Das Volk der Rohingya: Eine lange Geschichte von Gewalt und Vertreibung
Seit August haben mehr als 500.000 Angehörige der muslimischen Minderheit Rohingya aus Myanmar im Nachbarland Bangladesch Zuflucht gesucht. Nach einer Anschlagsserie von Rohingya-Militanten auf Sicherheitsposten der myanmarischen Armee reagieren diese nun mit Brutalität. Amnesty International spricht in einem aktuell veröffentlichten Bericht von einer Vielzahl von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Tötungen, Deportationen, Vertreibungen, Folter, Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt. 1) Amnesty International: My World Is Finished; September 2017
Die Vertreibung der Rohingya ist schrecklich und unverständlich zugleich. Aus welchem Grund verfolgt das Militär in Myanmar, so erweckt es zumindest den Anschein, eine Politik der verbrannten Erde, der Vertreibung, der „ethnischen Säuberung“? Warum heißt es so selbstverständlich und schwer begreiflich zugleich, dass die Rohingya staatenlos sind? 2) Zeit Online: Rohingya: Und jetzt, wohin?; 13.09.2017
Der Konflikt reicht historisch weit zurück und viele der Antworten sind in der Geschichte der Kolonialzeit Asiens zu suchen, im 19. und 20. Jahrhundert. Er begann mit der Eroberung des muslimischen Königreichs Arakan durch das benachbarte buddhistische Königreich Birma, das heutige Myanmar. Weil Arakan auch unter dem Namen Rohang bekannt war, werden die Bewohnerinnen und Bewohner dort heute Rohingya genannt. Ihr Land reichte zu Zeiten des Königreichs Arakan bis in den Südosten des heutigen Bangladesch. Nach der Eroberung wurden sie zu Tausenden ins Landesinnere Birmas entführt, um dort als Sklaven zu arbeiten. 3) Medico International: Rohingya auf der Flucht. Die Verachteten; 07.09.2017
Im 19. Jahrhundert führten die Briten einen siegreichen Krieg gegen Birma und schlugen es ihrem indischen Kolonialgebiet zu. Sowohl die Rohingya als auch die Birmesen fielen unter ihre Kolonialherrschaft. Die damaligen demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen führten dazu, dass Arbeiter aller Art aus Indien nach Birma kamen. In der heutigen Provinz Rakhine wurden weite Flächen von Ackerland an muslimische Grundherren aus Bengalen, das ebenfalls Teil von Britisch-Indien war, verpachtet. Ein großer Teil der Rohingya stammt demzufolge vermutlich von solchen Arbeitsmigranten aus der Zeit des Empires ab. Sie heute als „Einwanderer“ zu bezeichnen ist aus diesem Grund doppelt irreführend. Zum einen, weil ihre „Einwanderung“ lange zurückliegt und zum anderen, weil sie nicht von einem Staat in einen anderen zogen, sondern von einer Provinz des Imperiums in die nächste. 4) Zeit Online: Rohingya: Und jetzt, wohin?; 13.09.2017
Im 20. Jahrhundert wurde diese indisch-imperiale Migration zu einem Kristallisationspunkt des burmesischen Nationalismus: zu einem Symbol der angeblichen Überfremdung. Den Traum von einem ethnisch reinen und religiös in Buddhismus geeinten Burma wurde dieser Überfremdung entgegengesetzt. Eine aus dem Jahr 1938 stammende Streitschrift empört sich darüber, dass man es vom Schusterladen bis zum Gericht überall mit „Fremden“ zu tun habe. Schon zuvor kam es in Rangun, dem heutigen Yangon, zu Unruhen zwischen indischen und burmesischen Hafenarbeitern. Im Westen des Landes nutzten die zunehmend aufgehetzten und verfeindeten Bevölkerungsgruppen schließlich den Zweiten Weltkrieg als Gelegenheit zu wechselseitigen Überfällen und Vertreibungen. 5) Go:ruma: Yangon: Stadtgeschichte; Link nicht mehr verfügbar
Zur Stabilisierung ihrer christlichen Herrschaft verbündeten sich die Briten mit den Rohingya-Rebellen. Die Birmesen schlossen sich im Gegenzug Japan an – dieses Bündnis zwang die Briten 1942 zum Abzug. Die Rohingya wurden im Anschluss daran von den Birmesen ausgeplündert, gefoltert und vergewaltigt. Ihr Oberbefehlshaber war Aung San, Vater der Friedensnobelpreisträgerin und führenden Politikerin Aung San Suu Kyi. In dieser Zeit kamen an besonders blutigen Tagen, wie dem 28. März 1942, bis zu 5 000 Muslime ums Leben. 6) Medico International: Rohingya auf der Flucht. Die Verachteten; 07.09.2017
Mit der zeitweiligen Rückkehr der Briten endeten die Massaker – jedoch nur solange, bis diese Ende der 1940er Jahre ihr südasiatisches Kolonialreich auflösten. Die Rohingya wollten sich dem nun unabhängigen buddhistischen Burma nicht anschließen, sondern dem Ostteil des neu geschaffenen muslimischen Pakistans, dem heutigen Bangladesch. Nachdem dieser Plan jedoch scheiterte und der Großteil Arakans nun zu Burma gehört, wurden die Rohingya dort zu einer völlig ungeschützten, rechtlosen und jetzt noch mehr als zuvor verachteten Minderheit. Diese versuchte sich zu wehren und erklärte ihren Unterdrückern den Heiligen Krieg (Dschihad), welcher sich vorerst, mal mehr und mal weniger intensiv, bis in das Jahr 1978 hinzog. In diesem Jahr unternahm die Militärdiktatur Birmas mehrere Versuche, den Widerstand der Rohingya endgültig zu brechen. Mit purer Gewalt und Brutalität fanden bei der durchgeführten „Operation Königsdrachen“ unzählige Muslime den Tod und mehr als 200 000 Menschen der muslimischen Minderheit flohen nach Bangladesch. Viele Geflüchtete fanden in der Küstenstadt Cox´s Bazar, welche früher ein Teil Arakans war, Obdach. Die Rohingya, die in Birma blieben, fielen willkürlichen Kollektiverschießungen, massenhaften Vergewaltigungen und der völligen Erschöpfung durch Zwangsarbeit zum Opfer. 7) Medico International: Rohingya auf der Flucht. Die Verachteten; 07.09.2017 8) Zeit Online: Rohingya: Und jetzt, wohin?; 13.09.2017 9) Wikipedia: Political Divisions of the Indian Empire; Stand vom 26.10.2017
Der Widerstand provozierte weitere Militäraktionen. Anfang der 1990er Jahre und im Jahr 2012 kam es wieder zu Massakern und erneut flohen Tausende Rohingya nach Bangladesch. Selbst nach dem Sturz des Militärs und dem Aufstieg Aung San Suu Kyis in eine neue, mit großen Erwartungen begrüßte Regierung, nahm die systematische Verachtung kein Ende. Das 1982 eingeführte und bis heute geltende diskriminierende Staatsbürgerecht beschränkt die Vollbürgerschaft auf die Ethnien, die vor 1824, also vor dem Beginn der britischen Kolonialherrschaft, im Land ansässig waren. Aus diesem Grund ist die muslimische Minderheit auch heute noch staatenlos. Sie dürfen kein Land besitzen, nicht frei reisen und müssen sich schriftlich verpflichten, nicht mehr als zwei Kinder zu haben. All dies macht es extremistischen Gruppierungen leicht, Anhänger zu finden. Einige Rohingya bildeten in jüngerer Zeit die Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA). Die Rebellengruppe führt laut ihrem Anführer Ata Ullah einen Krieg um die Rechte der Rohingya und plante den Angriff auf die Sicherheitsposten in Myanmar Ende August 2017. Dass längst nicht alle Rohingya hinter der ARSA stehen, spielt für das Militär Myanmars keine Rolle. 10) Medico International: Rohingya auf der Flucht. Die Verachteten; 07.09.2017
Die Rohingya sind die letzten Waisenkinder des Imperialismus. Historisch gestrandet, übrig geblieben aus einer Zeit, in der Nationalstaaten noch nicht existierten, in der Grenzen unklar und durchlässig waren und in der Menschen und Völker in Großreichen durcheinandergemischt wurden. Das xenophobe Reinheitsdenken in Myanmar ist eine Gegenreaktion auf den von außen auferlegten Pluralismus der Kolonialzeit. In der heutigen Welt des aggressiven Nationalismus und der Konflikte zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften hat die Minderheit bis heute keinen Platz gefunden. 11) Zeit Online: Rohingya. Und jetzt, wohin?; 13.09.2017
Fußnoten und Quellen:
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