„Auf dieser Reise interessiert es niemanden, ob du lebst oder stirbst“: Gewalt und Missbrauch gegen Flüchtlinge
Ihre gewohnte Umgebung, ihre Heimat zurückzulassen, ist für Flüchtlinge der letzte Ausweg, um Elend, Krieg, Gewalt und Verfolgung zu entkommen. Ziel ihrer gefährlichen Reise ist ein Ort der Sicherheit, an dem sie sich ein besseres, friedlicheres Leben erhoffen. Ihr Weg führt sie häufig durch West oder Ost Afrika oder über die zentrale Mittelmeerroute. Doch auf ihrer Flucht sind Flüchtlinge unvorstellbarem Grauen ausgeliefert. Sie sind verschiedenen Arten von Gewalt in ihrer brutalsten Form ausgesetzt: Tausende sterben auf den Fluchtrouten Afrikas, tausende erleiden extreme Menschenrechtsverletzungen. 1) UNHCR: Thousands of refugees and migrants suffer extreme rights abuses on journeys to Africa’s Mediterranean coast, new UNHCR/MMC report shows; Pressemitteilung vom 29.07.2020 2) UNHCR: ‘On this Journey, No One Cares If You Live Or Die’ Abuse, protection, and justice along routes between East and West Africa and Africa’s Mediterranean coast; Bericht vom 29.07.2020
Flüchtlinge erleben Gewalt in ihren schlimmsten Formen
Der gemeinsame Bericht „On this journey, no one cares if you live or die” des UNHCR, des Mixed Migration Centre (MMC) sowie des Danish Refugee Council dokumentiert die Ausmaße an Gewalt, Brutalität und Unmenschlichkeit, die Flüchtlinge auf ihrem Weg erleiden. Die Täter sind nicht nur Schmuggler, Menschenhändler und Milizen, sondern auch staatliche Akteure. Da die Fluchtrouten von irregulären Bevölkerungsströmen gekennzeichnet sind, welche von Schmugglern und Menschenhändlern kontrolliert werden, ist es schwer und äußerst kompliziert, genauere Daten über Todesfälle oder Menschenrechtsverletzungen zu erheben. Oft finden die Vorfälle im Verborgenen und außer Reichweite der Behörden und ihrer Datenerhebungssysteme statt. Doch mithilfe der in 16.000 Interviews gesammelten Daten kommt der Bericht zu dem Schluss, dass mindestens 1.750 Menschen zwischen 2018 und 2019 auf diesen drei Routen zu Tode kamen. 30 Prozent dieser Todesfälle ereigneten sich allein beim Versuch die Sahara zu durchqueren. Besonders gefährlich ist hierbei die Grenzüberschreitung von Niger nach Libyen. Die Todesursachen auf den drei Routen sind vielfältig. Krankheit, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung – vor allem in Kombination mit Faktoren wie Dehydrierung, Hunger und mangelhafter Unterkunft oder in Verbindung mit physischem und sexuellem Missbrauch – Fahrzeugunfälle beim Transport von Flüchtlingen, Tötungen durch Erschießen oder Erstechen und innere Verletzungen als Folge von physischer oder sexueller Gewaltanwendung zählen zu den dokumentierten Todesursachen. Betrachtet man alle im Bericht aufgeführten Todesfälle, so überwiegen mit 68 Prozent solche, die durch Verbrechen verursacht wurden. Nicht nur müssen viele Flüchtlinge Todesfälle miterleben und Zeuge von willkürlichen Tötungen werden, sondern auch sonst unvorstellbare Misshandlung und Missbrauch ertragen. Betroffene berichteten nicht nur von Entführungen, Folter und Zwangsarbeit, sondern auch davon, mit geschmolzenem Plastik, heißem Öl oder heißem Metall verbrannt, mit Elektroschlägen gequält und in schmerzhaften Positionen fixiert worden zu sein. Sehr häufig kommt es auch zur Anwendung sexueller, geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen, aber auch gegen Jungen und Männer. Eine Anwendung sexueller Gewalt findet insbesondere an Kontrollpunkten und in Grenzgebieten sowie beim Durchqueren der Wüste statt, wie die Interviews gezeigt haben. Sie wird sowohl zur Erpressung und Unterwerfung, als auch zur Bestrafung oder Unterhaltung der Täter eingesetzt. Die Interviews zeigen, dass Flüchtlinge immer wieder verschiedenen Arten sexueller Gewalt ausgeliefert sind. Unter anderem wurde von Befragten häufig geschildert, dass Männer und Jungen dazu gezwungen wurden, sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit anzusehen oder sogar selbst zu verüben – ob in offiziellen Haftanstalten, inoffiziellen Zentren oder in der Wüste. Nach Angaben der Befragten wurde ein Großteil dieser Gewalt von den Tätern zu Demütigungs- oder Erpressungszwecken gefilmt. 3) UNHCR: Thousands of refugees and migrants suffer extreme rights abuses on journeys to Africa’s Mediterranean coast, new UNHCR/MMC report shows; Pressemitteilung vom 29.07.2020 4) UNHCR: ‘On this Journey, No One Cares If You Live Or Die’ Abuse, protection, and justice along routes between East and West Africa and Africa’s Mediterranean coast; Bericht vom 29.07.2020
Die Überlebenden sehen aufgrund ihrer schweren Traumata oft großen psychischen Problemen entgegen und sind mit der Bewältigung dieser meist auf sich selbst gestellt. Für viele der Flüchtlinge bildet Libyen den letzten Zwischenstopp, bevor sie den Versuch wagen, über den Seeweg nach Europa zu kommen. Doch besonders in Libyen sind sie stark gefährdet Opfer von Gewalt und Missbrauch durch Schleuser, Menschenhändler, bewaffnete Gruppen, aber auch durch Soldaten, Sicherheitskräfte oder Polizisten zu werden. Der anhaltende Konflikt und der schwache Rechtstaat ermöglichen es den Tätern, meist ungestraft zu bleiben. Viele Flüchtlinge, die den Seeweg bereits angetreten haben, werden von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurück gebracht. Dort werden die Flüchtlinge und Migranten oft willkürlich verhaftet und in offizielle Haftanstalten gebracht, wo sie ebenfalls schwerer Misshandlung und Missbrauch ausgesetzt sind. In anderen Fällen werden sie in inoffizielle Zentren verschleppt, die von Menschenhändlern und Schleppern kontrolliert werden. Mittels physischer und sexueller Gewaltanwendung wird an solchen Orten Lösegeld von den Familien der Opfer erpresst. In beiden Fällen sind die hygienischen Zustände katastrophal, welche zur Ausbreitung von Infektionskrankheiten beitragen und den Gesundheitszustand der Inhaftierten stark verschlechtern. Die zusätzliche Anwendung körperlicher Gewalt richtet viele Betroffene endgültig zugrunde. 5) UNHCR: Thousands of refugees and migrants suffer extreme rights abuses on journeys to Africa’s Mediterranean coast, new UNHCR/MMC report shows; Pressemitteilung vom 29.07.2020 6) UNHCR: ‘On this Journey, No One Cares If You Live Or Die’ Abuse, protection, and justice along routes between East and West Africa and Africa’s Mediterranean coast; Bericht vom 29.07.2020
Libyen ist kein sicherer Hafen
Eine wichtige Botschaft geht aus diesen Daten des Berichts vor: Libyen ist ohne Zweifel kein sicherer Ort, an den Flüchtlinge zurückgebracht werden sollten. Libyen ist kein sicherer Hafen. Daher ist es in hohem Maße inakzeptabel, Menschen dem Risiko auszusetzen, in die Hände von Schleusern, Menschenhändlern und kriminellen Banden zu gelangen oder in libyschen Internierungslagern festgehalten zu werden. Leider ist dieser Befund nichts Neues. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch und das UNHCR machen bereits seit Jahren auf diesen Umstand aufmerksam. Zwar konnten in der Bekämpfung von Missbrauch und Misshandlung gegen Flüchtlinge einige Fortschritte erzielt werden. So wurden bereits einige verantwortliche Schleuser und Menschenhändler festgenommen und ihre Vermögenswerte eingefroren. Doch es sind weitaus größere Anstrengungen und Maßnahmen nötig, um den Schutz der Menschen auf jenen Routen effektiv sicherzustellen. Eine enge Zusammenarbeit der zuständigen Strafverfolgungsbehörden ist unerlässlich, um Schmuggler- und Menschenhandelsnetzwerke zu zerschlagen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Lage der Flüchtlinge in Libyen ist weiterhin katastrophal. 7) UNHCR: Thousands of refugees and migrants suffer extreme rights abuses on journeys to Africa’s Mediterranean coast, new UNHCR/MMC report shows; Pressemitteilung vom 29.07.2020 8) UNHCR: ‘On this Journey, No One Cares If You Live Or Die’ Abuse, protection, and justice along routes between East and West Africa and Africa’s Mediterranean coast; Bericht vom 29.07.2020 9) Amnesty International: EU-Nordafrika-Kooperation: Verantwortung für Schutzsuchende darf nicht weiter ausgelagert werden; Pressemitteilung vom 13.07.2020 10) Amnesty International: Alle EU-Mitgliedsstaaten müssen aus Seenot gerettete Menschen aufnehmen; Artikel vom 23.09.2019 11) Amnesty International: Amnesty und PRO ASYL warnen Europa vor weiterer menschenverachtender Abschottung; Artikel vom 26.09.2018 12) Amnesty International: EU-Staaten verantwortlich für mehr Tote im Mittelmeer; Artikel vom 08.08.2018 13) Human Rights Watch: Libya: UN Establishes Fact Finding Body; Artikel vom 22.06.2020 14) Human Rights Watch: Libyen; zuletzt gaufgerufen am 04.08.2020 15) Vice News: Libya’s Revolution is in Ruins; veröffentlicht am 26.12.2019 16) Euronews: Watch our special report from inside Libya as warlords battle over the ruins of the war-torn country; veröffentlicht am 13.06.2019
EU macht sich mitschuldig am Leid der Flüchtlinge
Mit ihrer Politik macht sich auch die EU am Leid der Flüchtlinge mitschuldig. Seit Jahren finanziert sie den Ausbau der libyschen Küstenwache mit und ist an der Ausbildung dieser beteiligt. Offiziell soll mit diesem Projekt das Leben derjenigen Menschen gerettet und geschützt werden, welche sich während ihrer Flucht auf eine lebensgefährliche Seereise begeben. Es ist jedoch nicht schwer zu erraten, welchem Zweck diese Kooperation eigentlich dient: Schutzsuchende sollen davon abgehalten werden, die europäischen Außengrenzen überhaupt zu erreichen. Dabei ist es allgemein bekannt, dass die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache oft schwere Menschenrechtsverstöße zur Folge hat. Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa werden durch die Küstenwache auf dem Wasser abgefangen und in libysche Internierungslager gebracht, wo sie Gewalt und Elend ausgeliefert sind. Dass Teile der Küstenwache zu Milizen gehören, die am Geschäft der Menschenschleuser beteiligt sind, ist ebenfalls keine Seltenheit und allgemein bekannt. Das libysche Innenministerium verliert zunehmend den Einfluss auf die Milizen, welche die Haftlager kontrollieren und ist nicht in der Lage, seine menschenrechtlichen Versprechen gegenüber der EU zu halten. Auch im Innenministerium gibt es genug Personen, die Berichten zufolge selbst vom Menschenhandel und dem Geschäft mit den Flüchtlingen profitieren. Doch obwohl die EU ihre Unterstützung offiziell von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig macht und eine Verbesserung in den Haftlagern nicht ersichtlich ist, fließen weiterhin Summen in Millionenhöhe an die libysche Küstenwache. 17) Amnesty International: EU-Nordafrika-Kooperation: Verantwortung für Schutzsuchende darf nicht weiter ausgelagert werden; Pressemitteilung vom 13.07.2020 18) Amnesty International: Alle EU-Mitgliedsstaaten müssen aus Seenot gerettete Menschen aufnehmen; Artikel vom 23.09.2019 19) Amnesty International: Amnesty und PRO ASYL warnen Europa vor weiterer menschenverachtender Abschottung; Artikel vom 26.09.2018 20) Amnesty International: EU-Staaten verantwortlich für mehr Tote im Mittelmeer; Artikel vom 08.08.2018 21) Tagesschau: EU-finanziertes Lager in Libyen „Lage außer Kontrolle“; Artikel nicht mehr verfügbar 22) European Union External Action: About EU Border Assistance Mission in Libya (EUBAM); nicht mehr verfügbar 23) Council of the European Union: Council extends the mandates of EU CSDP civilian missions for one more year; Pressemitteilung vom 30.06.2020 24) European Commission: EU delivers support to border management in Libya; nicht mehr verfügbar 25) EUNAVFOR MED Operation Sophia: About Us; zuletzt aufgerufen am 04.08.2020 26) Bundeswehr: EUNAVFOR MED Operation Sophia; Stand 2021 27) Operation EUNAVFOR MED Irini: About Us; zuletzt aufgerufen am 04.08.2020 28) Vice News: Libya’s Revolution is in Ruins; veröffentlicht am 26.12.2019 29) Euronews: Watch our special report from inside Libya as warlords battle over the ruins of the war-torn country; veröffentlicht am 13.06.2019
Fußnoten und Quellen:
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