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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
earthlink im Gespräch mit: Arnold Hottinger (Teil 3: Der Jemenkrieg)
Jemen: Blog & Interview mit Arnold Hottinger
Der dritte und letzte Teil unseres Interviews mit dem Orientalisten Arnold Hottinger, welchen Ihr auch wieder sowohl (weiter unten) im Blog lesen könnt als auch im Podcast hören könnt, hat einen fast vergessenen Krieg zum Thema: Im Jemen spielt sich nach Angaben der Vereinten Nationen gerade die schwerste humanitäre Krise der Gegenwart ab. Aus geostrategischer Sicht geht es dort um die Frage, wer den Ölexport aus der ölreichsten Region der Welt kontrolliert – und so kämpfen der Iran und Saudi Arabien in einem Stellvertreterkrieg in dem Nachbarland um ihre Vorherrschaft. Jemen liegt für all die Länder, die Geschäfte mit Erdöl betreiben, außerordentlich günstig. Im Norden grenzt es an Saudi-Arabien, im Osten an Oman, im Süden an das Arabische Meer und im Westen an das Rote Meer. Aus diesem Grund ist die südwestliche Küste mit der nur 27 Kilometer breiten Meerenge Bab al-Mandab strategisch sehr wichtig. Das „Tal der Tränen“ – wie es in der deutschen Übersetzung heißt – erhielt seinen Namen einer Legende nach aufgrund eines Erdbebens, das den afrikanischen vom asiatischen Kontinent geteilt und dabei viele Menschen in den Tod gerissen haben soll. Heute fahren hier Erdöltanker durch und bringen pro Tag fast vier Millionen Fass Rohöl vom Persischen Golf durch den Suezkanal ins Mittelmeer und nach Europa. Es ist die einzige Seeverbindung zwischen dem Roten Meer, dem Golf von Aden und dem Indischen Ozean. 1) Daniele Ganser: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien; 8. Auflage 2017 2) Neue Zürcher Zeitung: Das Tor der Tränen; Artikel vom 25.7.2014 3) Zeit Online: Huthi-Rebellen sind zur Waffenruhe bereit; Artikel vom 19.11.2018
Der großen geopolitischen Bedeutung der Passage trugen die Chinesen im August 2017 dadurch Rechnung, dass sie ihren allerersten Militärstützpunkt im Ausland mit 5000 Mann auf der afrikanischen Seite der Meerenge im kleinen Land Djibouti errichteten. Auch Amerikaner, Japaner, Deutsche und Franzosen sind dort mit Stützpunkten präsent. Seit dem Jahr 1999 haben die USA dort 4000 Mann in ihrem berüchtigten Camp Lemonnier stationiert. Von dort aus werden die Interessen des Hegemons in dem Knotenpunkt der internationalen Handelsrouten gesichert sowie sämtliche Spezialoperationen im Jemen und Somalia koordiniert. Nur 10 Kilometer von dem Camp entfernt liegt übrigens der geheime Flugplatz Chabelley, von dem aus die USA ihre Drohnenangriffe auf den Golf und den Nordwesten von Afrika fliegen lassen. Lemoir ist so entscheidend für die USA, dass sich das Pentagon im Jahr 2014 durch eine Vereinbarung über 70 Millionen Dollar pro Jahr mit dem Langzeitherrscher Ismail Omar Guelleh die Verlängerung seines Mietvertrages für das Camp bis zum Jahr 2044 sicherte. Damit schützen sie ihre Interessen an der belebten Handelsroute und versuchen die brisante Meerenge unter ihre Kontrolle zu bekommen. Neben den Flüssigtransporten gehen dort jährlich auch zehn Millionen Standardcontainer durch. Ein Großteil aller in China und Südostasien hergestellten Produkte läuft also zwischen dem Jemen und Somalia ins Rote Meer. Kurz gesagt: Das Bab al-Mandab ist das Nadelöhr der Globalisierung. Tatsächlich lassen sich also die andauernden Kriege im Jemen auch aus ihrer strategischen Lage für die Weltwirtschaft erklären. Die Golf-Monarchien, die USA, die Europäer und inzwischen auch die Volksrepublik China wollen diesen Transportweg unbedingt unter ihre Kontrolle bekommen. 4) Daniele Ganser: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien; 8. Auflage 2017
Hottinger geht in seinen Einschätzungen auch auf die verschiedenen Religionsschulen sowie die gesellschaftlichen Machtstrukturen ein, aus denen heraus sich dieser Krieg erklären lässt:
earthlink: Ok. Vielleicht blicken wir noch auf den Jemen. Da würde mich einfach mal interessieren: Was würden Sie sagen: Worum geht’s im Jemen? Ist das ähnlich wie im Syrienkrieg?
Arnold Hottinger (AH): Die Saudis haben eine schiitische Minderheit in den Erdölgebieten. Also die dortige ursprüngliche Bevölkerung sind Schiiten und werden schlecht behandelt von den Saudis. Und deshalb ist die ganze Hysterie der Saudis gegen die Schiiten auch eine innenpolitische Angelegenheit. Sie müssen also Angst haben vor ihrer eigenen Bevölkerung, weil sie Schiiten sind. Und die Iraner von ihrer Seite haben eine Politik: Wir stützen uns auf alle Schiiten in der arabischen Welt, darunter auch die…
earthlink: …die Huthis?
AH: Ja, die Schiiten in Saudi-Arabien, das sind Zwölfer. Es gibt also verschiedene Arten von Schiiten. Und auch auf die Fünfer-Schiiten, die im Jemen da sind. Die Huthi-Bewegung ist eine schiitische Bewegung, aber ein anderer Zweig des Schiismus. Man nennt die die Fünfer. Das sind die Imame, die man hat. Also die Schiiten haben Imame…
earthlink: …verschiedene Religionsschulen…
AH: …ja, wenn Sie wollen – wie Protestanten und Katholiken. Und weil sie eben doch zum schiitischen Gesamtblock gehören, haben die Saudis Angst vor diesen Huthis. Die Huthis sind eine Wiederbelebung des Fünfer-Schiismus von Jemen. Sie haben angefangen 2004 und haben zuerst gegen die eigene Regierung gekämpft, sind nie ganz untergegangen und haben sich dann mit dem abgesetzten Präsidenten verbündet und sind deshalb so mächtig geworden, dass sie fast ganz Jemen – jedenfalls den bewohnten Jemen, die Wüsten sind wieder ein bisschen anders – besetzen konnten. Und das ist immer noch die Lage. Und die Saudis haben Angst davor und versuchen das zu ändern. Deshalb bombardieren sie seit 2015.
earthlink: Wie ist denn da die aktuelle Lage im Jemen? Zeichnet sich ab, wer diesen Krieg gewinnen wird?
AH: Nein, man weiß es nicht. Es ist sehr schwer zu sagen. Die Schwierigkeit ist, dass die Saudis keine guten Truppen haben. Sie haben nur Bomben. Und mit den Bomben versuchen sie, das fruchtbare Land von Jemen so weit zu ruinieren, dass die Jemeniten verhungern. Das ist der Zweck der Übung. Und ob ihnen das gelingt oder ob sie da doch unter Druck gesetzt werden, Abstriche machen müssen, weiß man nicht. Es geht jetzt augenblicklich um… gibt es einen Kampf um Hodeida. Hodeida ist die große Hafenstadt, über die alles Brot, das im Jemen gegessen wird, ankommt. Und wenn sie die wirklich erobern können, macht ihr Plan, die Huthis auszuhungern, einen gewissen Fortschritt. Aber das tragische an der Sache ist – in jedem Krieg: die Armeen sind die letzten, die verhungern. Vorher verhungern die Zivilisten.
earthlink: Es ist ja eine der größten humanitären Katastrophen des 21. Jahrhunderts laut UN.
AH: Ja, ja. Wenn Sie die Zahlen nehmen, nicht? 6 Millionen, die hungern, ist eine schlimme Sache.
earthlink: Manche Leute sagen, dass es in diesem Krieg irgendwo auch um diese Meerenge geht… wie heißt sie nochmal…
AH: Bab el-Mandeb.
earthlink: Ganz genau… um die Kontrolle dieser Meerenge. Ich mein‘, da fährt natürlich auch ein großer Teil des Erdöls hindurch. Können Sie dazu noch etwas sagen?
AH: Ja, das geht da durch, das stimmt schon. Aber ich würde sagen, es gibt den ehrgeizigen Prinzen – Kronprinzen – der Emirate. Mohammed bin Zayed. MBZ. Und er hat überflüssiges Geld und Ehrgeiz. Und er hat in England eine Offiziersschulung durchgemacht und will seine Macht ausdehnen. Und deshalb möchte er diese Meerenge kontrollieren. Deshalb ist er auch der beste Verbündete der Saudis. Aber ob er das fertig bringt und was das bringt, ist eigentlich sehr offen. Wenn Sie das ansehen: Alle Weltmächte bemühen sich um Basen in dieser Meerenge und jeder will da seine Finger drin haben. Nicht nur die Saudis und die Emiratis, sondern eben auch die Franzosen, die in Djibouti sitzen und die Amerikaner. Und dann gibt es die Lokalen: Eritreer und Somalier – Somaliland –, die dort Basen zur Verfügung stellen. Die Chinesen sind da. Was wollen sie?
earthlink: Ja. Total spannend. Jetzt sind wir an einem Punkt, also ich denke, jetzt haben wir weitestgehend alles abgedeckt. Ich habe jetzt keine Fragen mehr. Gibt es denn aus Ihrer Sicht noch etwas, wo Sie meinen, dass es wichtig wäre zu ergänzen?
AH: Also, ich würde sagen, einfach allgemein: die Nahost-Dynamik muss gesehen werden als das Produkt der Ängste und des Ehrgeizes von einzelnen Personen, die sich durchgesetzt haben, die absolut regieren. Und nur so versteht man, was passiert im Nahen Osten.
earthlink: Ja, mich würde einfach noch interessieren, ich mein‘, Sie waren so viele Jahre im Nahen Osten, sprechen auch die Sprachen, kennen die Mentalität der Menschen. Was haben Sie da gelernt – das würde mich einfach auch persönlich interessieren –, was ist so ihr Fazit hinsichtlich des Nahen Ostens, was Sie vielleicht auch den Menschen hier in Europa mitgeben können?
AH: Die große Schwierigkeit ist, dass all diese Gesellschaften heute gespalten sind in eine Oberschicht, die sich der Globalisierung zuwendet, Geschäfte macht nach außen. Das war früher… hat sie Geschäfte gemacht mit den kolonialen Metropolen, also London und Paris und so weiter. Und heute hat sich das ausgedehnt in die Globalisierung hinein. Die können Fremdsprachen, die schicken ihre Kinder in die fremden Schulen und die sind im Allgemeinen auch die Gesprächspartner der Diplomatie der westlichen… und auch der Russen selbstverständlich, also der Außenwelt. Aber sie sind nur eine kleine Minderheit. Die großen Massen leben in ihrer angestammten islamischen Kultur. Und diese islamische Kultur verarmt, weil die Oberschichten sich nicht für sie interessieren. Also die Oberschichten leben Europa zugewandt, die Unterschichten leben in ihrer verarmenden islamischen, traditionellen Kultur. Und die Unterschichten sind zehnmal größer als die Oberschichten.
earthlink: Ja, spannend. Globale Elite sozusagen.
AH: Ja, das kann man so nennen. Nur sind sie ziemlich wurzellos.
earthlink: Ja, super spannend, lieber Herr Hottinger. Herzlichen Dank für das Interview.
AH: Danke Ihnen.
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Bild 2: © Henry Ridgwell [public domain] – Wikimedia Commons
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Fußnoten und Quellen:
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