Das Verteilungsparadoxon: zwei Drittel aller Flüchtlinge verlassen ihr Land nicht, nur ein Bruchteil des Rests flieht in Industrieländer
Jeder 113. Mensch ist auf der Flucht. Während die westlichen Industrienationen sich abschotten, müssen Schwellen- und Entwicklungsländer die Hauptlast tragen.
160.000 Flüchtlinge sollen binnen zwei Jahren von Griechenland und Italien in den Rest der EU verteilt werden, um die beiden Länder zu entlasten. Die Umverteilung geht aber nur sehr langsam voran, so hat Deutschland bis Mitte Mai 2016 erst 57 der vereinbarten über 27.000 Migranten aufgenommen. Laut der EU-Kommission wurden noch keine der 160.000 Flüchtlinge nach Österreich und in die Slowakei gebracht, zudem beteiligen sich wirtschaftlich hochentwickelte Länder wie Großbritannien und Dänemark gar nicht an dieser Umverteilung. 1)rp-online.de: Verteilung von Flüchtlingen kommt kaum voran;18. Mai 2016
Um den Zuzug weiterer Flüchtlingsströme zu verhindern, hat die EU bereits die Balkanroute gesperrt und ist einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei eingegangen. Paradoxerweise ist ausgerechnet die Türkei das Land, das mit 2,5 Millionen die weltweit meisten Flüchtlinge beherbergt. Dabei zählt die Türkei laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu den Entwicklungsländern und ist wirtschaftlich deutlich schlechter gestellt als die westeuropäischen Länder. So betrug das BIP der Türkei 2015 knapp 9.500 US-Dollar pro Kopf 2)statista.com: Türkei: Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in jeweiligen Preisen von 2006 bis 2016 (in US-Dollar); Stand 2016, während es in Deutschland bei über 41.200 US-Dollar und in Schweden sogar bei knapp 50.000 US-Dollar pro Kopf lag. 3)statista.com: Die 20 Länder mit dem größten Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2015* (in US-Dollar); Stand 2016
Obwohl die reichen europäischen Länder bessere Voraussetzungen haben, sich der Flüchtlingskrise zu stellen, befinden sich die meisten Flüchtlinge in Entwicklungs- und Schwellenländern. Laut einer Statistik der UNHCR sind die am stärksten betroffenen Länder die Türkei, Pakistan, der Libanon, der Iran, Äthiopien und Jordanien. 4)unhcr.org: Figures at a Glance; Stand 20. Juni 2016
Fasst man den Anteil der Flüchtlinge an der Bevölkerung der einzelnen Länder ins Auge, hat der Libanon mit Abstand am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Neben den rund 4 Millionen Libanesen leben nämlich noch mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarstaat Syrien in dem Land. Das stellt natürlich eine enorme Belastung für den Libanon dar, der flächenmäßig nur ein wenig größer ist als Zypern. Der Libanon bekommt zwar internationale finanzielle Hilfe, diese ist aber unzureichend und so haben viele Flüchtlinge keinen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Aufgrund der zusätzlichen Verknappung der Ressourcen kommt es auch zu Spannungen zwischen den syrischen Flüchtlingen und den Libanesen.
Deswegen wurden die Einreisebedingungen für Flüchtlinge seit Beginn des Jahres stark verschärft und wer sich keine Verlängerung der einjährigen Aufenthaltsgenehmigung leisten kann, muss ausreisen oder illegal im Land bleiben. Viele der Flüchtlinge leben in Siedlungen, die aussehen wie Slums und zwischen Müllbergen und offenen Kanalisationen stehen, viele von ihnen hoffen auf ein besseres Leben in Europa.
Doch ein Weiterfliehen können sich die Flüchtlinge kaum leisten, da sie bereits alles aufgegeben haben, um in den Libanon zu gelangen. Um ihre Familien zu unterstützen, müssen auch Kinder arbeiten. Anstatt in die Schule zu gehen, schuften sie zum Beispiel in Zementfabriken, wo sie Feinstaub und Gasen ausgesetzt sind. 5)spiegel.de: Syrische Flüchtlinge im Libanon: Erst verlieren sie ihre Heimat, dann ihre Kindheit; 26. Mai 2016 Auch das Leben abseits von den Zementfabriken ist gefährlich, denn auch wenn der Libanon sich weitgehend aus dem Syrienkonflikt heraushält, kommt es immer wieder zu syrischen Angriffen auf libanesische Grenzgebiete. Wirklich sicher sind Flüchtlinge im Libanon also nicht. Trotzdem geht es ihnen besser als in ihrer Heimat. 6)amnesty.de: Jahresbericht 2015 Libanon
Bis Ende 2015 erreichten ca. 1,3 Millionen Flüchtlinge EU-Länder. 7)bbc.com: Migrant crisis: Migration to Europe explained in seven charts; 4. März 2016 Würde Deutschland Flüchtlinge im gleichen Verhältnis wie der Libanon aufnehmen, wären das knapp 26 Millionen Flüchtlinge. Rein hypothetisch wäre damit die Flüchtlingskrise gelöst, denn von den über 65 Millionen Schutzsuchenden auf der Welt sind knapp 41 Millionen Binnenflüchtlinge und bleiben im eigenen Land. Doch anstatt sich gemeinsam für die Entlastung der Entwicklungs- und Schwellenländer einzusetzen, kapseln sich die westlichen Industrieländer ab und überlassen die Flüchtlingslast den armen Ländern dieser Welt. 8)sueddeutsche.de: Mehr als 65 Millionen Menschen sind auf der Flucht; 20. Juni 2016
Fußnoten und Quellen:
Keine Kommentare