Neue Regierung in Israel: Nahostkonflikt vor weiterer Eskalation
500 Tage hat die politische Krise in Israel gedauert. Weil weder der rechts-religiöse Block des bisherigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, noch das Mitte-Links-Bündnis seines Herausforderers Benny Gantz, eine Mehrheit im Parlament hatte, mussten die Israelis innerhalb eines Jahres drei Mal wählen gehen. Die politische Lage änderte sich dabei jedoch kaum. Der Ministerpräsident ist wegen Korruption angeklagt, deshalb hatte Gantz sich stets geweigert, mit ihm zusammenzuarbeiten. Doch dann brach COVID-19 in Israel aus. Der ehemalige Armeechef vollzog eine 180-Grad-Wende und ging im Angesicht der Pandemie doch eine Koalition mit seinem einstigen Rivalen ein. Seit Sonntag hat Israel nun wieder eine gewählte Regierung. 1) Tagesschau.de: Israels Regierung vereidigt: „Das nennen Sie eine Notstandsregierung?“; Artikel nicht mehr verfügbar 2) RP Online: Nach 500 Tagen politischen Stillstands: Israel hat eine neue Regierung; Artikel vom 17.05.2020
Die Krise ist gelöst und Israel kann sich voll und ganz auf den Kampf gegen Corona konzentrieren – so scheint es jedenfalls. Doch mit der Machtübernahme der Koalition bahnt sich ein neues Problem an. Für Israel und die gesamte Region.
Denn Netanjahu kann sich nun voll und ganz seinem Herzensprojekt widmen: Der Annektierung von Teilen des Westjordanlands. Im Koalitionsvertrag wird das Vorhaben explizit genannt, Gantz hat dabei sogar auf ein Vetorecht verzichtet. Die Siedlungen, die Israel auf palästinensischem Gebiet errichtet hat, sowie das Jordan-Tal an der Grenze zu Jordanien, sollen israelisches Staatsgebiet werden. Bei den Gebieten handelt es sich um palästinensisches Territorium, doch für Netanjahu sieht das ganz anders aus: „In diesen Regionen wurde das jüdische Volk geboren. Es ist an der Zeit, dort israelisches Recht anzuwenden und ein weiteres großes Kapitel in die Annalen des Zionismus zu schreiben.“ Der Plan hat jedoch einen Haken: Ohne die Zustimmung der Palästinenser verstößt eine Annexion gegen das Völkerrecht. 3) Tagesschau.de: Israels Regierung vereidigt: „Das nennen Sie eine Notstandsregierung?“; Artikel nicht mehr verfügbar 4) Süddeutsche Zeitung: Ein besserer Deal ist möglich; Artikel vom 14.05.2020
Das Völkerrecht hat den israelischen Staat bisher nicht aufgehalten, wenn es darum ging, Siedlungen zu bauen oder Ostjerusalem zu annektieren. Doch dieses Verhalten hat viel Wut und Gewalt bei den Palästinensern erzeugt. Dazu gehören neben ständigen Anti-Israel-Protesten auch die großen Aufstände 1987-1993 und 2000-2005, sowie Anschläge von palästinensischen Terroristen und immer wieder Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen. Die Gewalt nahm über die Zeit ein solches Ausmaß an, dass Israel eine Sperranlage um das Westjordanland herum errichtete. Wenn Netanjahu seine Pläne im Sommer tatsächlich umsetzt, dann wird das unweigerlich eine neue Welle von Hass und Gewalt erzeugen. Eine Annexion wäre Wasser auf die Mühlen der Extremisten. Und die Hamas dürfte erneut vom Gaza-Streifen aus Raketen nach Israel abfeuern, was unweigerlich eine israelische Reaktion provozieren würde. Damit müssten auch die Menschen in Gaza leiden, obwohl sie von der Annektierung nicht direkt betroffen sind.
Welche Folgen es darüber hinaus auf internationaler Ebene geben würde, ist nicht abzusehen. Ziemlich sicher wird aber der brüchige Frieden, den man sich in der Region über lange Zeit aufgebaut hat, Geschichte sein. Zwar ist es lange her, dass die arabischen Staaten gegen Israel Krieg geführt haben, und mittlerweile ist auch ihre Bindung an den Westen enger geworden, doch die Länder stehen immer noch fest an der Seite der Palästinenser. Eine Annektierung von Teilen des Westjordanlands werden sie wohl kaum akzeptieren. Der König von Jordanien hat bereits angekündigt, dass ein „massiver Konflikt“ mit seinem Land die Folge wäre. Sogar eine Aufkündigung des vor 25 Jahren geschlossenen Friedensvertrags mit Israel zieht er in Betracht. 5) ZEIT ONLINE: Nahostkonflikt: Arabische Liga nennt Israels Annexionspläne „neues Kriegsverbrechen“; Artikel vom 30.04.2020 6) Spiegel: Jordaniens König Abdullah II.: „Die Gefahr, dass Menschen verhungern, ist größer als die Gefahr durch das Virus“; Interview vom 15.05.2020
Auch die Türkei hat der Regierung in Jerusalem schon gedroht, genauso wie der Iran. Der steht, mit der Hisbollah im Libanon und mit den Revolutionsgarden in Syrien, direkt vor der israelischen Haustür. In welcher Form es zu einer Konfrontation kommen wird, weiß niemand. Doch im Falle einer Annexion werden sich auf jeden Fall die Spannungen im Nahen Osten verschärfen. Damit wäre der Weg in Richtung Eskalation geebnet. 7) DW: Trumps Nahostplan: Die Türkei, der Iran und der palästinensische Joker; Artikel vom 12.02.2020
Die USA stehen in Sachen Annexion fest hinter Israel. Kein Wunder, denn das Ganze ist ja Teil des Friedensplans, den der US-Präsident Donald Trump im Januar als seinen großen „Deal“ vorgestellt hatte. Mit Rückenwind aus Washington kann Netanjahu seine Pläne auch ohne größeren Widerstand aus den eigenen Reihen angehen. 8) Tagesschau.de: Trump präsentiert Nahost-Plan: USA wollen die Zwei-Staaten-Lösung; Artikel nicht mehr verfügbar
Die letzte Macht, die Netanjahu vielleicht noch ausbremsen könnte, ist Europa. Doch die EU-Mitgliedsstaaten sind – wie so oft – uneins. Man ist sich zwar einig, dass eine Annektierung als völkerrechtswidrig zu verurteilen wäre, darüber hinaus haben die Politiker der 27 Mitgliedsstaaten aber ganz unterschiedliche Vorstellungen von der gemeinsamen Reaktion. Frankreich, Skandinavien und Luxemburg wollen mit harten Konsequenzen drohen, beispielsweise mit Sanktionen. Doch Andere, wie Ungarn und Österreich, sträuben sich vehement dagegen. Und Deutschland will nichts überstürzen: Als Erstes sollte man auf diplomatischen Wegen versuchen, Netanjahu von seinem Vorhaben abzubringen. 9) Süddeutsche Zeitung: Israel: Warten auf Tag X; Artikel vom 19.05.2020 10) DW: Außenpolitik: EU findet keine Antwort auf Israels Annexionspläne; Artikel vom 15.05.2020
Kritik allein hat Israel bisher jedoch noch nie aufgehalten. Europa muss alle Mittel anwenden, wenn es wirklich verhindern will, dass der Nahe Osten in die nächste Krise rutscht. Die Folgen für die Menschen in der Region wären jedenfalls katastrophal.
Fußnoten und Quellen:
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