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Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ein besseres Leben zu suchen? | Bild: © earthlink e.V. [alle Rechte vorbehalten] -
Vergewaltigt und dann vom afghanischen Justizsystem angegriffen
„Ich werde nie wieder einen solchen Fall melden“, sagt Farida, eine Hebamme im ländlichen Afghanistan, nachdem sie von einem Richter in einem öffentlichen Gerichtssaal gedemütigt wurde. Sie hatte versucht, einen Fall sexuellen Übergriffs an zwei Kindern zu dokumentieren.
Farida ist die einzige Frau mit medizinischer Ausbildung im Umkreis von 80 Kilometern um ihr abgelegenes Bergdorf. Aus diesem Grund wandte sich vor etwa sechs Monaten eine Familie an sie, als ihre sechs und sieben-jährigen Töchter über Bauchschmerzen klagten. Nachdem Farida die Mädchen untersucht hatte, stellte sie fest, dass beide Verletzungen hatten, die mit sexuellen Übergriffen übereinstimmten, und meldete dies der Staatsanwaltschaft. In den folgenden drei Monaten wurden die Mädchen dreimal zur sogenannten „Jungfräulichkeitsprüfung“ geschickt – dabei handelt es sich um invasive Untersuchungen, die von afghanischen Amtsärzten durchgeführt werden, um festzustellen, ob eine Frau oder ein Mädchen eine „Jungfrau“ ist. In Wirklichkeit haben diese Verfahren jedoch keine wissenschaftliche Gültigkeit und können als sexuelle Übergriffe angesehen werden. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet sie als entwürdigend und drängt das Gesundheitspersonal, diese nicht durchzuführen. Bei den beiden Mädchen, denen Farida helfen wollte, verschlimmerten die wiederholten Untersuchungen das Trauma nach dem Missbrauch. Als die Eltern sie zum dritten Mal in eine Klinik brachten, schluchzten sie und bettelten darum, nicht noch einmal getestet zu werden.
Der Angreifer der Mädchen, ein 17-jähriger Junge, wurde schließlich wegen sexueller Übergriffe verurteilt. Nachdem der „Jungfräulichkeitstest“ jedoch nicht beweisen konnte, dass eine Vergewaltigung stattgefunden hatte, drohte der Richter der Hebamme und sage: „Ich könnte dich wegen falscher Berichterstattung zu einer Gefängnisstrafe verurteilen, aber ich vergebe dir dieses Mal, weil du eine Frau bist. Aber sei in Zukunft vorsichtig.“ Farida wurde nach der Gerichtsverhandlung auch zu Hause mit Problemen konfrontiert. Ihre Nachbarn sagten, sie habe ihre Gemeinschaft entehrt, weil sie den Fall gemeldet hatte. Infolgedessen wurde in der Gemeinde beschlossen, zukünftige Fälle nicht mehr zu melden.
In einem Bericht aus dem Jahr 2016 nannte die unabhängige Menschenrechtskommission der afghanischen Regierung „Jungfräulichkeitstests“ eine Form des sexuellen Übergriffs, die abgeschafft werden sollte. Afghanische Offizielle behaupten, dass die Regierung die Untersuchungen bereits verboten habe, jedoch berichteten Beamten, dass die Praxis weiterhin sehr verbreitet sei. Auch viele Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte ordnen nach wie vor regelmäßig „Jungfräulichkeitstests“ an. 1) Human Rights Watch: Raped, the Assaulted by the Afghan Justice System. Abusive ‚Virginity Exams‘ Re-Traumatize Victims; 13.12.2017
In kaum einem anderen Land haben es Frauen und Mädchen so schwer wie in Afghanistan. Gewalt gegen sie ist alltäglich: begonnen bei Früh- und Zwangsheiraten bis hin zu häuslicher Gewalt und sogenannten Ehrenmorden, Vergewaltigungen und Enteignungen. Laut einer Studie der UN Women werden 60 Prozent aller Ehen in Afghanistan unter Zwang geschlossen, häufig sind die Frauen keine 16 Jahre alt. Des Weiteren ist mehr als die Hälfte der weiblichen Gefängnisinsassen wegen moralischer Verbrechen verurteilt. Sie werden wegen Ehebruchs angeklagt, obwohl es sich in den meisten Fällen um Vergewaltigung oder Zwangsprostitution handelt. Auf dem Papier haben Frauen seit 2009 zwar die gleichen Rechte wie Männer, in der Praxis wird dies von den Richtern jedoch nur selten umgesetzt. Ein selbstbestimmtes Leben ist für die meisten Afghaninnen kaum möglich. 2) Medica Mondiale: Frauenrechte in Afghanistan – Anstieg von Gewalt; Stand vom 15.12.2017 3) Spiegel Online: Afghaninnen In Deutschland. „Hier bin ich ein Mensch“; 06.09.2016
Nach Syrien ist Afghanistan das Land, aus welchem die meisten Menschen flüchten – im Jahr 2016 waren es 2,5 Millionen und ein großer Teil davon sind Frauen. Die Situation in dem Land ist nach wie vor katastrophal, die Jahre des Krieges haben tiefe Wunden hinterlassen. Unmittelbar nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York marschierte die US-Armee in Afghanistan ein – der längste Krieg in der amerikanischen Geschichte begann. Heute, knapp sechzehn Jahre später, ist der Kampf nach wie vor nicht beendet – rund vierzig Prozent der Bezirke in dem Staat sind in der Hand extremistischer bewaffneter Gruppen. Afghanistan ist wirtschaftlich am Boden, die Armut wächst. Dass Frauen dort von der Gesellschaft nicht respektiert werden, hat auch mit diesen Entwicklungen zu tun. Mangelnde Bildung und weiterhin erstarkende fundamentalistische Kräfte, die ein äußerst konservatives Frauenbild propagieren, haben die Stellung von Mädchen und Frauen extrem mit beeinflusst. „Die Jahre des Krieges in Afghanistan haben die Gewalt in die Häuser getragen. Die Stammesgesetze sind noch immer dominant. Der Weg, dies zu ändern, wird nur über Schulbildung und einen besseren Zugang zur Justiz führen“, sagt die afghanisch-amerikanische Rechtsanwältin Mariam Atasch Nawabi. 4) UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2016; veröffentlicht im Juni 2017
Bis zu einer Gleichberechtigung von Mann und Frau hat Afghanistan noch einen weiten Weg vor sich. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre, die missbräuchliche Praxis der „Jungfräulichkeitsprüfung“ vollständig abzuschaffen und die grassierende Diskriminierung zu bekämpfen. 5) Human Rights Watch: Raped, the Assaulted by the Afghan Justice System. Abusive ‚Virginity Exams‘ Re-Traumatize Victims; 13.12.2017
Fußnoten und Quellen:
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