Von einer Wiege der Zivilisation zum Schlachtfeld? Ägypten und Äthiopien streiten um das Nilwasser
Der Nil, eines der Weltwunder, ist seit 2011 zum Gegenstand eines eskalierenden Krieges der Worte geworden. Dieser könnte den Fluss von einer Quelle der Zivilisation und des Friedens zu einem aktiven Konfliktherd verwandeln. Nach neun Jahren zermürbender Verhandlungen über den Bau und die Folgen des von Äthiopien nahezu fertiggestellten, 4,6 Milliarden Dollar teuren, „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ (GERD), ist noch immer keine zufriedenstellende Lösung in Sicht. Das gigantische Monster aus Beton und Stahl liegt am Blauen Nil und würde den Wasserstand flussabwärts beeinflussen, je nachdem, wie schnell Äthiopien seinen Wasserspeicher füllt. Sowohl der Sudan als auch Ägypten befürchten, dass dieses Megaprojekt zu Wasserknappheit in ihren jeweiligen Ländern führen könnte. Allerdings steht auch für Äthiopien und seine Bevölkerung einiges auf dem Spiel. 1)The Guardian: ‚It’ll cause a water war‘: divisions run deep as filling of Nile dam nears; Stand heute, 05.08.2020 2)Independent: Blood on the Nile is what’s coming if Egypt and Ethiopia continue their war of words over water; Stand heute, 05.08.2020 3)Tagesschau: Der Kampf um das Nil-Wasser; nicht mehr verfügbar
„Keine Gewalt kann Äthiopien davon abhalten“ – Äthiopiens Position
Die Gespräche über ein GERD-Abkommen zwischen Äthiopien, Ägypten und dem Sudan begannen vor rund einem Jahrzehnt. Zuletzt scheiterten die Verhandlungen jedoch im Jahr 2020, als Äthiopien sich aus den von den USA geführten Gesprächen unter dem Vorwand zurückzog, dass es mehr Zeit bräuchte, um den Entwurf der Verhandlungsdokumente zu besprechen. Nun versucht die Afrikanische Union zwischen den Parteien zu vermitteln, allerdings bisher ohne nennenswerte Erfolge. Die Fragen, wieviel Wasser Äthiopien im Falle einer mehrjährigen Dürre flussabwärts freisetzen würde und wie die Länder künftige GERD- bezogene Streitigkeiten lösen werden, bleiben offen und stellen erhebliche Hürden auf dem Weg zu einer Einigung dar.
Äthiopien plant, das Wasser des Blauen Nils durch den Mega-Damm zu nutzen, um Elektrizität für Millionen von Äthiopiern zu erzeugen und das Land zum größten Energieexporteur Afrikas werden zu lassen. Das größte Wasserkraftwerk Afrikas würde voraussichtlich 65 Millionen Äthiopier mit Strom beliefern, die derzeit über keine ausreichende Stromversorgung verfügen. Äthiopiens UN-Botschafter Taye Atske-Selassie erklärte dazu: „Für Äthiopien ist der Zugang zu seinen Wasserressourcen und deren Nutzung keine Frage der Wahl, sondern eine existenzielle Notwendigkeit.“ Der gigantische Staudamm würde eine entscheidende Gelegenheit bieten, um Millionen Äthiopier aus der Armut zu befreien, in der große Teile des Landes gefangen sind. Um dies zu erreichen, muss Äthiopien Wasser aus dem Blauen Nil umleiten, um das Reservoir des Staudamms zu füllen.
Die jüngsten von der Afrikanischen Union geführten Verhandlungen waren von Spannungen geprägt, da Satellitenbilder ein wachsendes Wasserreservoir hinter dem „GERD“ zeigten. Dies verärgerte Ägypten und den Sudan, die verlangt hatten, dass Äthiopien nicht ohne ein Abkommen mit dem Auffüllen des Staudamms beginnen dürfe. Der äthiopische Wasserminister Seleshi Bekele bestätigte die Satellitenbilder. Äthiopische Funktionäre erklärten allerdings, dass die Tore des Staudamms nicht geschlossen sind und dass das ansteigende Wasserreservoir auf natürliche Weise durch einen Zufluss von Wassermassen nach heftigen Monsunregenfällen entstanden ist. Es ist nicht das erste Mal, dass es im Zusammenhang mit dem Projekt zu erheblichen Spannungen gekommen ist: Im Jahr 2019 nur 11 Tage nach dem Erhalt des Friedensnobelpreises „für seine Bemühungen um Frieden und internationale Zusammenarbeit und insbesondere für seine entschlossene Initiative zur Lösung des Grenzkonflikts mit dem Nachbarland Eritrea,“ meinte Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed Ali: „Es sollte betont werden, dass keine Gewalt Äthiopien davon abhalten könnte, einen Damm zu bauen“… „Wenn die Notwendigkeit besteht, in den Krieg zu ziehen, wären Millionen von Menschen [Äthiopier] bereit. Aber dies ist nicht in unser aller Interesse.“
Abiy Ahmed Ali besitzt die Vision, sein Land in einen dynamischen, für internationale Investoren attraktiven, Markt zu verwandeln. Zudem steht auch die überragende Mehrheit der Äthiopier hinter dem Megaprojekt: Die äthiopischen Bürger haben buchstäblich in den Staudamm investiert. Die enormen Kosten des Projekts wurden zum Teil dadurch gedeckt, dass Äthiopier im In- und Ausland davon überzeugt wurden, der Regierung Geld durch den Kauf von Staatsanleihen zu borgen. 4)Washington Post: Ethiopia, Egypt reach ‚major common understanding‘ on dam; 21.07.22 5)ABC News: Nobel Peace Prize winner says Ethiopia is ‚readied‘ for war, 11 days after award; Stand heute, 05.08.2020 6)Quartz Africa: What Egypt, Sudan and Ethiopia must overcome to all benefit from the Grand Renaissance Dam; Stand heute, 05.08.2020 7)Reuters: Egypt and Sudan criticise Ethiopia at start of new Nile dam talks; Stand heute, 05.08.2020 8)Al Jazeera: Nile dam: Egypt, Ethiopia and Sudan talks end with no deal; Stand heute, 05.08.2020 9)BBC: River Nile dam: Reservoir filling up, Ethiopia confirms; Stand heute, 05.08.2020 10)BBC: Nile Dam row: Egypt and Ethiopia generate heat but no power; Stand heute, 05.08.2020 11)Independent: Blood on the Nile is what’s coming if Egypt and Ethiopia continue their war of words over water; Stand heute, 05.08.2020
„Eine Frage von Leben und Tod“ – Ägyptens Standpunkt
Ägypten befürchtet, dass der gigantische Staudamm die Wasserknappheit, mit der die eigene stets wachsende Bevölkerung bereits jetzt zu kämpfen hat, weiter verstärken wird. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass Ägypten bereits 2025 unabhängig vom Bau des Staudamms aufgrund des Klimawandels mit einer akuten Wasserknappheit konfrontiert sein wird. Der Blaue Nil ist ein Nebenfluss des Nils, aus dem die 100 Millionen Ägypter 90 Prozent ihres Süßwassers beziehen. Deren Präsident Abdel Fattah al-Sisi kann sich die politischen Folgen eines möglichen dramatischen Zusammenbruchs der ägyptischen Wasserversorgung nicht leisten, falls die Staudammfrage nicht endgültig einvernehmlich geregelt wird. Ein ungeregelter GERD- Staudamm könnte möglicherweise zu einer Binnenmigration von Millionen Ägyptern führen. Dies könnte die nationale Wirtschaft grundlegend verändern und das Risiko politischer Unruhen aufgrund öffentlichen Zorns drastisch erhöhen.
Bereits 1978 erkannte der damalige ägyptische Präsident Anwar Sadat die Bedrohung, die von einer einseitigen Bewirtschaftung des Nils ausgeht. So sagte Sadat damals: „Das Einzige, was Ägypten wieder in den Krieg führen könnte, ist Wasser.“ Zehn Jahre später warnte der ehemalige ägyptische UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali: „Der nächste Krieg in unserer Region wird um das Wasser des Nils geführt werden, nicht um Politik.“ Diese düsteren Vorhersagen scheinen sich bedauerlicherweise zu bewahrheiten, wenn man an die Worte einiger ägyptischer Staats-Funktionäre denkt, die unlängst sogar die Bombardierung des Staudamms erwogen haben. Die ägyptische Position ist daher glasklar: Der Staat stimmt der Inbetriebnahme des „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ nur dann zu, wenn dadurch die eigenen Wasserzuflüsse nicht verringert werden.
Der Sudan hingegen steckt in einem Dilemma: Einerseits könnte der Staudamm eine Chance für das Land sein, da er die Wasserströme, die in der Vergangenheit im Land oft zu Überschwemmungen geführt haben, regulieren und zudem den Sudan mit billigem Äthiopischen Strom versorgen könnte. Andererseits könnte der „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ den Betrieb der vielen kleineren, sudanesischen Staudämme am Nil gefährden und auch dort Wasserknappheit verursachen. Die Position des Sudan ist also recht ambivalent, doch eines steht fest: Der Sudan sehnt sich nach Planungssicherheit durch ein Abkommen. Das Zustandekommen eines Übereinkommens liegt also hauptsächlich in den Händen der ägyptischen und äthiopischen Diplomaten. Verhärtete Positionen machen dies jedoch nicht leicht, wie beispielsweise die Haltung verschiedener ägyptischer Funktionäre zeigt, welche hierzu meinen: „Wenn das Wasser für Äthiopien Elektrizität bedeutet, ist es für Ägypten eine Frage von Leben und Tod.“ 12)Reuters: Egypt and Sudan criticise Ethiopia at start of new Nile dam talks; Stand heute, 05.08.2020 13)The Guardian: ‚It’ll cause a water war‘: divisions run deep as filling of Nile dam nears; Stand heute, 05.08.202014)Independent: Blood on the Nile is what’s coming if Egypt and Ethiopia continue their war of words over water; Stand heute, 05.08.2020 15)Al Jazeera: Nile dam: Egypt, Ethiopia and Sudan talks end with no deal; Stand heute, 05.08.2020 16)BBC: Nile Dam row: Egypt and Ethiopia generate heat but no power; Stand heute, 05.08.2020 17)The Guardian: The Nile belongs to Ethiopia too; Stand heute, o5.08.2020 18)American Security Project: The Fight Over The Grand Ethiopia Renaissance Dam May Be a Harbinger of Future Conflict; Stand heute, 05.08.2020
Die Folgen historischer Ungerechtigkeit verhärten die Fronten
Die ohnehin heiklen Verhandlungen wurden zusätzlich durch Themen mit tiefliegenden identitätsstiftenden Wurzeln wie Geschichte und Kultur erschwert. Der Bau des „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ löste einmal mehr eine uralte Debatte darüber aus, welches Land der wahre Eigentümer des Nils sei. Die Ägypter besitzen eine tiefe historische Verbundenheit mit dem Nil, die sich bis in die gegenwärtige Kultur fortsetzt. Die alten Ägypter glaubten, dass der Nil ein Geschenk der Götter sei. Sie setzten ihn mit dem Leben selbst gleich und richteten ihren Alltag nach dem wechselnden Wasserstand des Flusses aus. Sogar der ägyptische Kalender basierte auf den drei Jahreszeiten des Nils: Der Flut, der Landwirtschaft und der Ernte. Die Überschwemmungssaison begann mit dem Erscheinen von „Al-Shaary Al-Yamani“ oder „Sirius“, dem hellsten Stern. Sein Erscheinen bedeutet auch den Beginn eines neuen ägyptischen Kalenderjahres.
Dieses Argument wurde zum Beispiel erneut vom ägyptischen Ex-Präsidenten Mohamed Morsi aufgegriffen, welcher den Nil im Streit um den Staudamm auch als „Gottes Geschenk an Ägypten“ bezeichnete. Heute leben rund 95 Prozent der Ägypter im Umkreis von wenigen Kilometern um den Nil. Der Fluss hat im Laufe der Geschichte die Rolle eines „Sozialklubs“ für alle Ägypter übernommen und stellt die Hauptquelle der nationalen Identität dar. Im ägyptischen Alltag haben sich viele Traditionen entwickelt, die untrennbar mit dem lebensspendenden Fluss verbunden sind. So gehen beispielsweise im Süden des Landes am Tag nach der Hochzeitszeremonie Braut und Bräutigam mit dem Rest des Dorfes in einer Prozession zum Nil. Das Brautpaar betritt das Wasser, wo es sich Hände und Füße wäscht. Die Menge am Ufer jubelt und versucht, das Paar mit Wasser zu bespritzen.
Trotz der Tatsache, dass 85 Prozent des Nils in Äthiopien entspringen, verbindet die Mehrheit der Weltbevölkerung den Nil ausschließlich mit Ägypten, den Pyramiden, der Sphinx, Kleopatra und König Tutanchamun. Tatsächlich beginnt der Fluss aber in Äthiopien und endet in Ägypten. Er bewegt sich entgegen dem, was man meinen könnte und fließt auf der Landkarte gen Norden. Laut der äthiopischen Regierung übt man nur das souveräne Recht des Landes auf die Nutzung der Wasserressourcen aus, da der Fluss durch die eigenen territorialen Zuständigkeitsbereiche fließt. Äthiopien tadelte Ägypten auch für seine Unnachgiebigkeit und sein Beharren auf historischen statt auf faktischen Rechten.
Darüber hinaus sieht Äthiopien in diesem Megastaudammprojekt auch die Überwindung dessen, was es bis heute als eine „historische Ungerechtigkeit“ empfindet. In der Vergangenheit war es dem Land aufgrund von Verträgen und anderer Vorherrschaftsansprüche Ägyptens nicht erlaubt gewesen, das Nilwasser für die eigene Entwicklung zu nutzen. Diese „historischen Ungerechtigkeiten“ der ägyptischen Nil-Hegemonie gehen auf das Jahr 1929 zurück, als die britische Regierung das „natürliche und historische Recht Ägyptens auf die Gewässer des Nils“ anerkannte. Sie gewährte Ägypten auch ein Vetorecht bei allen Projekten flussaufwärts. Zudem unterzeichneten Ägypten und der Sudan im Jahr 1959 ein Abkommen, in dem die beiden Länder vereinbarten, die Ressourcen des Nils zu teilen, wobei Ägypten das größte Volumen erhielt. Den anderen neun Ländern des Nil-Flussbeckens, darunter Äthiopien, wurde in dem Vertrag keinerlei Recht auf die Nutzung des Nilwassers zu gesprochen.
Die Konfrontation des Gefühls, Opfer einer historischen Ungerechtigkeit gewesen zu sein, gepaart mit der starken historischen Bindung gegenüber dem Nil auf der anderen Seite, macht es weitaus komplizierter einen Kompromiss zwischen den beiden Staaten zu finden. Um eine dringend notwendige Einigung zu erzielen, sollten sich beide Nationen darüber bewusst sein, dass sie, wenn sie über den Nil diskutieren, über Wasser sprechen: Ein Grundrecht für alle Menschen, unabhängig von geografischen oder historischen Rechten. 19)Quartz Africa: What Egypt, Sudan and Ethiopia must overcome to all benefit from the Grand Renaissance Dam; Stand heute, 05.08.2020 20)BBC: Nile Dam row: Egypt and Ethiopia generate heat but no power; Stand heute, 05.08.2020 21)The Guardian: The Nile belongs to Ethiopia too; Stand heute, o5.08.2020 22)Egypt Today: Egypt, The gift of the Nile; Stand heute, 05.08.2020 23)National Geographic: Nile River; Stand heute, 05.08.2020 24)Addis Standard: In-Depth Analysis: Past Agreements on the Nile in View of the Law of Treaty and the CFA; Stand heute, 05.08.2020 25)National Authority for Remote Sensing and Space Sciences: Water culture in Egypt; Stand heute, 05.08.2020
Fußnoten und Quellen:
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