La „Sentencia“ und wie Hunderttausende Menschen aufgrund eines Gerichtsurteils staatenlos wurden – Teil 2
In den vergangenen Jahren erlebte die Insel Hispaniola, auf der die beiden Länder Haiti und die Dominikanische Republik beheimatet sind, eine in der Region beispiellose Migrationsbewegung tausender Flüchtlinge von der Dominikanischen Republik nach Haiti. Doch warum sollten ausgerechnet Menschen aus der politisch stabilen und vergleichsweise reichen Dominikanischen Republik in das politisch labile und nahezu mittellose Haiti abwandern? Schuld daran sind ein einzelnes Gerichtsurteil und ein seit Jahrzehnten bestehender und institutionalisierter Rassismus. Doch lasst uns zunächst am Anfang dieser tragischen Geschichte beginnen. 1)The Guardian: The Dominican Republic and Haiti: one island riven by an unresolved past; Stand heute, 25.06.2020
Als Juliana Deguis Pierre, eine Dominikanerin, Haitianischer Abstammung, Beamte ihrer Stadt in der Dominikanischen Republik verklagte, weil sie sich geweigert hatten, ihr ihren Personalausweis auszustellen, konnte sie nie ahnen, welche verheerenden Folgen ihr Urteil für sie selbst und die schätzungsweise 500.000 bis 1 Millionen Haiti-Dominikaner, welche in der Dominikanischen Republik leben, haben würde. Juliana hatte die Beamten beschuldigt, ihren Ausweis aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe und ihres haitianischen Nachnamens nicht ausgestellt zu haben. Ihr Fall ging an ein mit weitreichenden Befugnissen ausgestattetes Verfassungsgericht, welches 2013, anstatt darüber zu urteilen, ob sie diskriminiert worden war, verkündete, dass Pierre die Dominikanische Staatsbürgerschaft gar nicht erst hätte erhalten dürfen, da ihre Eltern nicht über ausreichende Dokumente verfügt hatten, um ihren Wohnsitz zum Zeitpunkt ihrer Geburt nachzuweisen. Der Urteilsspruch, welcher schlicht als „la sentencia“ bekannt wurde, auf Deutsch „das Urteil“, gipfelt in der Feststellung, dass all diejenigen, die nicht nachweisen können, dass ihre Eltern zum Zeitpunkt ihrer Geburt legal in der Dominikanischen Republik ansässig waren, keine dominikanischen Bürger seien. Das Verdikt wurde zusätzlich auch noch retroaktiv bis in das Jahr 1929 in Kraft gesetzt. Im Klartext bedeutete „la sentencia“, dass Hunderttausende Menschen haitianischer Abstammung, die ihr ganzes Leben lang dominikanische Bürger gewesen waren, nun plötzlich Gefahr liefen, staatenlos zu enden und für eine Abschiebung nach Haiti in Betracht gezogen zu werden. Haiti ist vielen von ihnen komplett unbekannt, sie haben noch nie Fuß in das Land gesetzt, sprechen kein Französisch und kennen dort sonst auch niemanden. 2)The Atlantic: What Happened When a Nation Erased Birthright Citizenship; Stand heute, 25.06.2020 3)The Guardian: The Dominican Republic and Haiti: one island riven by an unresolved past; Stand heute, 25.06.2020
Die Wiederkehr der Geister der Vergangenheit
Dieses Urteil rührt zweifellos von einem, in der Dominikanischen Republik seit Jahrhunderten, weit verbreiteten Gefühl des Anti-Haitianismus her, welcher nun erneut politisch instrumentalisiert wurde. Bereits von 1930 bis 1960 entwickelte der dominikanische faschistische Diktator Rafael Trujillo ein rassifiziertes Konzept der dominikanischen nationalen Identität. Dieses basierte auf der rassistischen Vorstellung, dass die Nachkommen der spanischen Sklaverei im Dominikanischen Teil der Insel einen höheren Grad europäischer Abstammung hatten als die Nachkommen der französischen Sklaverei im Haitianischen Teil der Insel und somit den Nachfahren der Haitianer überlegen waren.Im Jahr 1937 befahl Trujillo, der stets geschminkt war um seine Haut weißer aussehen zu lassen, ein Massaker an Haitianern in der Dominikanischen Republik. Um festzustellen, wer Haitianer war, zwangen Dominikanische Soldaten ausgerüstet mit Macheten dunkelhäutige Menschen dazu, das Wort „perejil“ zu sagen, was das spanische Wort für Petersilie ist. Für kreolisch sprechende Haitianer war der „r“-Laut schwer auszusprechen, und ein Versprecher endete mit dem Tod. Schätzungen des Massakers reichen von 10.000 bis 25.000 Toten innerhalb weniger Wochen. Das Massaker ist unter Dominikanern und Haitianern immer noch als El Corte bekannt: Zu Deutsch, „die Zerstückelung“. 4)The Guardian: The Dominican Republic and Haiti: one island riven by an unresolved past; Stand heute, 25.06.2020 5)The New York Times Magazine: In Exile; Stand heute, 25.06.2020 6)Splinter: Junot Diaz and Edwidge Danticat jointly speak out against Dominican Republic refugee crisis; Stand heute, 25.06.2020
Vergebliche internationale Kritik
Trotz massiver internationaler Kritik und Urteilen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der das Urteil für rechtswidrig erklärte, bleibt das katastrophale Gerichtsurteil von 2013 bestehen. Dominikaner haitianischer Abstammung, die keine Papiere ihrer Eltern oder Großeltern, in denen ihre dominikanische Herkunft angegeben ist, vorlegen konnten, erhielten eine Frist bis 2015, um diese Dokumente zu beschaffen und damit legal in der Dominikanischen Republik bleiben zu können.
Nach Angaben der Nachrichtenagentur Associated Press erhielten von den mehreren Tausenden potenziell deportierten Dominikanern haitianischer Abstammung nur etwa 300 ihre Papiere rechtzeitig zum Stichtag. Diese geringe Zahl ist unschwer zu erklären: In der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart, weigerten sich Dominikanische Behörden häufig, Geburtsurkunden für haitianisch stämmige Kinder auszustellen oder zerrissen die ihnen vorliegenden Unterlagen. Des Weiteren gab es stets mangelnde Registrierungsbemühungen in den verarmten Gebieten des Landes. Zudem befürchteten viele, dass sie, falls sie als Migranten ohne Papiere aufträten, sofort abgeschoben werden könnten. 7)The Guardian: The Dominican Republic and Haiti: one island riven by an unresolved past; Stand heute, 25.06.2020 8)The New York Times Magazine: In Exile; Stand heute, 25.06.2020 9)The Atlantic: What Happened When a Nation Erased Birthright Citizenship; Stand heute, 25.06.2020
„Nur noch ein paar Monate moreno“
Im Zeitraum von 2015 bis 2018 waren nach Angaben der „Human Rights Watch“ bereits schätzungsweise 70.000 bis 80.000 Menschen haitianischer Abstammung nach Haiti deportiert worden. Diese Zahl spiegelt jedoch nur einen Bruchteil der tatsächlich geflohenen Dominikaner mit haitianischen Wurzeln wider, denn tausende von ihnen verließen das Land „freiwillig“. Dass die Flucht nicht ganz so „freiwillig“ vonstattenging, zeigen die zahlreichen rassistisch motivierten Angriffe bewaffneter nationalistischer dominikanischer Gruppen auf Haitianer, welche seit dem Urteil nahezu exponentiell in die Höhe geschossen sind.Im Februar 2015 wurde ein Haitianer in der Dominikanischen Republik gelyncht und dann im Zentrum der zweitgrößten Stadt des Landes, Santiago, erhängt. Als Fernsehaufnahmen seiner Leiche, die an einem Baum pendelte, über das ganze Land ausgestrahlt wurden, machte die Polizei von Santiago kurzerhand zwei Papierlose haitianische Einwanderer für das Verbrechen verantwortlich. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass sie diese Gräueltat begangen haben, wenn man bedenkt, dass am selben Tag dominikanische Nationalisten am Tatort eine Kundgebung abgehalten hatten, bei der sie unter anderem haitianische Flaggen verbrannten.
Mirlene Lamour, eine Haitianerin, die als Teenager in die Dominikanische Republik kam, aber nach dem Urteil beschloss, zusammen mit ihren in der Dominikanischen Republik geborenen Kindern nach Haiti zu fliehen, erinnert sich an die unmenschliche Behandlung, die sie vor ihrer Flucht von Seiten ihrer dominikanischen Nachbarn erfuhr: „Sie (ihre dominikanischen Nachbarn) begannen uns vor Ablauf der Frist in Form eines Countdowns spöttisch zu begrüßen und riefen: „Nur noch ein paar Monate, moreno!“ „Die Busse sind bereit. Mach dich auch bereit.“ Die noch in der Dominikanischen Republik verbliebenen Menschen haitianischer Abstammung leben gegenwärtig in einem Zustand des institutionalisierten Terrors, der durch die Polizei, Militär und Selbstjustiz-Mobs aufrechterhalten wird. 10)The New York Times Magazine: In Exile; Stand heute, 25.06.2020 11)The Atlantic: What Happened When a Nation Erased Birthright Citizenship; Stand heute, 25.06.2020 12)The Guardian: Thousands of Haitians fleeing Dominican Republic stuck in camps; Stand heute, 25.06.2020
Die meisten Flüchtlinge und Deportierten landen in kleinen Notlagern in Haiti. Sie enden dort, weil sie keinen anderen Zufluchtsort kennen, weil Haiti oft nie ihre Heimat gewesen ist, weil sie dort keinerlei Land besitzen und da es selbst für einheimische Haitianer nahezu unmöglich ist, Arbeit zu finden. Die Armut und das Elend, welches in diesen Lagern herrscht ist unerbittlich. Eines dieser Camps trägt ironischerweise den Namen „Parc Cadeau“, was „Park des Geschenks“ im Deutschen entspricht. Den Bewohnern dieses Notlagers wird allerdings nun wirklich überhaupt nichts geschenkt, sie müssen in Baracken aus Pappkartons, alten Kleidern und was sie sonst noch alles auftreiben konnten, einen Unterschlupf finden. Nahrung ist knapp, eine warme Mahlzeit pro Tag gilt hier schon fast als Luxus. Die Flüchtlinge sind gezwungen, ihr Wasser aus einem schmutzigen Fluss zu trinken und Krankheiten wie Cholera wüten unaufhaltsam.
Internationale Hilfsorganisationen sind ratlos und praktisch nicht präsent. So erklärte Brian Hansford, ein Sprecher der „United Nations refugee agency“: „Wir haben es mit einer Menge an Unklarheiten und Zweifeln zu tun. Auf der grundlegendsten Ebene ist es schwierig herauszufinden, wie man die Bewohner des „Parc Cadeau“ klassifizieren kann. Einige könnten legal als Flüchtlinge betrachtet werden, andere hingegen könnten Doppelbürger oder Haitianer sein, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Befinden sich diese Menschen unter dem Zuständigkeitsbereich der dominikanischen Regierung, der haitianischen Regierung, oder dem internationalen System?“ 13)The New York Times Magazine: In Exile; Stand heute, 25.06.2020 14)The Atlantic: What Happened When a Nation Erased Birthright Citizenship; Stand heute, 25.06.2020
Diese rechtliche Ungewissheit verschlechtert die Situation der Flüchtlinge, welche staatenlos und mittelos im Elend überleben zu versuchen. Abgesehen von einigen halbherzigen Verurteilungen gegenüber der Regierung der Dominikanischen Republik hat die internationale Staatengemeinschaft diesem Exodus bisher lediglich tatenlos zugesehen. Der haitianisch-amerikanische Autor Edwidge Danticat verglich das Urteil und die Position der Dominikanischen Republik mit einem durchaus stichhaltigen Vergleich: „Es ist, als ob die Vereinigten Staaten sagten: Ja, jeder, der seit 1930 hier ist, muss beweisen, dass er ein Bürger ist. Man muss an den Ort zurückgehen, von dem man gekommen ist, um von dort eine Geburtsurkunde zu bekommen.“ Dies würde in den Ohren eines jeden US-Amerikaners völlig grotesk klingen, ist jedoch die traurige Realität in der Dominikanischen Republik. 15)The Atlantic: What Happened When a Nation Erased Birthright Citizenship; Stand heute, 25.06.2020 16)Splinter: Junot Diaz and Edwidge Danticat jointly speak out against Dominican Republic refugee crisis; Stand heute, 25.06.2020
Fußnoten und Quellen:
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