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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
earthlink im Gespräch mit: Arnold Hottinger (Teil 1: Der Syrienkrieg)
Syrien: Blog & Interview mit Arnold Hottinger
Im Rahmen unserer letzten Radiosendung mit dem Titel „Erdölkriege in Nahost“ haben wir uns auf die Straße begeben, um von den Passanten zu erfragen, was sie über die aktuelle Lage in Syrien wissen. Dabei zeigte sich uns folgendes Bild über die Informiertheit der Menschen: Viele konnten angesichts der dortigen komplexen Gemengelage, der vielen dort beteiligten, unterschiedlichen Akteure und der sich über die Zeit hinweg immer wieder verändernden Macht-Konstellationen und Allianzen zwar vage über die dortigen Zusammenhänge sprechen, ein tiefgehendes Verständnis war jedoch selten anzutreffen. Oftmals hat sich leider sogar die Fehlinformation in das kollektive Gedächtnis eingebrannt, bei dem Syrienkrieg handele es sich um einen Bürgerkrieg „Assad gegen sein Volk“, frei von jeglichen ausländischen Interferenzen. Das ist falsch. 1) Daniele Ganser: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien; 8. Auflage 2017
Die in diesen Umfragen gewonnene Erkenntnis über unsere teilweise wohl auch bewusst vage gehaltene Informiertheit über diese wichtigen Themen, wollen wir heute zum Anlass nehmen, um noch einmal in die Syrien-Problematik einzusteigen, kurz auf die aktuellen Entwicklungen zu blicken, um dann den ganzen Konflikt tiefgehend, aber dennoch leicht verständlich zu durchdringen.
Dazu haben wir einen Experten geladen, der ein wahrhafter Kenner des Nahen Ostens ist, hat er doch selbst 15 Jahre im Libanon gelebt und von dort aus viele Jahre unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung über die Geschehnisse an dem weltpolitischen Brennpunkt berichtet. Die Rede ist von Arnold Hottinger, Schweizer Urgestein der Auslandsberichterstattung und altehrwürdiger Beobachter und Analyst geopolitischer Zusammenhänge. Schon Kanzler Adenauer sagte seinerzeit, er erführe durch Hottingers Berichte mehr aus der Region, als durch seinen gesamten diplomatischen Stab. Ihn baten wir am 5. Dezember 2018 anlässlich unserer Radiosendung zum Interview, in dem er uns einen Einblick in „seinen“ Nahen Osten eröffnete, den wir Euch nicht vorenthalten wollen. Dieses Interview könnt ihr Euch sowohl als Podcast anhören als auch im Transkript (s. unten) durchlesen. 2) KenFM im Gespräch mit: Arnold Hottinger (Teil 1); Beitrag vom 4.1.2014
Doch blicken wir zunächst noch darauf, was sich seit dem Interview in der Krisenregion ereignet hat: Eine Woche vor Weihnachten kündigte US-Präsident Trump überraschend an, dass das US-Militär –alle dort eingesetzten 2000 Soldaten – aus Syrien abgezogen werden soll. Diese Nachricht nahmen sicherlich viele Menschen als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk auf. So erfreulich diese unverhoffte Wendung auch ist, so ist dennoch weiter Vorsicht geboten: Zum einen sind unverhoffte Wendungen und Kurswechsel geradezu Kennzeichen von Trumps Politik, so dass nicht klar zu sagen ist, ob dieser Kurs auch noch morgen gefahren wird, zum anderen kann ein Truppenabzug ja aber auch bedeuten, dass Kapazitäten frei werden, die andernorts genutzt werden können. Dennoch ist der Truppenabzug erst einmal eine erfreuliche Nachricht. 3) Spiegel Online: Syrienkonflikt. Befehl zum Abzug der US-Truppen unterzeichnet; Artikel vom 24.12.2018
Gerade ist zu beobachten, dass der türkische Präsident Erdogan das nun entstandene Machtvakuum in Nordsyrien insofern nutzt, als er große Teile seiner Truppen gegen die ehemals US-gestützten PKK-nahen Kurden-Milizen der YPG in Stellung bringt. Auch in der Provinz Idlib, in der islamistische Dschihadisten ihre letzten Gebiete gegen Assad verteidigen, mischt Erdogan gegen Assad mit. Wie sich hier die türkische Strategie künftig den aktuellen Gegebenheiten anpassen wird, wird man sehen. 4) Spiegel Online: Schutz der Kurden in Syrien. Erdogan lässt Bolton abblitzen; Artikel vom 8.1.2019
Doch hören beziehungsweise lesen wir nun, wie Arnold Hottinger auf den Syrienkrieg blickt.
earthlink: Gut, Sie waren ja viele Jahre selber auch im Nahen Osten, haben dort gelebt – 15 Jahre im Libanon – und ich bin gespannt auf Ihre Sicht der Dinge.
Bezüglich des Syrienkrieges: Worum geht es da aus Ihrer Sicht?
Arnold Hottinger (AH): Ob Assad bleibt oder nicht – und er wird bleiben. Nun, natürlich gibt es ausländische Interferenzen, und die sind natürlich auf beiden Seiten – wobei die Türken eine Mittelstellung einnehmen heutzutage. Sie waren einmal ganz anti-Assad, aber sie sind jetzt… sagen wir, ein Flügel von den Russen und den Iranern, die eben ganz auf Seiten Assads stehen.
Auf der anderen Seite hat Saudi-Arabien zu Beginn dieses Widerstandes ebenfalls mitgeholfen auf Seiten der Rebellen. Warum? In erster Linie wegen Iran. Und das ist jetzt auch abgeschwächt, weil auch die Saudis sehen: Assad kommt durch und ihre Seite, die sogenannten Rebellen, verlieren. Aber es sind Machtfragen, es sind in erster Linie Machtfragen. Und Macht und Sicherheit gehen zusammen. Die Machthaber im Nahen Osten sind mit Recht um ihre Sicherheit besorgt, sie werden immer wieder in Frage gestellt und sie tun alles, um auf ihrem Machtposten zu bleiben.
earthlink: Sprechen Sie da in erster Linie von Menschen wie Assad und den iranischen Machthabern oder bezieht sich das wahrscheinlich auch auf Netanjahu oder auf jegliche Machthaber…
AH: Na ja, Netanjahu hat ein eigenes Programm, von dem haben wir noch gar nicht geredet. Dessen Programm ist in erster Linie, die besetzten Gebiete einzuverleiben. Aber auch Saudi-Arabien hat Machtfragen und Machtprobleme. Also die Herrscher in Saudi-Arabien sind ihrer Sache nicht absolut sicher, können ihrer Sache nicht sicher sein. Das wackelt auch. Und deshalb greifen sie alle ihren vermuteten Feind, ihren vermuteten Gegner an.
earthlink: Also für Menschen, die vielleicht jetzt noch nicht so den detaillierten Blick auf den Nahen Osten haben, die meinetwegen Neuanfänger sind in dem ganzen Bereich: Es gibt ja die These, dass es im Syrienkrieg mehr oder weniger um Erdöl geht, dahingehend, dass Syrien zwar selber nicht erdölreich ist, aber dass es ein wichtiges Transitland für Pipelines ist.
AH: Ja, es ist ein Durchgangsland.
earthlink: …ein Durchgangsland, genau. Es gibt ja sozusagen zwei konkurrierende Pipelinepläne, wenn man so will. Eine sunnitische – wenn man es jetzt mal anhand der Religionen aufdröseln will – Pipeline von Katar durch Syrien in die Türkei – also geplant zumindest – und eine schiitische Iran-Irak-Syrien-Pipeline. In beiden Fällen wäre Syrien betroffen und es wären sozusagen konkurrierende Pläne. Inwiefern spielt dieser Aspekt im Syrienkrieg aus Ihrer Sicht eine Rolle?
AH: Er ist da – selbstverständlich -, aber er ist erstens sekundär und zweitens abhängig davon, wie sich die gesamtpolitischen Verhältnisse, Spannungen oder Freundschaften im Nahen Osten entwickelt haben. Die syrisch-iranische Freudschaft ist eine alte Sache. Die datiert seit der Zeit von Saddam Hussein. Im Grunde war es immer eine Frage der Feindschaft gegen Irak. Als Irak noch sunnitisch war. Heute ist Irak stark schiitisch gefärbt in der Machtfrage. Die Schiiten sind die erste Macht im Irak und deshalb hat Iran diesen Vorteil, dass es nun einen Korridor schaffen kann. Und wenn man einen Korridor schafft, ist das militärisch: die Iraner wollen ihre Soldaten oder ihre Milizen in Syrien festsetzen. Und es ist auch natürlich Petrol! Warum nicht? Wenn man eine Straße hat, dann soll man die Straße begehen.
Aber es ist nicht primär. Primär ist meiner Ansicht nach, wie sich die Verhältnisse unter den verschiedenen Machthaber entwickelt haben und weiter stehen. Und Verhältnisse heißt auch immer Furcht voreinander.
earthlink: Also würden Sie das sozusagen auf eine – wenn man so will – fast schon persönliche Ebene der Machthaber herunterbrechen, im Sinne von: Wenn sich der eine Machthaber mit dem anderen gut versteht, dann ist es auch möglich, meinetwegen eine Pipeline zu bauen. Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist es nicht möglich.
AH: Dann eben nicht, ja. Weil Pipelines kosten ja Geld. Wer will Geld anlegen in eine Pipeline, die nicht funktionieren wird?
earthlink: Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Bevölkerungen? Weil ich mein‘: die Machthaber sind ja natürlich irgendwie auch eng verquickt mit den Interessen oder der Stimmung im Volk. Gibt es aus Ihrer Sicht da einen Zusammenhang?
AH: Ja, natürlich gibt es Zusammenhänge. Aber es ist auch wieder sehr spezifisch. In Syrien ist ganz klar, dass die Alawi, zu denen auch Assad gehört, die eigentliche Macht inne haben. Und da sie wissen: wenn sie fallen, dann geht es ihnen an den Kragen. Und deshalb ist das Assad-Regime so solide. Die Alawi können sich keinen Staatsstreich erlauben. Im Iran ist es wieder ganz anders. Da ist eben diese theologische Macht da, der herrschende Gottesgelehrte. Und da gibt es die Revolutionswächter und da gibt es die Bevölkerung. Und das sind alles unterschiedliche und manchmal kontradiktäre Belange.
Eine wichtige Rolle spielen überall, wo Sie diese einzelnen Machthaber haben, die Geheimdienste. Man regiert eigentlich durch die Geheimdienste. Und die sind eng verbunden mit dem Machthaber. Auch wieder: Wenn er fällt, dann fallen sie auch.
earthlink: Sie haben vorhin schon einmal gesagt: „Assad wird bleiben“. Was veranlasst Sie zu dieser Erkenntnis? Ist es, dass militärisch anscheinend der Krieg schon gelaufen ist, oder? Könnte man das so sagen, seit der Rückeroberung von Aleppo?
AH: Ich würde nicht sagen, Assad bleibt, sondern ich würde sagen: Assad gewinnt! Das ist ein bisschen was anderes. Und natürlich gewinnt er militärisch und er hat gewonnen dank der Hilfe der Russen und der Iraner. Und deshalb ist er auch sehr abhängig von beiden. Wie das dann weitergeht mit dem Aufbau, mit dem Wiederaufbau von Syrien, der sehr schwierig werden wird, das ist eine andere Frage. Und wie weit sich Assad wieder festigen kann, das ist auch einen andere Frage. Da kommt ein bisschen herein, was seine Partner, die Russen und die Iraner, wollen. Die Russen möchten möglichst schnell eine stabile Lage schaffen in Syrien, wo sie von ihrem politischen Gewinn – den beiden Basen – profitieren können. Wenn es unstabil bleibt, müssen sie entweder immer viele Soldaten da hinschicken, was sie Geld kostet, oder sie müssen auf diese Basen verzichten.
earthlink: Sprechen Sie von Tartus und Latakia, oder?
AH: Ja, also bei Latakia ist die Luftbasis und dann gibt es Tartus, das ist die Marinebasis. Und beide sind jetzt durch Verträge auf 50 Jahre umsonst gesichert.
earthlink: Ok. Das Thema Religion hatten wir im Prinzip ja schon angesprochen. Aber nochmal grundsätzlich gefragt: Man kann schon sagen, im Nahen Osten ist es sozusagen eine Linie, ob man ein schiitisches Land ist bzw. einen schiitischen Machthaber hat oder einen sunnitischen, oder? Je nach dem verschieben sich wahrscheinlich die Machtblöcke. Sie haben ja gesagt, der grundsätzliche Grund für Krieg ist die Furcht der einzelnen Machthaber voreinander. Aber es gibt ja auch die Linie der Religionen. Können Sie dazu noch etwas sagen?
AH: Ja, also im Nahen Osten sind die Nationalstaaten jung und bis zu einem gewissen Grad künstlich, gemacht von den Europäern. Was viel älter ist und einen viel stärkeren Zusammenhang bringt, ist die Religionsgemeinschaft. Es kommt nicht drauf an, ob man Schiit oder Sunnit ist – beide sind Gemeinschaften, die über die Grenzen hinausgehen und die viel älter sind als die nationalen Grenzen. Und deshalb haben sie immer eine große Wirkung. Man hat es sehr gut gesehen: als diese radikale Richtung des IS – Islamischer Staat – im Irak zustande kam, hat er sofort nach Syrien übergegriffen. Weil eben diese Grenzen sekundär sind. Primär ist die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft.
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Fußnoten und Quellen:
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