Alle elf Sekunden ein Mädchen: Die grausame Praxis der Genitalverstümmelung
Kenia: Mama Lucy steht vor einer Schulklasse und erklärt folgendes: „Beschneidung ist gegen die Menschenrechte.“ Sie geht auf und ab, gestikuliert und betont: „Eine Frau ist ein Mensch.“ Die Schulklasse ist still, hört zu, versteht, dass ihnen etwas Wichtiges erklärt wird. „Seht ihr das Bild vor euch? Könnt ihr den Schmerz fühlen.“ Sie zeigt der Klasse das Modell einer gesunden Vagina, sie sagt: „So eine solltet ihr alle haben.“ Sie zeigt der Klasse das Modell einer verstümmelten Vagina, sie fragt: „Könnt ihr euch das vorstellen? Den Schmerz, den diese Frauen ertragen? Tag für Tag.“ Die Kinder machen sich Notizen, fertigen Zeichnungen an. Für viele ist das neu. Sie kennen weder die Anatomie ihres eigenen Körpers, noch ihre Rechte. Mama Lucy arbeitet für die afrikanische Nichtregierungsorganisation Amref Health Africa. Ihr Ziel ist es Mädchen über Familienplanung und reproduktive Gesundheit aufzuklären, aber vor allem, sie vor der grausamen Praxis der Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation – FGM) zu schützen. 1) amref: Beschneidung verhindern; nicht mehr verfügbar
Bei einer weiblichen Beschneidung werden die äußeren Genitalien teilweise oder ganz entfernt. Oft erfolgt der Eingriff ohne Betäubung mithilfe von unsterilen Werkzeugen wie Rasierklingen oder Glasscherben. Manchmal wird nur die Klitoris entfernt, in anderen Fällen wird die Wunde bis auf eine kleine Öffnung mit Dornen befestigt oder zugenäht. Medizinischen Nutzen oder Vorteile hat das absolut nicht. Mit dem ersten Schnitt beginnt für die Betroffenen ein lebenslanger Leidensweg. Die Gründe für FGM variieren, je nach Gemeinschaft und Kultur. Für die einen manifestiert sie den Übergang vom Mädchen zur Frau, ist mit einer großen Feierlichkeit verbunden und ein Anlass zu Freude. Andere Rechtfertigungen sind religiöser Art oder beziehen sich darauf, die Heiratsfähigkeit eines jungen Mädchens zu garantieren. Ehre und sozialer Status einer ganzen Familie hängen davon ab. Unbeschnittene Frauen gelten vielerorts als unrein, sie sollen stinken, sind unfruchtbar und eine tödliche Gefahr für den Mann, der mit ihnen verkehrt. Wer nicht beschnitten ist, fällt durch das soziale Raster und wird verstoßen. Ohne Hochzeit, keine Zukunft. Manchmal ist FGM auch nur ein Ritual, das nicht hinterfragt wird. Man macht es eben einfach. Bricht man nun all diese Gründe auf einen gemeinsamen Nenner hinunter, dann gelangt man zu der Erkenntnis, dass überall dort, wo FGM praktiziert wird, ein allgemein diskriminierender und frauenfeindlicher Konsens herrscht, dem es eingepfercht zwischen veralteten Strukturen und Ritualen an Aufklärung und modernem Wissen fehlt. Aber dazu später mehr. 2) Tagesschau.de: UNICEF-Studie zu Genitalverstümmelungen: Mehr als 200 Millionen Frauen betroffen; Artikel vom 08.03.2019
Welche Folgen hat FGM? Die extrem schmerzhafte Prozedur setzt die Mädchen unter Schock und verursacht starke Blutungen, die oft zu Infektionen führen. 10 Prozent sterben an diesen direkten Auswirkungen. Als weiter tragisch gilt das meistens nicht, der Tod war eben Gott gewollt. Die akuten Komplikationen werden von einer ganze Bandbreite an chronischen Nachwirkungen begleitet. Um das vernarbte Gewebe bilden sich Zysten, die Betroffenen werden Inkontinent, Geschlechtsverkehr und Geburten sind schmerzhaft und gefährlich. Hinzu kommen Traumata, Angstzustände, Schamgefühle, Depressionen und Frigidität. Besonders verbreitet ist FGM in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten, aber auch in Europa gibt es zahlreiche Betroffene. Einer UNICEF-Schätzung zur Folge wird alle 11 Sekunden ein Mädchen irgendwo auf der Welt genitalverstümmelt. Jährlich sind das etwa 3 Millionen massive Verstöße gegen die Menschenrechte. In den meisten Ländern werden die Mädchen noch vor dem Ende ihres fünften Lebensjahres beschnitten. Für das brutal entfernte Gewebe gibt es keine Verwendung. Eine traditionelle Beschneiderin erklärt, was damit passiert: Es landet unterm Bett, damit die Ratten was zum Fressen haben. 3) Bundeszentrale für politische Bildung: 6. Februar: Internationaler Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung; Artikel vom 06.02.2018
Mama Lucy war 12 Jahre alt, als sie den Albtraum erlebte. Gleich zu Beginn der Ferien. Die Dorfbewohner hatten ein Fest für die Mädchen organisiert. Dann haben Frauen sie festgehalten und eine holte die Rasierklinge. Sie sagt, schon der erste Schnitt tut so weh, dass man ihn Ohnmacht fällt. Damit das in Zukunft möglichst nie wieder passiert, zeigt sie der Klasse die Aufnahme einer echten Beschneidung. Das Mädchen in der Aufnahme schreit und weint, mehrere Erwachsene versuchen vergeblich sie zu beruhigen. Nach einer solchen Erfahrung verlieren die Betroffenen oft das Vertrauen in ihre Bezugspersonen. Die Klasse starrt gebannt auf den Bildschirm. Jungen und Mädchen sehen gleichermaßen erschrocken und verzweifelt aus. Sie drehen sich weg, schütteln den Kopf, verstehen, dass man sich gegen Genitalverstümmelung wehren muss.
Von 29 afrikanischen Ländern, in denen Frauen traditionell beschnitten werden, haben 24 Staaten ein Gesetz, das FGM verbietet. In Somalia, Guinea, Ägypten und Djibouti sind dennoch weiterhin 90 Prozent der weiblichen Bevölkerung von FGM betroffen. Im Osten Kenias gibt es Nomadenstämme, die Genitalverstümmelung zu 98-99 Prozent praktizieren. Gesetze alleine besitzen nicht die Macht, es mit uralten Traditionen aufzunehmen. Aber der Zugang zu Bildung kann die uralten Traditionen ordentlich aufmischen. Daran glaubt Mama Lucy fest. Deshalb erklärt sie sowohl Mädchen als auch Jungen, warum das Beschneiden so gefährlich und grausam ist, auch wenn es in ihrer Kultur von einer feierlichen Zeremonie begleitet wird. Denn um mit der Tradition brechen zu können, müssen alle an einem Strang ziehen. Sie gibt der Klasse ein Mantra mit auf den Weg: „Nein, zu Beschneidung. Ja, zur Schule.“ Sie spricht den Satz vor und lässt ihn die Klasse wiederholen. Wenn ein Mädchen seine Rechte kennt und in die Schule geht, um sich von der Ehe unabhängig zu machen, dann kann es ihm gelingen sich gegen die Genitalverstümmelung zu wehren. Oft bedeutet das von zu Hause zu fliehen, um an einem sicheren Ort die Schule abzuschließen und mit diesem Abschluss in der Tasche, wie mit einem Schutzschild, zurück zu kehren. Nur so sind die Mädchen nicht auf die Ehe als Existenzsicherung angewiesen. Die große Frage im Kampf gegen FGM und in jedem anderen Kampf, der sich gegen die geschlechtsspezifische Diskriminierung richtet, lautet immer: Wie lassen sich die Rechte der Frau stärken und durchsetzen? Weibliches Empowerment ist das Stichwort. Die kollektive Antwort auf diese Frage lautet: Bildung. 4) Youtube: Kenia: Nie wieder Genitalverstümmelung | Doku | ARTE; Hochgeladen am 06.02.2019 5) SOS Kinderdörfer Weltweit: Beschneidung von Mädchen und Frauen; Zuletzt aufgerufen am 05.02.2020 6) SOS Kinderdörfer Weltweit: Die Beschneidung von Frauen und Mädchen: Eine brutale Tradition; Zuletzt aufgerufen am 05.02.2020
Das grundlegende Menschenrecht „Recht auf Bildung“ ist Teil der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Ein gleichberechtigter Zugang zu Schule und Berufsbildung ermöglicht Frauen einer Arbeit außerhalb des eigenen Haushaltes nachzugehen, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften, verbessert ihre gesellschaftliche Stellung und ermöglicht ihnen nicht zuletzt politische Einflussnahme. In Kenia funktioniert das: Die Befürwortung von FGM ist unter Frauen zwischen 15 und 49 Jahren zurückgegangen. Auch die Zahl der Betroffenen ist gesunken. Der landesweite Rückgang der Akzeptanz ist vor allem in urbanen Gebieten unter jüngeren Frauen mit hohem Bildungsstand zu beobachten. Die weibliche Genitalverstümmelung ist einer der frauenspezifischen Fluchtgründe, die sich zu den geschlechtsunspezifischen Fluchtgründen, wie Kriege, Konflikte oder dem Klimawandel addieren und die Situation der Frau zusätzlich erschweren. 7) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Arbeitsfelder und Instrumente: Bildung für Frauen und Mädchen; nicht mehr verfügbar 8) Terre des Femmes: Kenia; Zuletzt aufgerufen am 05.02.2020
Wenn Mama Lucy und ihr Team mit dem Anti-Beschneidungs-Training fertig sind, dann widmen sie den Mädchen ein Fest. Eine Anti-Beschneidungszeremonie. 16.000 Mädchen haben bereits daran Teil genommen. Es gibt Musik und Essen und vor allem Hoffnung. „Wenn wir dieses Jahr 50 Mädchen retten, dann ist das ein Gewinn. Nächstes Jahr retten wir dann vielleicht 100. Das ist dann ein Sieg.“ Mama Lucy gibt den Kampf noch lange nicht auf.
Fußnoten und Quellen:
Julia Klimmek
Veröffentlicht um 10:49h, 04 JanuarAufklärung, Bildung und die Bereitschaft, im eigenen Land etwqs zu verändern und sei es noch so unscheinbar, kann großes bewirken!