Streumunition in Indien: Die Briten haben viele Scherben hinterlassen
Bei ihrem Abzug aus Indien und Pakistan haben die britischen Kolonialherren beinahe über Nacht neue Grenzen gezogen und eine enorme Fluchtbewegung ausgelöst. Seit beinahe 80 Jahren dauert der Konflikt zwischen Indien und Pakistan mittlerweile an. Besonders angespannt ist die Lage in der indischen Provinz Kaschmir.
Polizei verletzt in Kaschmir 1.800 Menschen mit Streumunition
Vor sechs Jahren schossen indische Polizeibeamte mit Streumunition auf Aufständische. Für den Einsatz der sogenannten „pellet guns“ wurde Indien scharf von diversen Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Verboten wurde die Waffe nicht. Jetzt wurde sie in der Region Kaschmir erneut von Polizeikräften eingesetzt. In den vergangenen zwei Wochen kam es zu über 1800 Verletzten. Hier findet sich auch der Grund für die Verwendung von Streumunition: Die Zahl der Todesopfer soll so gering wie möglich gehalten werden. Die „pellet guns“ werden auch als nicht-tödlich eingestuft. Dem Spiegel gegenüber erklärte der indische Arzt Farooq Ahmed Kalloo diese Einschätzung für schlichtweg falsch. Denn wenn „Projektile in die Atemwege geraten, ist es lebensgefährlich“. Er gehe auch davon aus, dass bereits Menschen durch Streumunition getötet wurden. Das kann nur schlecht nachgewiesen werden, weil viele Opfer auf dem Weg ins Krankenhaus sterben oder noch andere Verletzungen erlitten haben, die den Tod ebenfalls verursacht haben könnten. Aber auch die durch Streumunition angerichteten Verletzungen sind schlimm. Die zahlreichen kleinen Kugeln bohren sich durch Fleisch und hinterlassen tiefe Wunden. Über hundert Opfer sind in den vergangenen Wochen an der Munition erblindet. Die Polizeikräfte haben zwar offiziell die Anweisung, unterhalb des Knies zu zielen, die meisten von Doktor Kolloos Patienten weisen aber Verletzungen am Oberkörper und im Gesicht auf. Die „pellet guns“ sind eigentlich zur Jagd nach Tieren gedacht. 1)Spiegel: Polizeigewalt in Kaschmir: „Sie schießen auf den Körper, in die Gesichter“; 21. Juli 2016
Andauernde Kämpfe zwischen Hinduisten und Muslimen in Kaschmir
Grund für das harte Vorgehen der Polizei waren propakistanische Proteste in der nordindischen Region Kaschmir gewesen. Kaschmir ist Teil Indiens, grenzt aber auch an Pakistan und die Volksrepublik China. Seit Jahrzehnten erheben die drei Länder Ansprüche auf Teile der Region und es kommt immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Indien und Pakistan. Seit 1947 hat es fünf indisch-pakistanische Kriege gegeben, in denen auch um Kaschmir gekämpft wurde. Selbst heute gibt es immer wieder Auseinandersetzungen und tödliche Grenzübertretungen. Zuletzt stürmten Aufständische Polizeiwachen und Militärstützpunkte in der Region, nachdem der islamistische Rebellenführer Burhan Muzaffar Wani in einer gezielten Operation von indischen Einsatzkräften getötet worden war. 2)The Economic Times: Kashmir shuts down after Burhan Muzaffar Wani death; 10. Juli 2016 Kaschmir ist eine Region mit besonders hohem Konfliktpotenzial, weil dort Muslime, Hindus und Sikhs leben. Sowohl Kämpfer aus dem islamischen Pakistan, als auch Anhänger indischer Religionen unternahmen immer wieder gewaltsame Versuche, den Besitz der Region an sich zu reißen. Im Kalten Krieg erhielt Pakistan Unterstützung von den USA, während die UdSSR auf der indischen Seite stand. Durch die Waffen der beiden Weltmächte verloren mehrere tausend Menschen ihr Leben. Dass mittlerweile beide Seiten im Besitz von Atomwaffen sind, macht einen erneuten direkten Krieg zwar unwahrscheinlich, verschärft die Lage aber auch weiter. 3)Die Welt: Der Kaschmirkrieg kennt immer nur Sieger; 04. September 2015
Die Briten hinterlassen Chaos im ehemaligen Kolonialgebiet
Im andauernden Konflikt zwischen Indien und Pakistan kann Kaschmir als Spitze des Eisbergs betrachtet werden. Auch wenn die beiden Länder sich gegenseitig die Schuld an ihrer Auseinandersetzung zuschieben, könnte man objektiv betrachtet eine ganz andere Nation für die zahlreichen Kriege und Todesopfer verantwortlich machen. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts begannen die Briten sich im heutigen Indien und Pakistan auszubreiten. Von 1858 bis 1947 stand „Britisch-Indien“ als Kronkolonie unter der britischen Kolonialherrschaft. Muslime und Hindus wurden gleichermaßen von den Kolonialherren unterdrückt, was die verschiedenen Religionsgruppen einte. Vom zweiten Weltkrieg erheblich geschwächt, sahen die britischen Herren sich gezwungen, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Innerhalb kürzester Zeit verließen die Briten das Land und übergaben die Regierungsgeschäfte der indischen „Congress Party“. Viele Muslime fühlten sich benachteiligt und forderten einen eigenen, unabhängigen Staat. Also zogen die Briten Grenzen auf einer Landkarte und schufen Indien und Pakistan. Die Idee dahinter war, das Gebiet entlang bereits bestehender religiöser Grenzen zu unterteilen. Innerhalb von 40 Tagen wurde beschlossen, dass Muslime aus Indien nach Pakistan ziehen mussten, während Hindus und Sikhs von Pakistan nach Indien gehen sollten. Die neuen Grenzen waren der Beginn von blutigen Aufständen und Kriegen zwischen den Religionsgruppen und lösten eine enorme Flüchtlingswelle aus. Mehrere zehn Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen. 4)BBC: The Hidden Story of Partition and ist Legacies; 03. März 2011 Auch wenn der Großteil der Vertriebenen im ehemaligen Kolonialgebiet geblieben ist, flohen einige Menschen anderswohin. 2014 erreichten Deutschland 1.615 indische Flüchtlinge. 5)Laenderdaten: Flüchtlinge aus Indien; Stand 21. Juli 2016
Indien und Pakistan sind nur ein Beispiel für heutige Konfliktregionen und Krisengebiete, die lange Zeit unter der Fremdherrschaft einer anderen Nation standen. Indien litt besonders unter dem übereilten Abzug der Briten, der schlecht vorbereitet war und ein Machtvakuum hinterließ. Während Regionen wie Kaschmir täglich Terror und Gewalt erleben, floriert die Industrienation Großbritannien. Dass das nicht fair sein kann, ist offensichtlich. Wer wissen will, warum der reiche Westen sich für von ihm verursachte Konflikte nicht verantwortlich fühlt, muss wohl weiter im Dunkeln tasten.
Fußnoten und Quellen:
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