Eine toxische Krise: Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt
Chemikalien sind überall. Wir atmen sie ein, tragen sie am Körper, nehmen sie mit der Nahrung auf, setzen sie in Wasser und Böden frei. Sie sind aus dem täglichen Leben, Produktion und Landwirtschaft nicht wegzudenken. Meist unsichtbar und oft geruchsneutral umgeben sie uns, ohne bewusst wahr genommen zu werden. Mit Sicherheit haben wir ihnen viel zu verdanken. Chemikalien können Prozesse vereinfachen, neue Möglichkeiten erschließen und vielfältig eingesetzt werden. Lebensmittel, Pflegeprodukte, Kleidung – ohne Chemikalien sähe unsere Welt ganz anders aus. All dem Lob steht aber auch die Kehrseite in nichts nach, denn Fakt ist: Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt. Und sind dabei ein Paradebeispiel für mangelnde Nord-Süd-Solidarität.
Chemikalien kontaminieren ghanaische Eier
Begeben wir uns zunächst nach Agbogbloshie, ein Slum in der ghanaischen Hauptstadt Accra. Nur noch die Ältesten erinnern sich an die Lagune, die es hier irgendwann einmal gab. Heute ist Agbogbloshie eine riesige Müllhalde für den Wohlstandsschrott der Industrienationen. Auf gewaltigen Containerschiffen schippt Europa ausrangierte Laptops, Handys, Kühlschränke und Fernseher nach Afrika und Asien. Die Menschen, die in Agbogbloshie wohnen und arbeiten, bauen die alten Geräte, auf der Suche nach Gold, Silber, Kobalt und Kupfer auseinander und verbrennen das Plastik. Die wertvollen Rohstoffe werden dann verkauft. „Urban Mining“ ist der beschönigende Ausdruck dafür. Viel Geld verdienen die Sammler damit nicht. Es reicht gerade so, um ihre Familien zu ernähren. Das Fortbestehen ihrer Existent bezahlen sie jedoch mit ihrer Gesundheit, denn vor allem beim Verbrennen der alten Teile werden giftige Chemikalien freigesetzt. Blei, Cadmium, Quecksilber und Chrom gelangen über Haut und Atemwege in den Körper und richten dort erhebliche Schäden an. Auch das Wasser ist verseucht. Die Toxine gelangen ins Meer und haben vor der Küste Accras bereits zu einem gravierenden Fischsterben geführt. Aber nicht nur so beeinflussen unsere alten Geräte die Nahrungskette der Ärmsten. Analysen von Hühnereiern aus dem Slum ergaben die höchsten je gemessenen Werte an chlorierten und bromierten Dioxinen. Zwei der gefährlichsten Chemikalien der Welt, die zudem verboten sind. Isst ein Erwachsener nur eines dieser Eier, so überschreitet er die von der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit tolerierbare tägliche Aufnahmemenge von chlorierten Dioxiden um dass 220-Fache. Diese Vergiftung ist ebenfalls größtenteils auf die Verbrennung von Plastikteilen zurück zu führen. Die Technikindustrie wächst und wandelt sich so schnell wie keine zweite. Jährlich fallen Schätzungen zu Folge zwischen 20 und 50 Millionen Tonnen neuer Elektroschrott an. Ordentliches Recyceln und Aufbereiten ist den Industriestaaten schlicht zu teuer. Sie lassen die Menschen in Afrika ihre Drecksarbeit machen und kaufen die Rohstoffe dann zurück. Der Export von Schrott ist in Europa illegal. Die kaputten Geräte werden deshalb oft als intakte Gebrauchtware deklariert. 1) Planet Wissen: Ghana: Giftiger Elektromüll; Artikel vom 03.09.2019 2) IPEN: Highest Level of World’s Most Toxic Chemicals Found in African Free-Range Eggs: European E-Waste Dumping a Contributor; Artikel vom 22.04.2019Wer eine Gerberei in Hazaribagh kennt, der weiß, wie es in der Hölle aussieht
Weg vom Elektroschrott und raus aus Ghana treffen wir in China auf einen makaberen Witz. „Der Fluss trägt schon die Trendfarbe der nächsten Saison.“ Wer diesen Spruch verstanden hat, der kennt sich mit der asiatischen Textilindustrie aus und weiß, in welchem verheerenden Ausmaß wir hier auf Chemikalien treffen. Egal ob in China, Bangladesch, Indien oder Indonesien, überall dort prallt Wirtschaftswachstum auf den Faktor Umwelt und Gesundheit, trampelt ihn nieder und spuckt Geld aus. Vor allem der ohnehin reiche globale Süden zieht daraus finanziellen Nutzen. Das Wirtschaftswachstum der genannten Länder geht mit ungehemmter Industrialisierung einher. Besonders dramatisch ist die Lage in Hazaribagh in Dhaka, Bangladesch. Über 200 Gerbereien gibt es hier. Ihre Abwässer landen im Buriganga Fluss, am südlichen Rand von Dhaka. Mal ist der Fluss blau, mal rot, mal schwarz. Je nachdem welcher „Chemiekaliencocktail“ ihn gerade vergiftet. Anstatt in entsprechende Kläranlagen zu investieren, fördert die Textilindustrie an all ihren Standort ständiges Wachstum. Das Wasser ist dunkel wie Tinte und fast so dickflüssig wie Öl. Kinder verlieren auf dem Schulweg ihren Geruchssinn, weil sie den ständigen Ausdünstungen ausgesetzt sind. Die Konzerne reagieren mit dem Bau von noch mehr Gerbereien und Fabriken. Der Schutz von Umwelt und Mensch scheitert hier nicht am Geld, aber an mutmaßlicher Ignoranz. Giftige Lösungsmittel, Azofarben und Flammschutzmittel brennen in den Augen und greifen die menschlichen Organe an. Wer in Bangladesch für die Modeindustrie arbeitet, der ist meist jung. Vermutlich, weil einen eine solche Arbeit nicht alt werden lässt. Die führende Umweltanwältin des Landes, Syeda Rizwana Hasan, bringt es auf den Punkt: „Wer eine Gerberei in Hazaribagh kennt, der weiß, wie es in der Hölle aussieht.“ Die großen Modeketten, die unsere westlichen Einkaufspassagen zieren, die billigen und schnellen Konsum anpreisen, sind Teil eines Systems der Ausbeutung und Zerstörung. Ein System, das sie mit ihrer Art des Wirtschaftens mit geschaffen haben. Die Schäden durch Chemikalien in Ghana und auch in den genannten asiatischen Ländern sind auf das gleiche Grundproblem zurück zuführen. Die Mächtigen lagern ihre Probleme aus und ziehen sich so aus der Verantwortung. Ein Umdenken setzt zwar langsam ein, besondere Betonung fällt jedoch auf das Wort langsam. 3) Greenpeace: Gefährliche Substanzen in der Textilindustrie; Zuletzt abgerufen am 20.01.2020 4) Youtube: 3sat Dokumentation: Vergiftete Flüsse: Die schmutzigen Geheimnisse der Textilindustrie (2019); Hochgeladen am 24.09.2019
Die Chemikalienbelastung ist längst ein globales Problem
Wie unverhältnismäßig die Chemikalienbelastung in manchen Teilen der Welt ist, dürften diese beiden Beispielen verdeutlicht haben. Tatsächlich ließe sich noch eine ganze Bandbreite an Szenarien anführen. Außerdem gibt es wissenschaftliche Studien, die belegen, dass die Exposition schon gegenüber sehr niedrigen Konzentrationen bestimmter Chemikalien in der Frühphase des Lebens einen Rückgang des Intelligenzquotienten nach sich ziehen kann. So beeinflussen die chemischen Stoffe nicht nur den Lebensraum, die Nahrungskette und die Gesundheit der Betroffenen, sondern auch ihre Bildungschancen und Lebensperspektive. Deutschland kommt als größter Chemiestandort Europas im Chemikalienmanagement eine wichtige Schlüsselrolle zu. Da der globale Chemikalienumsatz kontinuierlich steigt, muss sich den zunehmenden Herausforderungen optimal angepasst werden. Noch tragen die einkommensschwachen Länder die größte Last. Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2002 setzten sich die Beteiligten das 2020-Chemikalienziel, mit dem Bestreben die negativen Effekte von Chemikalien auf Umwelt und Gesundheit bis zu diesem Jahr zu minimieren. Dieses Ziel ist offensichtlich gescheitert. Geldgeber, die Entwicklungs- und Schwellenländern finanzielle Unterstützung zusichern, um ihre Bevölkerung ausreichend schützen zu können, werden ihren Versprechungen oftmals nicht gerecht. Dies wird als Betrug oder mangelndes Engagement wahrgenommen und erweckt den Eindruck, in der nachhaltigen Entwicklung würde viel Wert auf Pläne und Resolutionen gelegt, an aktiven Maßnahmen mangele es jedoch. Ausreichende finanzielle Unterstützung gab es in diesem Bereich noch nie. Viele afrikanische Staaten haben Schwierigkeiten mit der bloßen Grundversorgung und sind deshalb auf die Förderung angewiesen. Eine Vielzahl an Konventionen bekämpft diese Problematik nicht im Kern. Für Oktober dieses Jahres sind neue Verhandlungen angesetzt. Die Forderung nach und Anerkennung von globalen Richtlinien scheint zwar bei allen Parteien präsent zu sein, konkrete Vorschläge, wie solche Richtlinien erreicht und durchgesetzt werden können gibt es jedoch selten. Die Maßnahmen wirken viel eher wie der Versuch Zeit zu gewinnen, um die ertragreichen Praktiken der Industrie nicht abwandeln zu müssen. Im Großen und Ganzen ist das Wissen über die tatsächlichen Auswirkungen der weltweiten chemischen Belastung für Umwelt und menschliche Gesundheit sehr begrenzt. Die langfristigen Folgen sind schwer abzuschätzen. Europa hat mit der REACH-Verordnung im internationalen Vergleich die wohl fortschrittlichste Rechtsvorschrift bezüglich Chemikalien. Anstatt dieses Wissen weiterzugeben, werden die giftigen Stoffe und die damit verbundenen Konsequenzen auf andere Kontinente abgewälzt. Wie wenig weitsichtig das ist, wird klar, wenn Chemikalien aus der chinesischen Textilindustrie, auf der anderen Seite der Welt im Körper von Eisbären nachgewiesen werden. Im Kreislauf der Erde geht nichts verloren, es kommt in Nahrungskette und Umwelt zu uns zurück. Weltweit lassen sich jährlich 1,6 Millionen Todesfälle direkt auf einzelne Chemikalien zurückführen. Langlebige Gifte deponieren sich in beachtliche Mengen in menschlichem Gewebe und Blut. Die dauerhaften Folgeschäden sind so schwer zu kalkulieren wie die allgemeine Chemikaliengefahr. Es verhält sich wie mit dem Klimawandel: Wenn der globale Norden Lebensraum und Gesundheit des globalen Südens zerstört, dann wird dem globalen Süden irgendwann nichts anderes übrig bleiben, als diesen Lebensraum zu verlassen. Diese wiederkehrende Problematik scheint unglaublich schwer zu verstehen zu sein. 5) Greenpeace: Industrieabfälle: Wenn die Chemie nicht stimmt; Zuletzt abgerufen am 20.01.2020 6) Europäische Umweltagentur: Chemikalien in Europa: Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt; Zuletzt geändert am 14.11.2019 7) WECF: Was ist SAICM – und wozu braucht man das?; Artikel vom 03.09.2019 8) Rundbrief Forum Umwelt & Entwicklung: Die Geister, die wir riefen: Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt – Zeit zu handeln!; Ausgabe 4/2019
Fußnoten und Quellen:
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