Abschiebungen als Fluchtgrund: Wenn Menschen zum zweiten (dritten, vierten) Mal fliehen
Abschiebungen sind ein heikles Thema. Die einen finden, es gibt viel zu wenige, die anderen sind der Meinung, es sollten überhaupt keine mehr stattfinden. Abschiebungen werden gerne als politisches Mittel hergenommen. So kommt es, dass sogar in Zeiten von Corona zum Teil noch Abschiebungen durchgeführt werden. 1) tagesschau.de: Eingeschränkter Flugverkehr: Abschieben – trotz Corona; Artikel nicht mehr verfügbar
Wer abgeschoben wird, hat – nach Einschätzung Behörde – in der Heimat weder Krieg noch Gewalt zu fürchten. Das bedeutet aber nicht, dass Abgeschobene dort ein normales Leben führen können.
Ein Beispiel: Mali. Das riesige Land im Westen Afrikas ist geprägt von Korruption, Terrorismus und Machtkämpfen. Obwohl es über Rohstoffe verfügt, sind die Bewohner meist arm. Zusätzlich bedroht der Klimawandel zahlreiche Existenzen. Viele Malier fliehen deshalb nach Europa. Sie wollen dort Geld verdienen und es nach Hause zurückschicken. Oft ist es die einzige Chance, die Lebenssituation einer Familie zu verbessern. Das klappt jedoch nur, wenn der Geflüchtete auch in Europa bleiben kann. Doch viele werden von den Behörden in Europa als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgestempelt und in die Heimat abgeschoben. 2) bpb: „Es ist ein großes Unglück, mit leeren Händen zurückzukehren“: Über das Leben nach der Abschiebung; Artikel vom 09.03.2018 3) Youtube: WDR Doku: Grenzen dicht! Europas Schutzwall in Afrika; Dokumentation vom 14.08.2018
Dort erneut Fuß zu fassen, ist beinahe unmöglich. Europa fühlt sich nicht mehr zuständig und die malischen Behörden haben keine funktionierenden Programme für Reintegration. Oft ist das Leben nun noch schlimmer als vor der Flucht. Die Familien der Geflohenen mussten sich in der Regel überschulden, um die Flucht zu finanzieren. Nun stehen sie vor dem Nichts. Wer von der eigenen Familie aufgenommen wird und mit ihr in Armut und Perspektivlosigkeit leben darf, hat noch Glück. Nicht selten werden die Rückkehrer jedoch als Versager verstoßen. Sie müssen sich dann als Tagelöhner in den Städten durchschlagen und dürfen erst nach Hause, wenn sie genügend Geld verdient haben. Bei einem Lohn von ein, zwei Euro am Tag ist das natürlich unmöglich. Viele kehren nach der Abschiebung auch aus Scham nicht erst zu ihrer Familie zurück. 4) bpb: „Es ist ein großes Unglück, mit leeren Händen zurückzukehren“: Über das Leben nach der Abschiebung; Artikel vom 09.03.2018 5) Youtube: WDR Doku: Grenzen dicht! Europas Schutzwall in Afrika; Dokumentation vom 14.08.2018 6) Das Erste: Monitor: Abgeschoben aus Europa: Das Schicksal der „Rückkehrer“; Video vom 06.07.2018 7) taz: Abschiebungen nach Mali: Die Heimat ist fremd geworden; Artikel vom 28.04.2017
Auch wenn den Abgeschobenen weder Krieg noch Terror drohen, ihre Probleme hat Europa nicht gelöst. Im Gegenteil – die Abschiebung hat sie meist sogar noch verschlimmert. Viele sehen noch immer ihre einzige Chance in der Flucht über das Mittelmeer, trotz der Erfahrungen, die sie dort bereits gemacht haben. Im Angesicht ihrer Lage scheint für sie alles besser zu sein, als in Mali zu bleiben. 8) Youtube: WDR Doku: Grenzen dicht! Europas Schutzwall in Afrika; Dokumentation vom 14.08.2018 9) Das Erste: Monitor: Abgeschoben aus Europa: Das Schicksal der „Rückkehrer“; Video vom 06.07.2018
Ähnlich geht es auch denjenigen, die nach Afghanistan abgeschoben werden. In Afghanistan herrscht Bürgerkrieg – eine Tatsache, die Abschiebungen eigentlich unmöglich machen sollte. Doch die deutsche Regierung behauptet immer wieder, dass es einige Gegenden in Afghanistan gebe, in denen man sicher leben könne. Deshalb findet beinahe jeden Monat ein Abschiebeflug von Deutschland nach Afghanistan statt, der jeweils einige Dutzend Afghanen in die angeblich sicheren Regionen bringt. 10) Das Erste: Monitor: Hilflos in Kabul: Abschiebungen nach Afghanistan; Video vom 09.03.2017 11) Spiegel: Afghanistan: Deutschland hat 31 Menschen nach Kabul abgeschoben; Artikel vom 13.02.2020
„Sicherheit“ ist in diesem Fall jedoch Definitionssache. Ein Gebiet, das heute noch ruhig ist, kann morgen umkämpft sein. Vor den Taliban ist man nirgendwo im Land sicher. Wer ihren Kämpfern in die Hände fällt, muss mit Gewalt und Misshandlung rechnen. Und wo die Dschihadisten nicht mit einer Armee vor den Toren stehen, verbreiten sie mit Terroranschlägen Angst und Schrecken. Allein in der afghanischen Hauptstadt Kabul, die zu den „sicheren Gebieten“ zählt, fielen 2019 mehr als 250 Menschen Terroranschlägen der Taliban und anderer Islamisten zum Opfer, über 1.100 wurden verletzt. Ein Leben in Ruhe und Frieden sieht anders aus. 12) Das Erste: Monitor: Das Märchen vom sicheren Afghanistan; Video vom 08.12.2016 13) Spiegel: Afghanistan: Mehrere Tote bei Anschlag in Kabul; Artikel vom 11.02.2020
Doch selbst wer vom Terror verschont bleibt, hat es schwer in Kabul. Unter den aus Deutschland Abgeschobenen verfügt kaum jemand über eine Perspektive. Vom deutschen Staat gibt es keine Hilfe. Ein wenig Handgeld kriegt man nach der Ankunft in Kabul und das war’s. Die 20 Euro reichen, um sich ein paar Tage durchzuschlagen. Danach wissen die Abgeschobenen nicht, wo sie schlafen sollen oder wie sie Geld verdienen können. EU- und UN-Programme helfen den wenigsten. Jobs sind knapp. „Arbeit gibt es nur für die, die Leute kennen“, erzählt ein Afghane, der aus Deutschland abgeschoben wurde, „und ich kenne niemanden in Kabul.“ Viele können sich nur dank finanzieller Unterstützung von Freunden und Verwandten in Deutschland über Wasser halten. Wer diese Hilfe nicht hat, landet schnell auf der Straße oder in den Elendsvierteln. 14) Das Erste: Monitor: Hilflos in Kabul: Abschiebungen nach Afghanistan; Video vom 09.03.2017 15) Focus Online: „Ich halte es hier nicht aus“: Sehnsucht nach Deutschland: Abgeschobene Flüchtlinge berichten von ihrem Leben in Afghanistan; Artikel vom 22.12.2017 16) Pro Asyl: Studie zur Situation abgeschobener Afghanen: Bedrohung, Gewalt, Chancenlosigkeit; Artikel vom 07.10.2019
Es gibt zahlreiche Berichte von Afghanen, die Jobs oder Ausbildungsplätze in Deutschland hatten, fleißig Deutsch lernten und gut integriert waren. Es sah so aus, als gäbe es hierzulande eine Zukunft für sie. Und obwohl sie sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatten, wurden sie eines Tages abgeschoben. Über Nacht war der Traum von der Zukunft im friedlichen Deutschland geplatzt. Stattdessen landeten sie in einer fremden Stadt ohne Freunde, ohne Job und ohne Schlafplatz. Auch für die Betriebe, die die Abgeschobenen angestellt hatten, ist es ein herber Verlust. Denn in Zeiten des Fachkräftemangels ist man dort froh über jeden zuverlässigen und arbeitswilligen Mitarbeiter, den man finden kann. 17) Das Erste: Monitor: Erst integrieren, dann abschieben: Deutschlands absurde Asylpolitik; Video vom 16.02.2017 18) Pro Asyl: Die Folgen der „konsequenten Abschiebepolitik“; Artikel vom 19.12.2019
Das Leben in Afghanistan ist so schlimm, dass kaum jemand dort bleiben möchte. Die meisten sehen im Angesicht von Perspektivlosigkeit, Armut und ständiger Gefahr ihre einzige Möglichkeit in einer erneuten Flucht. Obwohl sie wissen, was sie erwartet, begeben sie sich erneut auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa. 19) Pro Asyl: Studie zur Situation abgeschobener Afghanen: Bedrohung, Gewalt, Chancenlosigkeit; Artikel vom 07.10.2019 20) Focus Online: „Ich halte es hier nicht aus“: Sehnsucht nach Deutschland: Abgeschobene Flüchtlinge berichten von ihrem Leben in Afghanistan; Artikel vom 22.12.2017
Abschiebungen sind kein Erfolgsmodell. 28.000 Asylbewerber, die Deutschland seit 2012 verlassen mussten, sind mittlerweile wieder zurückgekehrt. Bei fast 5.000 davon ist es bereits die dritte Flucht nach Deutschland, bei mehr als 1.000 die vierte und bei knapp 300 sogar die fünfte. Wer sich nach der Abschiebung erneut auf den Weg macht, kennt die Gefahren der Flucht. Den Fliehenden ist bewusst, dass sie sich strafbar machen und wie schlecht die Chancen auf Asyl in Europa stehen. Dass sie das alles trotzdem auf sich nehmen, ist ein Zeichen ihrer riesigen Verzweiflung. Und es ist ein Zeichen des Versagens Deutschlands und der Europäischen Union. 21) Spiegel: Deutschland: Tausende Asylbewerber bereits mehrfach abgeschoben; Artikel vom 01.12.2019
Fußnoten und Quellen:
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