Wie die Auslagerung der EU-Außengrenzen Niger politisch und sozial destabilisiert
Anfang Mai besuchte die deutsche Bundeskanzlerin Afrika. Die Auswahl der Staatsoberhäupter, mit denen sie sich dabei traf, spiegelt ein zentrales Element deutscher und europäischer Migrationspolitik wider. Denn bereits seit einigen Jahren liegt die europäische Außengrenze in diesem Zusammenhang – zumindest inoffiziell – nicht etwa in Spanien, Italien oder Griechenland, sondern bereits in Ländern wie Burkina Faso, Mali oder Niger. Vor allem Niger ist für die EU einer der wichtigsten Partner in Westafrika und verhält sich aus europäischer Sicht besonders vorbildlich. 1) WAZ.de: Kanzlerin Merkel in Afrika: Eine Herzensangelegenheit; Artikel vom 03.05.2019
Als Transitland wird Niger von vielen Migrant*innen auf ihrem Weg nach Libyen durchquert, von wo aus sie häufig die Überfahrt nach Europa versuchen. Vor allem die Region um die größte Stadt Agadez dient als Ausgangsort für den Weg durch die Sahara und in Richtung Mittelmeerküste. Für die EU, deren Priorität es ist, Flüchtende möglichst schon vor dem Erreichen Libyens am Weiterkommen zu hindern, ist Niger somit von strategisch zentraler Bedeutung. Sie verfolgt deshalb auch hier eine Politik der Externalisierung. Das bedeutet, dass durch die Kooperation mit Nicht-EU-Ländern europäische Grenzpolitik bereits weit außerhalb von EU-Grenzen stattfinden kann. Seit 2000 werden so vor allem in Afrika kontinuierlich Maßnahmen eingeleitet, die dafür sorgen sollen, dass Migrant*innen gar nicht erst EU-Boden erreichen. 2) Faist, T. et. al.: Mobilität statt Exodus Migration und Flucht in und aus Afrika; Veröffentlicht 2019
Mit Niger wurde beispielsweise 2012, im Rahmen der European Capacity Mission (EUCAP), ein Abkommen beschlossen, das die dortigen Sicherheitskräfte stärken und die Migrationskontrolle ausbauen soll. Zwischen 2012 und 2017 ist das Budget dafür von 10 Millionen auf 26 Millionen Euro gewachsen. Mit dem Valletta Action Plan von 2015 wirkte die EU schließlich auch aktiv auf die nigrische Gesetzgebung ein. Die EU versprach Niger darin etwa Arbeitsplatzinitiativen, ERASMUS-Plätze für afrikanische Studenten und Unterstützung für Flüchtlingslager. Im Gegenzug dazu wurde unter anderem erwartet, härter gegen Menschenschmuggel und Menschenhandel gleichermaßen vorzugehen. Speziell auch auf Druck von Deutschland und der Zusage einer weiteren Milliarde Euro Entwicklungshilfe setzte Niger die von der EU gewollte Gesetzesänderung 2016 schließlich um. 3) taz.de: Wie Niger die Fluchtrouten dichtmacht: Endstation Agadez; Artikel vom 18.12.2017 4) Idrissa, R.: The Impact of EU Migration Policy on West African Integration: The Cases of Nigeria, Mali and Niger; Veröffentlicht 2019
In der Folge wurden Grenzposten hochgerüstet und jegliche Erwerbstätigkeit in Zusammenhang mit Migration unter Strafe gestellt. Denn nach der Auffassung der EU ist zunehmend alles, was dem Vorwärtskommen von Migrant*innen in Richtung Norden dienlich ist, bereits als Menschenschmuggel zu kategorisieren und zu bekämpfen. Innerhalb kürzester Zeit waren somit bis dahin völlig legale Tätigkeiten wie der Transport oder die Unterbringung von Migrant*innen illegal geworden und einem Großteil der Bewohner in der Nähe der Migrationsroute wurde die einzig verbliebene Einkommensquelle entzogen. Viele Menschen leiden seitdem unter ihrer Arbeitslosigkeit, denn die von der EU versprochenen Maßnahmen zur Beschaffung alternativer Erwerbstätigkeiten greifen bisher viel zu kurz. Nur ein verschwindend geringer Anteil konnte bislang von entsprechenden Förderprogrammen profitieren. Wesentlich mehr treffen die Entscheidung, ihre frühere Beschäftigung in der Illegalität fortzusetzen. Dabei bewirkt die Verfolgung durch die Sicherheitskräfte, dass die verbliebenen Schmuggel-Netzwerke immer professioneller und – zum Leidwesen der Migrant*innen – immer skrupelloser agieren. Oft lassen die Schleuser Flüchtende nun in der Wüste zurück, sobald sie von den Behörden entdeckt werden. Immer mehr Menschen sterben seitdem in der Wüste. 5) Faist, T. et. al.: Mobilität statt Exodus Migration und Flucht in und aus Afrika; Veröffentlicht 2019 6) Newsdeeply: Niger: Europe’s Migration Laboratory; Artikel vom 22.05.2018 7) tagesschau.de: Flucht nach Europa: Tot oder gestrandet in Niger; Artikel nicht mehr verfügabr 8) zeit.de: Weniger Tote auf dem Meer bedeuten mehr Tote in der Wüste; Artikel vom 28.06.2018
Aber auch die lokale Bevölkerung, hauptsächlich in der Region Agadez, leidet: Vor allem bei den Jüngeren wächst seit dem Gesetz der Unmut, nicht nur gegenüber der lokalen Regierung, sondern vor allem auch gegen den Einfluss Europas und des Westens allgemein. Sie wissen sehr genau, wer für die massive Verschlechterung ihrer Lage mitveranwortlich ist. Dies ist insbesondere besorgniserregend, da in der Sahelzone islamistische Gruppierungen wie Boko Haram oder Ableger von Al-Quaida immer mehr an Einfluss gewinnen. Auch der Islamische Staat gewinnt weiter an Stärke in Westafrika, seitdem er in Syrien und dem Irak weitestgehend zurückgedrängt wurde. Es besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass islamistische Gruppierungen vermehrt auch in Niger Mitglieder rekrutieren könnten. Nicht zwingend, weil der Islamismus dort als eine besonders attraktive Ideologie wahrgenommen wird, sondern schlicht aus enttäuschten Erwartungen, fehlenden Alternativen und einer zunehmend prekären Lebenssituation der dortigen Jugend mit einem desillusionierten Bild von Europa und dem Westen. 9) Brot für die Welt: Perspektiven der Jugend in Agadez auf die Auswirkungen der europäischen Migrationspolitik in Niger; Veröffentlicht 2018 10) Warner, J.: Sub-Saharan Africa’s Three „New“ Islamic State Affiliates; Veröffentlicht 2017 11) Reuters.com: Sahel instability spreading to coastal West Africa: Burkina Faso; Artikel vom 16.02.2019
Die Abschottungs- und Externalisierungspolitik der EU in Niger und anderen Ländern der Sahelzone bedroht die politische und soziale Stabilität dieser Regionen. Die alleinige Absicht, die Zahl der Migrant*innen nach Europa zu senken, ignoriert das so verursachte Leid der Bevölkerung und der Flüchtenden. Die Anzahl ankommender Menschen an der EU-Außengrenze scheint der einzig relevante Maßstab für die EU zu sein. Dass dabei die Anzahl der Flüchtenden innerhalb Afrikas langfristig steigt und sich die Sahara zunehmend in ein Massengrab verwandelt, wird bestenfalls als tragischer Nebeneffekt bedauert.
Fußnoten und Quellen:
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