Boko Haram und der Tschadsee: warum 2,7 Millionen Afrikaner auf der Flucht leben
Während der Tschadsee immer kleiner wird, rückt die Terrorgruppe Boko Haram weiter vor. Immer mehr Bewohner der Region werden ihrer Lebensgrundlage beraubt und zur Flucht gezwungen.
Es ist noch nicht lange her, da hatte die nigerianische Stadt Maiduguri ungefähr eine Million Einwohner. Die Bevölkerung nahm jedoch in den letzten Monaten enorm zu, da die Terrormiliz Boko Haram eine gewaltige Fluchtwelle auslöste: Momentan leben 2,6 Millionen Menschen in der Stadt. Ende 2015 kam in Deutschland ein Flüchtling auf ungefähr 80 Deutsche, in Maiduguri kommt ein Einheimischer auf 1,6 Flüchtlinge. In einigen Flüchtlingslagern ist die Situation der Vertriebenen noch schlimmer. „In Bama sind bis zu 30.000 Menschen. Hunger ist eine Untertreibung, sie stehen vor dem Hungertod. Das wäre wohl die passende Beschreibung“, sagte Toby Lanzer, der für die UN die humanitäre Hilfe in der Sahel-Region in Afrika koordiniert und das Flüchtlingslager besucht hat. 1)tagesschau.de: Die übersehene Katastrophe; nicht mehr verfügbar
Boko Haram entstand aus der Gleichgültigkeit der korrupten Regierung
Die nord-ost-nigerianische Stadt Maiduguri ist nicht nur aktueller Schauplatz der Flüchtlingskrise in Zentralafrika, sie ist auch die Wiege der radikalen Gruppierung Boko Haram. Im völlig verarmten Norden Nigerias gelang es dem muslimischen Prediger Muhammad Yusuf in den 90er Jahren erfolgreich gegen den korrupten Staat und für eine Gesellschaft, die nach den Geboten Allahs lebt, zu werben. Der große Zuwachs der Terrormiliz ist wohl auch auf die nigerianische Regierung zurückzuführen, die sich nach dem Ende der Kolonialzeit 1960 nicht für den ärmsten Teil des Landes interessierte. So liegt beispielsweise die Jugendarbeitslosigkei bei gut 50 Prozent. Auch der Anteil der Menschen ohne Schulbildung ist erschreckend: In der Region Borno haben nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung eine Schule besucht. Da die staatlichen Schulen für die Familien dort zu teuer sind, begannen Eltern ihre Kinder in kostenlose Koranschulen zu schicken. Außer dem Rezitieren des Koran lernen die Kinder dort jedoch kaum etwas. Auch Muhammad Yusuf besuchte eine Koranschule. Später nutzte er die Gleichgültigkeit der korrupten Regierung gegenüber dem schwachen Norden und gründete Boko Haram, die seit dem die Region Tschadsee mit Terror überzieht. 2)faz.net: Islamisten von Boko Haram-Jahre des Terrors; 10. Mai 2014
„Ärzte ohne Grenzen“ kann die Versorgung der Flüchtlinge nicht alleine stemmen
Seit 2014 leistet die medizinische Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in der Region Tschadsee Nothilfe. Die 1.223 Mitarbeiter vor Ort behandeln Flüchtlinge in ambulanten Kliniken und Krankenhäusern, unterstützen die lokalen Gesundheitsbehörden, bieten psychologische Behandlung an und bohren Brunnen, um die Wasserversorgung sicherzustellen. Doch die Bemühungen der Hilfsorganisation reichen bei weitem nicht aus, um die medizinische Versorgung der 2,7 Millionen Flüchtlinge nachhaltig zu gewährleisten. Seit 2014 mussten allein im nigerianischen Bundesstaat Borno etwa eine Million Menschen aufgrund des Terrors der Boko Haram ihre Heimat verlassen. Schon mehrfach hat Ärzte ohne Grenzen andere Hilfsorganisationen um Unterstützung in der Region gebeten. „Wir brauchen Verstärkung. Unsere wiederholten Aufforderungen an andere Hilfsorganisationen, die Vertriebenen in Borno zu unterstützen, sind bisher erfolglos geblieben“, so Nothilfekoordinator Chibuzo Okonta. 3)aerzte-ohne-grenzen.de: 2,7 Mio. Menschen benötigen humanitäre Hilfe – Auslöser ist u.a. Gewalt durch Boko Haram; Artikel nicht mehr verfügbar
Klimawandel und Terror rauben den Menschen die Lebensgrundlage
Zur Region Tschadsee gehören die an den See grenzenden afrikanischen Länder Tschad, Niger, Nigeria und Kamerun. Zu den rund 2,7 Millionen Flüchtlingen in dem Gebiet kommen noch mehrere Millionen von starker Armut betroffene Menschen, so dass über neun Millionen Afrikaner in der Region dringend auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Der Versorgungsengpass hat viel mit dem Tschadsee zu tun, der seit 1963 auf ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft ist. Der Hauptgrund für das Austrocknen des Sees ist wohl der durch hohe CO2-Emissionen der Industrieländer und Abholzung bedingte Klimawandel. Durch den hohen Holzbedarf in Europa, China und den USA ist vor allem der komerzielle Holzschlag direkt mitverantwortlich für den Wasserengpass in der Region Tschadsee. Durch die Waldrodung trocknet der Boden schneller aus und Landwirtschaft ist immer schwerer möglich. Da sehr viele Menschen in der Gegend kaum oder nur wenig Schulbildung haben, bleibt ihnen oft keine andere Wahl, als sich durch Holzverkauf zu ernähren. Dass sie damit dem Tschadsee schwer zusetzen, ist den Kleinfarmern kaum bewusst. 4)tengwood.org: Der Nigeria-Kamerun Regenwald; Stand 29. Juni 2016 Ein weiterer Faktor ist die Überweidung in der Region, denn wenn die Vegetation verschwindet, versandet der Boden und Regenwasser kann nicht mehr gespeichert werden. 5)desertifikation.com: Die Sahel; nicht mehr verfügbar
Der See war Jahrhunderte lang die Lebensgrundlage der gesamten Sahelzone, heute können nicht einmal die direkten Bewohner seiner Küsten von ihm leben. Durch den hohen Salzgehalt im Boden um den See fallen Ernten aus, der Tierbestand geht zurück und auch Fischerei ist kaum mehr möglich. Viele Fischer konnten früher gut von ihrem Beruf leben und sogar Geld an Familienmitglieder schicken, die abseits des Sees lebten. Doch durch den sinkenden Wasserpegel ist der Fischbestand stark zurückgegangen. Zusätzlich mussten Teile der Küste wegen der Terrormiliz Boko Haram evakuiert werden, so dass viele Menschen schließlich den Rest ihrer Lebensgrundlage verloren. Wer nicht fliehen will, dem droht die Zwangsrekrutierung durch Boko Haram. Jungen sollen für den Islamischen Staat in Westafrika kämpfen, Mädchen werden als Gepäckträgerinnen und Sexsklavinnen benutzt. Wer sich weigert, wird hingerichtet. Einige Jugendliche schließen sich der Terrorgruppe auch freiwillig an, verführt von dem Versprechen auf ein besseres Leben für sie und ihre Familien. 6)unocha.exposure.co: Lost Lake – How converging crises put millions at risk in the Lake Chad Basin; 23. Juni 2016
Der Westen schaut weitgehend weg
Durch aufkommende Massenarmut, Klimawandel und Extremismus wurde der Tschadsee zum Zentrum von Afrikas rasant wachsender Flüchtlingskrise. Doch obwohl mehr als neun Millionen Menschen dringend Hilfe zum nackten Überleben benötigen, gibt es nur wenig internationale Unterstützung. 2016 wären mindestens 527 Millionen US-Dollar notwendig, um wenigstens eine stabile Grundversorgung organisieren zu können, doch bis Mitte des Jahres wurden nur 20 Prozent der beantragten Mittel zur Verfügung gestellt. 7)unocha.exposure.co: Lost Lake – How converging crises put millions at risk in the Lake Chad Basin; 23. Juni 2016
Vor kurzem kündigte Ärze ohne Grenzen an, sich in Zukunft nur noch über Privatspenden zu finanzieren und auf die Mittel der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten zu verzichten, die bisher ca. sieben Prozent des Budgets der Hilfsorganisation ausgemacht hatten. Als Grund für den Verzicht auf rund 50 Millionen Euro pro Jahr gab Florian Westphal, der deutsche Geschäftsführer der Organisation, die „verheerenden Auswirkungen der EU-Abschottungspolitik für Menschen auf der Flucht“ an. Die Entscheidung ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die Ärzte ohne Grenzen-Teams jeden Tag dem Elend begegnen, das die EU und ihre Staaten durch ihre Politik zulassen und letztendlich auch fördern. 8)aerzte-ohne-grenzen.de: Ärzte ohne Grenzen nimmt kein Geld mehr von EU und Mitgliedsstaaten; 17. Juni 2016
Fußnoten und Quellen:
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