
Fluechtlinge versuchen, eine Grenze aus Stacheldraht zu überwinden. | Bild: © Prazis - Dreamstime.com
Marokko als der neue Hilfssheriff Europas – langfristige Verschärfung von Fluchtursachen
In der öffentlichen Debatte um Asyl und Migration wird zunehmend zwischen „wahren“ und „falschen“ Flüchtlingen unterschieden. Es entwickelt sich ein Feindbild in Bezug auf Nordafrikaner, die nach Europa kommen, um Sozialleistungen zu erhalten. Besonders seit der Kölner Silvesternacht wurde Symbolpolitik betrieben: Marokko wurde rasch zum sicheren Herkunftsstaat erklärt. Da Marokko ein Transit- und zunehmend auch ein temporäres Zielland für viele Migranten und Flüchtlinge ist, droht die EU mit Kürzungen der Entwicklungshilfe, sofern sich Marokko bei der Rückführung von irregulären Migranten nicht kooperativ verhält. Dies birgt die erhebliche Gefahr von Menschenrechtsverletzungen für tausende Migranten in Marokko. Außerdem werden die Ursachen für Flucht und Migration aus Marokko, sowie aus anderen Staaten, damit in keinster Weise angegangen. 1) Brot für die Welt: Entwicklung hilft – Symbolpolitik nicht. Beispiel Marokko – Stand 24.02.2016
Es ist wichtig, die Situation in Marokko genauer zu betrachten. Viele Migranten aus der Subsahara, aber auch immer mehr Flüchtlinge aus Syrien kommen in Marokko an. Zunehmend werden Aufenthaltstitel an Migranten vergeben, um der Rolle als Ankunftsland gerecht zu werden. Trotzdem bleibt die Lage für Migranten und Flüchtlinge oft katastrophal: Der Zugang zu Gesundheit, Bildung und Arbeit ist nicht gewährleistet. Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung.
Marokko soll Flucht und Migration in die EU eindämmen und die europäische Abschottungspolitik durchsetzen. In den beiden spanischen Enklaven auf marokkanischem Boden, Melilla und Ceuta, befinden sich die Außengrenzanlagen Europas – Stacheldraht, Nachtsichtgeräte und Kameras verhindern die Einreise auf europäischen Boden. Trotzdem versuchen tagtäglich hunderte Menschen, sich auf diesem Weg – unter Lebensgefahr – Zugang zu Europa zu verschaffen. 2) Bündnis 90/ Die Grünen: Migration und Flucht in Marokko – nicht mehr verfügbar
Abgesehen von den oft katastrophalen Umständen, denen Flüchtlinge und Migranten in Marokko ausgesetzt sind, ist auch die Einstufung von Marokko als sicheres Herkunftsland in Bezug auf die lokale Bevölkerung bedenklich: Politische Aktivisten und Journalisten befinden sich unter erheblicher Repression, werden willkürlich verhaftet und gefoltert. Die Einstufung Marokkos als sicheres Herkunftsland bedeutet zudem für Flüchtlinge eine enorme Schwierigkeit, in Deutschland Asyl zu beantragen. 3) Human Rights Watch: Morocco’s Smiling Face and Heavy Hand – Stand 24.02.2016
Der Hauptgrund für die Migration aus Marokko nach Europa ist das Fehlen von Perspektiven. Der Einfluss der EU auf die Fluchtursachen zeigt sich an einem Beispiel: 2013 wurde ein umstrittenes Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko gebilligt, dass europäischen – vor allem spanischen – Flotten den Fischfang vor der westafrikanischen Küste ermöglicht. Mit eingeschlossen sind auch die Fischgründe vor der Küste der Westsahara – ein Gebiet, das Marokko seit der Unabhängigkeit besetzt. Vom Fischereiabkommen zwischen Marokko und der EU profitieren Großkonzerne, die europäischen Verbraucher und die marokkanische Regierung, während die lokale Bevölkerung vielerorts an den Küsten vor dem Verlust ihrer Lebensgrundlage steht. Zahlreiche ehemalige Fischer, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, nutzen ihre Boote zur Überfahrt von Migranten nach Europa oder werden selbst zu Flüchtlingen. 4) Wochenblatt.es: EU-Parlament billigt Fischereiabkommen mit Marokko – Artikel vom 22.12.2013
Für wirtschaftliche Not erklärt sich Europa jedoch nicht zuständig. Politische und ökonomische Fluchtursachen sind oft nicht klar voneinander abzugrenzen. Beispielweise entwickeln sich aus der Ausgrenzung weiter Bevölkerungsteile vom Wohlstand – oft eine Folge globaler Handelspolitik – leicht politische Unruhen. Dabei geht es also nicht nur um falsche Politik dieser Länder, sondern eben auch um den Umstand, dass die dortige Wirtschaft nicht genug für alle Bürger abwirft. Der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ suggeriert, es ginge den Menschen um reinen wirtschaftlichen Gewinn – allerdings geht es bei den meisten ums Überleben. 5) Frankfurter Rundschau: Von wegen „Wirtschaftsflüchtling“ – Stand 24.02.2016
Marokko kann nur ein attraktiveres Einwanderungsland als Alternative zur EU werden, wenn sich die Menschen vor Ort eine würdige Existenz aufbauen können. Dahingehend macht es Sinn, Marokko im Aufbau von Perspektiven für die lokale Bevölkerung sowie die Migranten weiter zu unterstützen. Wenn die Kürzung von Entwicklungshilfen aber als Druckmittel zur grausamen Repression von zehntausenden Flüchtlingen genutzt wird, ist dies in hohem Maße fragwürdig, gefährlich und wird Fluchtursachen eher verschärfen. Solange Perspektiven in Marokko und legale Einreisemöglichkeiten nach Marokko fehlen, werden sich weiterhin tausende Menschen auf den Weg in eine existenzsichernde Zukunft nach Europa machen – und dabei sterben.
Fußnoten und Quellen:
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