Flüchtlinge in Griechenland: Gefangen im Machtpoker der Regierungen
„Lesbos“ wurde in den letzten Wochen und Monaten zum Symbolwort für die katastrophale Flüchtlingslage in Griechenland. Die griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros liegen alle direkt vor der Küste der Türkei. Die dortigen Aufnahmezentren für Migranten sind heillos überfüllt. Sie beherbergen circa 40.000 Geflüchtete, sechsmal mehr als sie eigentlich an Kapazität haben. Im Dezember trat Robert Habeck, Parteichef der Grünen, eine heftige Diskussion los, als er forderte, dass Deutschland von diesen Menschen wenigstens bis zu 4.000 unbegleitete Minderjährige aufnehmen solle. Für sie ist die ohnehin schon unmenschliche Situation noch unerträglicher. 1) Focus Online: Streit um Habecks Flüchtlingsvorschlag: Helferin schildert, was Lage verbessern würde; Artikel vom 27.12.2019
Die Lager auf den Ägäischen Inseln sind schon seit Jahren am Rande des Zusammenbruchs. Im Sommer 2019 stieg die Zahl derer, die die wenigen Kilometer von der Türkei nach Griechenland erfolgreich bewältigten, zusätzlich noch stark an. Über 70.000 Geflüchtete mussten die fünf Inseln aufnehmen, 20.000 mehr als 2018. Die Lage wurde immer katastrophaler. In der Enge können sich Krankheiten schnell verbreiten. Außerdem sorgt sie für Spannungen zwischen den Bewohnern, die oft in Gewalt enden. Die Zentren sind am Bersten und nun ist es auch noch Winter geworden, worauf kaum jemand wirklich vorbereitet ist. 2) Focus Online: Streit um Habecks Flüchtlingsvorschlag: Helferin schildert, was Lage verbessern würde; Artikel vom27.12.2019 3) Flüchtlingslager auf Lesbos: Krankheiten, Gewalt und psychische Attacken; Artikel nicht mehr verfügbarWarum kommen auf einmal mehr Menschen über die Ägäis nach Europa?
Angesichts der Zahlen warnte Bundesinnenminister Horst Seehofer bereits vor einer neuen Flüchtlingswelle, einer, die womöglich sogar größer werden könnte als die vor vier Jahren. Doch das ist in naher Zukunft unwahrscheinlich. Zwar ist die Zahl der Menschen, die in Griechenland ankommen, wesentlich angestiegen, doch an die Werte von 2015/2016 reicht sie bei weitem nicht heran. Insgesamt kommen sogar weniger Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Die Migrationspolitik der anderen beiden großen Mittelmeer-Zielländer, Italien und Spanien, hat die Überfahrten dorthin drastisch reduziert. 4) Tagesspiegel: „Flüchtlingswelle wie 2015“: Was an Seehofers Warnung vor einer neuen Flüchtlingskrise dran ist; Artikel vom 08.10.2019 5) Süddeutsche Zeitung: Wer nach Griechenland flieht – und warum; Artikel vom 01.10.2019
Der jetzige Anstieg der Zahl der Migranten in der Ägäis hängt vor allem damit zusammen, dass immer mehr Afghanen über die Türkei nach Europa fliehen. Sie kommen vor allem aus dem Iran. In dem Land leben zwei Millionen Afghanen, die meisten davon sind Flüchtlinge. Ihre Heimat ist seit Jahrzehnten ein Konfliktherd und kommt nicht zur Ruhe. Einen Aufenthaltsstatus haben die Geflüchteten im Iran nicht, sie sind dort Menschen zweiter Klasse. Bildung und Staatsbürgerschaft bleibt ihnen verwehrt, ihren Lebensunterhalt müssen sich mit Schwarzarbeit verdienen. Von ihrer spärlichen Bezahlung müssen sie auch noch einen Teil an ihre Familien in Afghanistan schicken. Dafür tauschen sie ihren Lohn, den sie in iranischen Rial ausbezahlt bekommen, in Dollar oder Euro um. Doch die iranische Landeswährung ist so wenig wert, dass zu Hause fast nichts mehr von dem Geld ankommt. Der schlechte Wechselkurs ist ein Resultat der anhaltenden Wirtschaftskrise, in der sich der Iran befindet. Die US-Sanktionen gegen das Land am Persischen Golf haben es schwer getroffen. Die Preise steigen, die Arbeitslosigkeit grassiert und das sowieso schon harte Leben der Afghanen wird noch schwerer. Circa 170.000 von ihnen haben den Iran in den letzten Jahren bereits verlassen, in die benachbarte Türkei mit dem Ziel Europa. Auch die iranische Führung sieht durch die Krise ihre Existenz bedroht. Deshalb droht sie nun, auch die restlichen Afghanen in die Türkei zu schicken, sollte der Druck aus dem Westen nicht nachlassen. 6) Süddeutsche Zeitung: Wer nach Griechenland flieht – und warum; Artikel vom 01.10.2019 7) Qantra.de: Afghanische Flüchtlinge im Iran: Menschen zweiter Klasse; Artikel vom 11.06.2014 8) Tagesschau: Jahresbilanz 2019: Weniger unerlaubte Einreisen in die EU; Artikel nicht mehr verfügbar 9) Tagesschau: Iran vor den US-Sanktionen: „Die Wirtschaft ist am Boden“; Artikel nicht mehr verfügbar 10) Tagesspiegel: „Flüchtlingswelle wie 2015“: Was an Seehofers Warnung vor einer neuen Flüchtlingskrise dran ist; Artikel vom 08.10.2019Von den syrischen Flüchtlingen in der Türkei wollen hingegen nur wenige weiter nach Europa. Die meisten erwarten dort keine besseren Umstände, auch abgeschreckt von der unmenschlichen Situation in Griechenland und dem EU-Türkei-Deal. Um den ist es aber gerade nicht besonders gut bestellt. Immer wieder droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan damit, das umstrittene Flüchtlings-Abkommen mit der EU aufzukündigen und die Grenzen zu öffnen. 11) Tagesspiegel: Flüchtlinge aus Syrien: Deutschland sorgt sich um den EU-Türkei-Deal – mal wieder; Artikel vom 27.12.2019
Erdoğans Kalkül
Die im Zuge der Flüchtlingswelle 2015/16 geschlossene Vereinbarung besagt, dass die Türkei abgelehnte Asylbewerber aus Griechenland zurücknimmt. Zusätzlich soll das Land durch Grenzkontrollen die lebensgefährlichen Überfahrten am besten gar nicht erst ermöglichen. Im Gegenzug gibt es Milliardenhilfe aus der EU für die Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Außerdem wird für jeden zurückgenommenen Flüchtling ein asylberechtigter aus der Türkei in Europa aufgenommen. Die Lager auf den griechischen Inseln sind eigentlich nur vorübergehende Wohnstätten für die Geflüchteten, sie sollen dort auf das Ergebnis ihres Asylantrages warten. Weil die griechischen Behörden aber sehr langsam arbeiten, wachsen die überfüllten Aufnahmezentren immer weiter an. 12) Tagesspiegel: Flüchtlinge aus Syrien: Deutschland sorgt sich um den EU-Türkei-Deal – mal wieder; Artikel vom 27.12.2019 13) Süddeutsche Zeitung: Griechenland: „Dieser Türkei-Deal hat nie funktioniert und wird nie funktionieren“; Artikel vom 30.09.2019An dem angekündigten Ende des Abkommens hat der türkische Präsident aber kein wirkliches Interesse, zu viele EU-Gelder stehen auf dem Spiel. Mit 3,6 Millionen Flüchtlingen ist die Türkei zwar in der Tat am Rande ihrer Möglichkeiten, doch Erdoğan will diese Menschen eigentlich gar nicht nach Europa schicken. Stattdessen sollen über eine Million von ihnen in einer „Sicherheitszone“ im Norden Syriens angesiedelt werden. Dafür hat seine Armee bereits mit dem Einmarsch in dem entsprechenden Gebiet begonnen. Leider ist die Gegend bewohnt, vor allem Kurden leben dort. Sie werden nun vertrieben, um andere Vertriebene anzusiedeln. Für das milliardenschwere Projekt forderte Erdoğan auch finanzielle Unterstützung aus Europa. Als ihm diese verweigert wurde – immerhin verstößt die Aktion gegen Völkerrecht – nutzte Erdoğan sein bestes Druckmittel: Er drohte, die Flüchtlinge in seinem Land dann eben ungehindert nach Europa ziehen zu lassen. Doch obwohl die Türkei anscheinend tatsächlich schon ihre Grenzkontrollen zum Teil zurückgenommen hat, sieht es nicht danach aus, dass Erdoğan wirklich ernst machen wird. Eine Grenzöffnung würde die Türkei nämlich zum Transitland machen und noch mehr Migranten aus allen möglichen Regionen anziehen, großes Chaos wäre die Folge. Daran hat man in Ankara natürlich kein Interesse. 14) Süddeutsche Zeitung: Wer nach Griechenland flieht – und warum; Artikel vom 01.10.2019 15) Tagesspiegel: Flüchtlinge aus Syrien: Deutschland sorgt sich um den EU-Türkei-Deal – mal wieder; Artikel vom 27.12.2019
Europa lässt Griechenland alleine
Obwohl sich die Lage in den griechischen Aufnahmezentren seit Jahren immer weiter verschlimmert, konnten sich die EU-Mitgliedsstaaten bisher nicht auf eine Lösung zur Verteilung der Migranten einigen. Die deutsche Bundesregierung zeigte sich zwar stets bereit Geflüchtete aufzunehmen, jedoch nur im Rahmen eines europäischen Verteilungsschlüssels. Somit bleibt Griechenland auf den Flüchtlingen sitzen. 16) Tagesschau: Aufnahme von Flüchtlingskindern: Seehofer wirft Habeck Unredlichkeit vor; Artikel nicht mehr verfügbarDie europäische Flüchtlingspolitik besteht größtenteils darin, Migranten möglichst aus der EU heraus oder wenigstens am Rand Europas zu halten. Genau nach diesem Muster ist auch der Türkei-Flüchtlingsdeal gestrickt: Die Türkei erhält Geld dafür, dass sie möglichst viele Geflüchtete bei sich behält und den Europäern so das Problem erspart.
Oft werden Fluchtursachen von Europa jedoch nicht bekämpft, sondern verstärkt. Durch Waffenlieferungen an Kriegsparteien schlagen die europäischen Staaten gerne Profit aus Konflikten. Dadurch werden die Kämpfe verschärft und noch mehr Menschen in die Flucht gezwungen. Das passiert nicht nur im Nahen Osten. Das Mittragen der US-Sanktionen gegen den Iran wiederum treibt die dortigen Afghanen in Richtung Europa. Millionen Menschen fliehen vor Gewalt und Krieg. Kommen sie nach Europa, erreichen sie dort aber nicht die erwartete Sicherheit. Im Gegenteil. Sie sind erneut gefangen in der Machtpolitik der europäischen Staaten, die das Leid der Menschen ignorieren und ihre Verantwortung nicht wahrnehmen.
Fußnoten und Quellen:
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