„Kapituliere oder verhungere“: Syrische Regierung greift systematisch die eigene Bevölkerung an
“When we talk about an ‘agreement’, in reality there was no agreement at all; it was either we leave or we die” 1) Aktivist aus Daraya
Amnesty International veröffentlichte Mitte November einen Bericht zur Lage in Syrien. In dem Land tobt seit 2011 ein gewaltsamer und blutiger Bürgerkrieg. „We leave or we die: Forced displacement under Syria´s ‚reconciliation‘ agreements” dokumentiert, wie insbesondere syrische Regierungstruppen gezielt die zivile Bevölkerung angreifen, um in Verhandlungen den Druck auf die Opposition zu erhöhen. 2) Amnesty International: We leave or we die: Forced displacement under Syria´s ‚reconciliation‘ agreements; veröffentlicht im November 2017
Lokale Vereinbarungen, sogenannte „Versöhnungsabkommen“, sind immer mehr zu einer Schlüsselstrategie der syrischen Regierung geworden, um die Opposition zur Kapitulation zu zwingen, heißt es in dem Bericht der Menschenrechtsorganisation. Die „Versöhnungsabkommen“ zielen vor allem darauf ab, dass bewaffnete Oppositionskämpfer die von der Regierung belagerten Städte und Dörfer im Norden Syriens verlassen. Dafür wird Hunger als Kollektivstrafe bewusst gegen die Bevölkerung eingesetzt. Das systematische Vorgehen der Regierung wird von den Vereinten Nationen als „surrender or starve“, „kapituliere oder verhungere“, bezeichnet. 3) VOA News: Middle East. Amnesty International Calls on Syria to End Forced Displacement of Civilians; 13.11.2017 4) Amnesty International: We leave or we die: Forced displacement under Syria´s ‚reconciliation‘ agreements; veröffentlicht im November 2017
Der Konflikt in Syrien hat die Zivilbevölkerung immens getroffen. In den letzten fünf Jahren dokumentierte Amnesty schwere Gewaltverbrechen und Verstöße gegen internationales Recht – sowohl auf Seiten der Regierung als auch, in geringerem Maße, auf Seiten der Opposition. Seit 2012 werden dicht besiedelte Gebiete belagert und tausenden Menschen der Zugang zu sauberem Wasser, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung verweigert. Die Zivilbevölkerung wird Opfer vorsätzlicher Boden- und Luftangriffe der syrischen Regierung auf Wohnhäuser, Krankenhäuser und Märkte. Gleichzeitig verletzen und töten Oppositionskämpfer hunderte Zivilisten während Angriffen auf mutmaßlich regierungstreue Gebiete. 5) Amnesty International: Abkommen zwischen Regierung und Opposition kosten Tausende Menschenleben; 13.11.2017
Im Zeitraum von August 2016 bis März 2017 führten die „Versöhnungsabkommen“ zu der Vertreibung Tausender Bewohner in Daraya, Ost-Aleppo, al-Waer, Madaya, Kefraya und Foua. Amnesty International untersuchte vier der Abkommen zwischen der syrischen Regierung und bewaffneten Oppositionsgruppen und dokumentierte entsprechende Verstöße. Alle zeigen das Muster von Belagerungen und Bombardierungen gefolgt von Massenvertreibungen.
Im Oktober dieses Jahres sendete die Menschenrechtsorganisation Briefe an die syrische Regierung, in welchen um Klarstellung zu den in dem Bericht erhobenen Vorwürfen ersucht wurde. Diese wollte sich dazu jedoch nicht äußern. 6) Amnesty International: Abkommen zwischen Regierung und Opposition kosten Tausende Menschenleben; 13.11.2017
Bei den direkten oder willkürlichen Angriffen auf Zivilisten, den unrechtmäßigen Belagerungen von Städten und Dörfern sowie dem verwehrten Zugang zu humanitärer und medizinischer Hilfe handelt es sich um Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und in vielen Fällen um Kriegsverbrechen, heißt es in dem Bericht. Nach Jahren der Belagerung und Bombardierung wurden Zivilisten entweder evakuiert oder von der Regierung zur Kapitulation gezwungen. Viele Syrer erzählten Amnesty International, dass ihnen keine andere Wahl blieb und sie mit dem Minimum an Habseligkeiten ihre Häuser verlassen mussten. In den meisten Fällen wurde diese Vertreibung nicht für die Sicherheit der Zivilbevölkerung und auch nicht aufgrund von militärischen Notwendigkeiten durchgeführt. Auch hier wurde demzufolge humanitäres Völkerrecht verletzt. 7) Amnesty International: We leave or we die: Forced displacement under Syria´s ‚reconciliation‘ agreements; veröffentlicht im November 2017
Tausende Menschen, die durch die Abkommen gewaltsam vertrieben wurden, leben jetzt unter katastrophalen Bedingungen in provisorischen Lagern mit einem minimalen Zugang zu humanitärer Hilfe und zu lebensnotwendigen Dienstleistungen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist nicht in der Lage, in ihre Häuser zurückzukehren.
Sowohl die syrische Regierung als auch die Oppositionstruppen haben darin versagt, die 2014 verabschiedeten Resolutionen 2139 und 2165 des UN-Sicherheitsrats einzuhalten. Die Resolution 2139 forderte, dass alle Konfliktparteien unrechtmäßige Angriffe auf besiedelte Gebiete, Belagerungen, willkürliche Inhaftierungen, Entführungen, Folter und Zwangsmaßnahmen einstellen müssen. Die vier Monate später verabschiedete Resolution 2165 genehmigt die Bereitstellung von Hilfsgütern über Grenzen und Konfliktlinien hinweg. Sowohl die syrische Regierung als auch die bewaffneten Oppositionsgruppen belagern weiterhin Dörfer, behindern den Zugang zu Hilfslieferungen und führen absichtlich Angriffe auf Zivilisten durch.
Amnesty International fordert den UN-Sicherheitsrat auf, Sanktionen gegen alle Verantwortlichen der Kriegsverbrechen zu verhängen, unter anderem ein Waffenembargo gegen die syrische Regierung, und die Situation an den Internationalen Gerichtshof zu überweisen. Die syrische Regierung und die Oppositionellen werden dazu aufgerufen, die Angriffe auf Zivilisten umgehend zu stoppen und uneingeschränkten Zugang für humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Es müsse sichergestellt werden, dass die vertriebenen Menschen wieder in ihr Zuhause zurückkehren können und für erlittene Verluste und Leid entschädigt werden. Diplomatische Scheinlösungen dürften nicht auf Kosten der Menschenrechte der syrischen Bevölkerung gehen. 8) Amnesty International: We leave or we die: Forced displacement under Syria´s ‚reconciliation‘ agreements; veröffentlicht im November 2017
Fußnoten und Quellen:
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