David gegen Goliath: Die Chagos-Insulaner im Kampf um ihre Heimat versus Großbritannien und die USA
Die Chagos-Inseln sind ein winzig kleiner Archipel mitten im Indischen Ozean, soweit vom Schuss entfernt, dass wohl kaum jemand von diesem kleinen Paradies erfahren hätte, wenn England und die USA es nicht vor mehr als 40 Jahren für ihre selbstsüchtigen Interessen auserkoren hätten. Die Chagossianer lebten damals auf den zahlreichen, verstreut liegenden Inseln, umgeben von idyllischen weißen Sandstränden und grüner Vegetation. Sie führten kein Dasein umgeben von Luxus, doch das Meer eignete sich hervorragend zum Fischen, das Land war fruchtbar und es gab Arbeit auf den zahlreichen Kokosnussplantagen. Die Gemeinschaft, die sich zum größten Teil aus Siedlern aus Indien und Afrika zusammensetzte, hatte eine Gesellschaft aufgebaut, die Dörfer, Krankenhäuser, Kirchen und Schulen umfasste. Doch ihr Leben sollte sich 1968 schlagartig ändern, und die meisten von ihnen würden ihre Insel nie wieder zu Gesicht bekommen. 1)Inside Housing: Injustice upon injustice: the story of the Chagos Islanders; Stand heute, 01.07.2020 2)The Guardian: Chagos Islanders remind us that Britain is a shameful coloniser, not a colony; Stand heute, 01.07.2020
Rückblickend können die 1960er Jahre als das Jahrzehnt der Entkolonialisierung bezeichnet werden, eine Dekade, die praktisch allen ehemaligen britischen Kolonien ihre vollkommene Unabhängigkeit verschaffte. Auch der heutige Inselstaat Mauritius gehörte zu diesen jungen ehemaligen Kolonien, die damals ihre Unabhängigkeit erhielten. Da der Chagos-Archipel direkt neben dem heutigen Territorium von Mauritius liegt, wäre es nur logisch gewesen, die beiden Inselarchipele miteinander zu verbinden und sie zusammen als unabhängig anzuerkennen. Doch die Briten lehnten dies vehement ab. Großbritannien nutzte eine Kombination aus Einschüchterung und Erpressung, um die Chagos-Inseln auszugliedern, damit sie weiterhin kolonisiert bleiben konnten. Der 88-Jährige Sir Anerood Jugnauth, welcher inzwischen als einziger Teilnehmer an den Unabhängigkeitsverhandlungen mit dem damaligen britischen Premierminister Harold Wilson noch am Leben geblieben ist, erinnert sich an Wilsons Worte: „Er sagte den Mauritiern.“ „Wenn Sie mit meinen Vorschlägen [für die Chagos-Inseln] nicht einverstanden sind, vergessen Sie Ihre Unabhängigkeit.“ Diese Erpressungsstrategie war erfolgreich, Mauritius erhielt 1968 seine Unabhängigkeit, während die Chagos Inseln weiterhin fest in britischer Hand verblieben. 3)Inside Housing: Injustice upon injustice: the story of the Chagos Islanders; Stand heute, 01.07.2020 4)The Guardian: Chagos Islanders remind us that Britain is a shameful coloniser, not a colony; Stand heute, 01.07.2020 5)BBC News: Chagos Islands dispute: UK ‚threatened‘ Mauritius; Stand heute, 01.07.2020
„Es wird dort keine einheimische Bevölkerung außer den Möwen verbleiben.“
Ende der 1960er Jahre sollte deutlich werden, warum die Briten so vehement an den Chagos-Inseln festhielten. Großbritannien wollte Raum für den Bau einer strategischen US-Militärbasis auf der Chagos-Insel Diego Garcia schaffen. Die Inselkette wurde vom britischen Außenministerium zum „Britischen Territorium im Indischen Ozean“ (BIOT) erklärt, und Diego Garcia wurden bereits 1966 durch ein streng geheimes Abkommen für 50 Jahre zu „Verteidigungszwecken“ an die USA für 14 Millionen Dollar verpachtet (Dieser Pachtvertrag sollte später unter strengster Geheimhaltung nochmals bis 2036 verlängert werden).Das einzige verbliebene „Problem“ für die USA und Großbritannien waren nun die Chagossianer, die sich noch auf den Inseln befanden und die sie mit allen Mitteln vertreiben wollten. Ein hochrangiges Mitglied des US-Außenministeriums berichtete damals unter Bezugnahme auf die Chagos-Inseln: „Es wird dort keine einheimische Bevölkerung außer den Möwen verbleiben.“ Die damals etwa 1500 Einheimischen wurden gewaltsam aus ihren Häusern entfernt und auf Schiffe verschleppt. Ihre Haustiere wurden vergast und ihre Häuser zerstört. Sie wurden nach Mauritius und auf die Seychellen transportiert und dort einfach an den Häfen ausgesetzt und sich selbst überlassen.
Marie Liseby Elysé, eine Chagossianerin, welche 1973 von der Kolonialverwaltung vertrieben wurde, erinnert sich an die unmenschliche Behandlung, die ihr damals zuteilwurde: „Die Schiffe, die aus Mauritius kamen, brachten all unsere Güter. Aber eines Tages sagte uns der Verwalter, dass wir unsere Insel verlassen müssten. Wir hatten keine Wahl. Die Schiffe, die uns Lebensmittel brachten, kamen nicht mehr. Wir hatten nichts zu essen. Wir hatten keine Medikamente. Überhaupt nichts. Wir haben viel gelitten. Aber dann kam eines Tages ein Schiff namens Nordvaer. Der Britische Verwalter sagte uns, wir müssten an Bord des Schiffes gehen, alle unsere persönlichen Sachen bis auf ein paar Kleider zurücklassen und gehen. Als wir an Bord des Schiffes gingen, waren die Bedingungen miserabel. Wir waren wie Tiere und Sklaven auf diesem Schiff. Und was mich betrifft, so war ich zu diesem Zeitpunkt im vierten Monat schwanger. Das Schiff brauchte vier Tage, um Mauritius zu erreichen. Nach unserer Ankunft wurde mein Kind geboren und starb.“ Es überrascht nicht, dass die Chagossianer nach ihrer Aussetzung in den Wellblech-Slums von Mauritius und den Seychellen in Armut lebten, wo sie um Arbeit und Akzeptanz kämpften. Darüber hinaus wurde es ihnen von den Briten strengstens verboten, auch nur einen Fuß auf ihre Heimatinseln zu setzen. 6)Inside Housing: Injustice upon injustice: the story of the Chagos Islanders; Stand heute, 01.07.2020 7)The Guardian: ‘It’s heartbreaking’: the Chagos Islanders forced into exile; Stand heute, 01.07.2020 8)The Guardian: UK suffers crushing defeat in UN vote on Chagos Islands; Stand heute, 01.07.2020 9)The Interpreter: Diego Garcia: An
American perspective; Stand heute, 01.07.2020 10)Cultural Survival: Chagossians-the original inhabitants of Diego Garcia face U.S. government in the court; Stand heute, 01.07.2020
Internationale Urteile werden seitens Großbritanniens nicht respektiert
Wer glaubt, dass die Ungerechtigkeiten, denen die Insulaner ausgeliefert waren, nun der Vergangenheit angehören, irrt. Trotz einer Empfehlung des Internationalen Gerichtshofs im Jahr 2019 werden die Chagossianer von der englischen Regierung weiterhin an der Rückkehr auf ihre Heimatinsel gehindert. Selbst nachdem im Jahr 2019 bei der UN-Generalversammlung 116 Länder für einen Antrag gestimmt haben, in dem eine sechsmonatige Frist für den Rückzug Großbritanniens aus der Chagos-Inselkette und die Wiedervereinigung der Inseln mit dem benachbarten Mauritius festgelegt wurde, hält Großbritannien immer noch am Archipel fest. Nur mickrige 6 Stimmen unterstützten die Ansicht der USA und Großbritanniens, dass die Chagos Inseln in den 1960er Jahren rechtmäßig in britischen Besitz übergingen und daher ein britisches Territorium bleiben müssen.
Diese vernichtende Niederlage der beiden Großmächte erfolgte trotz Washingtons energischer Lobbyarbeit und Gesprächen mit nationalen Regierungen rund um den Globus. Großbritannien will sich nach wie vor nicht an die Resolution halten und lehnt diese ab. In London betont die Regierung die Bedeutung der Partnerschaft mit den USA bezüglich der Militärbasis Diego Garcia. „Die gemeinsame britisch-amerikanische Verteidigungseinrichtung auf dem britischen Territorium im Indischen Ozean trägt dazu bei, die Menschen in Großbritannien und auf der ganzen Welt vor Terrorismus, organisierter Kriminalität und Piraterie zu schützen“, so die Worte einer Sprecherin des Britischen Auswärtigen Amtes.
Die Tatsache, dass die Amerikaner Anfang der 2000er Jahre Diego Garcia nachweislich als eine Insel benutzten, auf der Terrorverdächtige verhört, von der CIA illegal gefoltert und dann in das inzwischen berüchtigte Gefangenenlager in Guantánamo Bay gebracht wurden, fand selbstverständlich keinerlei Erwähnung. Professor Philippe Sands QC, der Mauritius vor dem Internationalen Gerichtshof vertrat, meinte hingegen: „Die Nichtumsetzung des [Internationalen Gerichtshof]-Urteils und der Entscheidung der Generalversammlung ist gesetzlos und zutiefst bedauerlich, ein Ausdruck der anhaltenden kolonialen Denkweise. Es untergräbt zudem das vermeintliche Bekenntnis Großbritanniens zur Rechtsstaatlichkeit.“ 11)The Guardian: Chagos Islanders remind us that Britain is a shameful coloniser, not a colony; Stand heute, 01.07.2020 12)The Guardian: UK suffers crushing defeat in UN vote on Chagos Islands; Stand heute, 01.07.2020 13)The Guardian: Labour would return Chagos Islands, says Jeremy Corbyn; Stand heute, 01.07.2020
„Zu Hause war das Paradies“
Dennoch gaben die Urteile vor allem den älteren Generationen von Chagossianern, die noch lebhafte Erinnerungen an ihre Heimat haben, die Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch in der Lage sein werden, eines Tages ihre Heimat wiederzusehen. Jahrzehnte des erzwungenen Exils haben die Chagossianischen Gemeinschaften in der ganzen Welt zerstreut. Die meisten leben in Großbritannien, auf Mauritius oder den Seychellen. Keiner von ihnen erhielt die Erlaubnis zur Rückkehr, mit Ausnahme der fünf Gruppenbesuche, die von der britischen Regierung stark inszeniert und organisiert wurden und bei denen 76 im Exil lebende Chagossianer die Gräber ihrer Vorfahren besuchen und bis zu einer Woche auf dem Archipel verbringen durften.Es bleibt zu hoffen, dass Großbritannien nach Jahrzehnten endlich sein Unrecht einsieht und sich den internationalen Resolutionen fügt. So erzählt der 81-jährige Chagossianer Samynaden Rosemond mit einem Lächeln auf den Lippen: „Zu Hause war das Paradies.“ Er lebt gegenwärtig auf Mauritius mit seiner Frau Daryela in einem kleinen Haus am Rande der Hauptstadt Port Louis. „Die Briten haben uns keine Chance gegeben. Sie sagten nur: „Oh, das gehört euch nicht mehr.“ „Wenn ich hier [in Mauritius] sterbe, wird mein Geist überall sein – er wäre nicht glücklich. Aber wenn ich dort sterbe, werde ich in Frieden ruhen“, so seine bewegenden Worte. 14)The Guardian: ‘It’s heartbreaking’: the Chagos Islanders forced into exile; Stand heute, 01.07.2020 15)BBC News: Chagos Islands dispute: UK ‚threatened‘ Mauritius; Stand heute, 01.07.2020
Fußnoten und Quellen:
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