Kamerun: Koloniale Vergangenheit spaltet das Land bis heute
Gerard ist 19. Er verlässt seine Kirche, wie er es wohl jeden Tag tut, als Soldaten das Feuer eröffnen und ihn aus kurzer Distanz hinrichten. Zeit zu erklären, dass er Priesteranwärter und damit unschuldiger Zivilist ist, hatte er nicht. In derselben Region, im englischsprachigen Westen Kameruns, liegt seit drei Tagen eine Leiche auf der Straße. Sie soll eine Warnung der Armee sein. Der Tote war ein anglophoner Separatist. Tragödien wie diese sind hier Alltag. Es vergehen keine 24 Stunden, in denen nicht mindestens drei Menschen sterben. 1) Youtube: DW Deutsch: Anglophone Krise in Kamerun spitzt sich weiter zu| DW Deutsch; Hochgeladen am 20.10.2018 2) Misereor Blog: Kamerun: Die Krise hält an; Artikel vom 22.11.2019
Gerard und der ermordete Rebell auf der Straße sind die grausame Konsequenz eines tief verwurzelten Konflikts. Die vormals deutsche Kolonie Kamerun wird nach dem 2. Weltkrieg zu französischem und britischem Mandatsgebiet. In der Silvesternacht 1960 hallen Schüsse durch das Wirtschaftszentrum Douala. Wenig später erklärt der frankophone Teil des Landes seine Unabhängigkeit und bildet 1961 mit einem Teil des ehemaligen britischen Abschnitts einen föderalen Staat. Mit der Emanzipation geht die Herrschaft an die französischsprachige Bevölkerung über, die Zweiteilung besteht weiterhin fort. Der wesentlich kleinere anglophone Teil – ungefähr 20 Prozent der 25 Millionen Einwohner – fühlt sich von der politischen und wirtschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Das Bildungssystem, die Justiz und der Alltag sind einseitig gestaltet. Versprechen der Dezentralisierung werden alle samt gebrochen. Das Schicksal Kameruns ist seit jeher von immer wiederkehrenden Spannungen geprägt. Seit November 2016 reißen die Proteste der anglophonen Bevölkerung nicht mehr ab. Was friedlich anfängt, wird von wachsender Ungleichheit so lange angeheizt, bis Sisiku Ayuk Anfang Oktober 2017 einen eigenen englischsprachigen Staat ausruft: „Ambasonien“. Die deutliche Symbolik spitzt die Krise erneut zu. Separatistische Milizen und staatliche Sicherheitskräfte liefern sich erbitterte Kämpfe. Heute herrscht im Westen des Landes Bürgerkrieg. 3) SPIEGEL: Boko Haram, Bürgerkrieg, Flüchtlinge in Kamerun: „Das kann leicht explodieren“; Artikel vom 27.07.2019 4) Fluchtgrund: Kamerun: Koloniale Grenzziehung spaltet das Land bis heute; Artikel vom 19.02.2019
Anfang 2020 ist für Kamerun aus zweierlei verschiedener Gründe ein besonderer Zeitraum. Der Januar markierte 60 Jahre Unabhängigkeit und damit auch 60 Jahre desselben Konflikts. Im Februar fanden die Parlaments- und Kommunalwahlen statt. Der eigentlich schon für 2018 angesetzte Termin musste aufgrund der Unruhen bereits zweimal verschoben werden. Dass die Wahlen auch in diesem Jahr kaum bedeutendes politisches Gewicht hatten, dürfte nicht überraschen. Die Lage in Kamerun ist, von der Weltöffentlichkeit größtenteils unbeachtet, absolut schwierig. Das Land ist getreu den kolonialen Grenzen tief gespalten, die Auseinandersetzungen zwischen Separatisten und Armee übertreffen sich gegenseitig an Grausamkeit und haben bis dato 1.800 Menschen das Leben gekostet. 530.000 Menschen leben als Vertriebene, viele davon als Binnenflüchtlinge im eigenen Land. Die Zivilbevölkerung steht zwischen den Fronten, ohne zu wissen, wem und wie man noch vertrauen kann. Die Aufständischen nehmen für sich in Anspruch, die anglophonen Interessen zu vertreten, bilden de facto aber keine geschlossene Einheit. Die eiserne Hand des Dauerpräsident Paul Biya wusste dem Ruf nach Gleichberechtigung nie etwas anderes entgegen zu setzen als Schweigen und Gewalt. Vielfältige Vermittlungsangebote ließ die Regierung lange Zeit unbeachtet. Dieser fehlende Dialog radikalisiert und verhärtet die Bevölkerung im Westen zunehmend. Ihre Forderung nach der Rückkehr zu einem föderalen System ist zum unbedingten Streben nach einem eigenen Staat geworden. Dem nachzugehen ist für den Präsidenten Paul Biya und seine Regierung ausgeschlossen. Die anglophonen Provinzen gehören zu den rohstoffreichsten des Landes. Biya regiert Kamerun seit 38 Jahren. Die Wahl am 9. Februar diente ihm hauptsächlich dazu, die Dominanz seiner Partei RDPC zu festigen. Ein bedeutender Oppositionspolitiker boykottierte die Abstimmung. Die Separatisten verboten der Bevölkerung im Westen des Landes über die Wahlen zu sprechen, geschweige denn zu partizipieren. Es kam zu Unruhen und Schusswechseln. Die Ergebnisse werden am 27. Februar erwartet.Vor diesem Hintergrund steht für Kamerun neben Wahlen und Jubiläum wohl vor allem die Frage danach im Mittelpunkt, wie sehr der Konflikt noch eskalieren kann. Denn positive Zukunftsaussichten lassen sich kaum ausführen. Das Land ist von einer der alten Krankheiten befallen, die europäische Großmächte mit ihrer wirtschaftlichen Gier und dem Streben nach ausufernder Macht in fast alle Länder des afrikanischen Kontinents importiert haben. Die Konflikte der einzelnen Staaten sind heute so tief verankert und von Enttäuschung und gegenseitigem Misstrauen geprägt, dass sich jede Entwicklungshilfe daran die Zähne ausbeißt. Unter der Voraussetzung gegenseitiger Kooperationsbereitschaft braucht es mehr als nur finanzielle – die für Kamerun nur in geringem Ausmaß gewährleistet wird – Unterstützung. Politische Lösungsansätze, klare Stellungnahmen und eine Begegnung auf Augenhöhe – auch hier mangelt es an Engagement – sind gleichwertige Voraussetzungen. Dankbar ist in Kamerun den Kolonialmächten niemand. Ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen gab es noch nie. Mehr als 50 Prozent der finanziellen Reserven werden in der französischen Staatskasse gelagert. Selbst in Frankreich kann niemand glauben, dass das irgendetwas mit Unabhängigkeit zu tun hat. Unter der Führung Paul Biyas bleibt der wirtschaftliche Aufschwung aus, Korruption ist endemisch verbreitet und die Infrastruktur miserabel. Politische Veränderungen mit ihm an der Macht scheinen utopisch. Im Norden des Landes verübt die Terrororganisation Boko Haram immer wieder Selbstmordanschläge. Die Situation an den Grenzen zur Zentralafrikanischen Republik ist angespannt. Perspektivlosigkeit und Ohnmacht lassen vor allem die Jugend frustriert zurück. Kamerun ist ein Pulverfass mit dem Potential einer tödlichen Explosion. 5) Deutschlandfunk: Gespaltenes Land: Die Krise im anglophonen Teil Kameruns; Artikel vom 18.05.2019 6) Deutsche Welle: Trotz anhaltender Spannung: Kamerun wählt neues Parlament; 09.02.2020 7) Deutsche Welle: Unabhängigkeit: 60 Jahre unabhängiges Kamerun – und keine Feierlaune; Artikel vom 01.01.2020 8) Epo: Kamerun: MISEREOR kritisiert Abhaltung von Wahlen; Artikel vom 07.02.2020 9) Friedrich Ebert Stiftung: Kamerun – die anglophone Krise: Mehr als nur ein Sprachenstreit; August 2017 10) BMZ: Kamerun: Überblick: Partnerschaft in schwierigem Umfeld; Zuletzt aufgerufen am 18.02.2020
Fußnoten und Quellen:
Dipanda Kilombo
Veröffentlicht um 15:48h, 20 AprilEs ist wirklich traurig dass ausgerechnet das Land mit den meisten Bodenressourcen in der zentralafrikanischen Region am stärksten von Armut, Korruption und stagnierender Entwicklung betroffen ist. Heute sind überall in Europa und der Welt die Folgen einer Pseudo-Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich in Form von Flüchtlingen -sowohl politische als auch wirtschaftliche- zu sehen. Es ist eine Schande dass ein Land wie Frankreich aus seiner Herrscherstellung als koloniale Macht heraus, ein Geschäftsmodel mit den afrikanischen Ländern entwickelt hat, bei dem vor allem das afrikanische Volk der große und einzige Verlierer ist: an der Macht darf jeder afrikanische Präsident bleiben, der sich bereit erklärt die Interessen Frankreichs zu vertreten. Für alle andere ist ein Grab vorgesehen. Wie soll ein Land unter solchen Voraussetzungen voran kommen? Das afrikanische Kontinent ist voll mit hellen aufgeweckten jungen Köpfen sowohl Inlands als auch in der Diaspora, die an den richtigen Funktionen in kurzer Zeit bedeutsamere Veränderungen bewirken könnten als manche über ein halbes Jahrhundert. Das sind Ansatzpunkte für alle westliche Regierungen die das Flüchten an der Wurzel anpacken wollen, und nicht irgendwelche materielle oder finanzielle Entwicklungshilfen, die in den meisten Fällen die betroffene nicht erreichen.