeitsaufwand mindestens so groß war wie zuvor, und die Qualität der Baumwolle war schlechter. Wir haben Zeit und Geld mit der CGM verschwendet. Dabei wurde uns eine reichhaltigere Ernte versprochen, bis zu angeblichen 30% mehr pro Hektar und somit 60% mehr Gewinn“,
sagt Nikiembio Coulibaly, Besitzer einer 17 Hektar großen Baumwollfarm in der Nähe der Stadt Houndé. Tatsächlich war sogar das Gegenteil der Monsanto-Versprechungen der Fall und es kam neben dem Verlust an Qualität auch zu einem Rückgang der Ernte. Schließlich beschloss man, Monsanto aus dem Land zu werfen. Dieser mutige Schritt sollte den 85 Prozent der Baumwollproduzenten, die leider in genmanipuliertem Saatgut investiert sind, als Vorbild dienen, erholte sich die Branche in Burkina Faso doch in der Folge. 7) Epoch Times: Burkina Faso: Bauern lehnen sich gegen den Giganten Monsanto auf – und fahren seitdem Rekordernten ein!; nicht mehr verfügbar 8) Netzfrauen: Hurra! Zurück zum einheimischen Saatgut – Monsanto verliert Millionen in Indien; Artikel vom 22.12.2017 9) Gen-ethisches Netzwerk e.V.: Burkina Faso: Klage gegen Monsanto; Stand: 6.5.2019
Was war noch einmal die Quintessenz bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Erst als Phil Connors (Bill Murray) Liebe –man könnte auch sagen: Bewusstheit – in sein Leben brachte, wurde er aus seinem Routine-Tagesablauf befreit. Übertragen auf unseren Artikel würde das bedeuten: Unsere Macht als Konsumenten liegt darin, möglichst bewusst Produkte zu kaufen, die – bezogen auf unsere Beispiele – frei von genmanipulierter Baumwolle sind. Und möglicherweise ist es für den ein oder anderen ja auch eine Option, wenn nicht gänzlich auf Zucker zu verzichten, doch seinen Konsum zu reduzieren? Die Gesundheit würde es jedenfalls danken. Darüber hinaus sollten wir verstehen, dass es einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Situation und einer 600 Jahre langen Geschichte der Rohstoffgrenzen-Expansion gibt – und jene Menschen unterstützen, die an weit entfernten Orten den Treibstoff dafür zur Verfügung stellen, dass wir unsere privilegierte Lebensweise aufrechterhalten können. Wir schulden ihnen – mindestens – unsere Aufmerksamkeit. 10) Wikipedia: Und täglich grüßt das Murmeltier; Stand: 6.5.2019 11) Zeit Online: Nord-Süd-Konflikt: Der große Landraub; Artikel vom 5.9.2018
Fußnoten und Quellen:
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