Brexit: Leidet die EU unter Solidaritätsdefizit?
Kurz nach dem Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU fordern rechtspopulistische Parteien in anderen Mitgliedsländern ebenfalls den Austritt. Der Vorsitzende der niederländischen rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, die Französin Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National (FN), der Chef der dänischen Dansk Folkeparti, Kristian Thulesen Dahl: Sie alle machen mobil, um dem Beispiel UKs zu folgen. 1)Spiegel Online: Rechtspopulisten in Europa: „Und die Niederlande werden die Nächsten sein!“; 24.06.2016
Die Europäische Union wird als Sündenbock missbraucht
Es scheint als würde der Brexit vor allem eines hinterlassen: Hass auf Europa. Die EU ist das perfekte Feindbild für Populisten. Und die Politiker sind daran nicht unschuldig. Jahrelang wurde die Europäische Union von den nationalen Regierungen als Sündenbock genutzt. Auch beim britischen Referendum versuchten die „Remain“-Politiker nicht die Errungenschaften der Institution, die 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, zu betonen. Ihre Argumente basierten vor allem auf den negativen Konsequenzen, die ein Austritt mit sich bringen würde.
EU-Bashing ist ein seit langem verbreitetes und sehr beliebtes Spiel der Politiker. Es ist einfacher, das eigene Versagen der Institution anzuhängen, die bei der Bevölkerung sowieso schon einen schlechten Ruf genießt. Die eigene Verantwortung wird so verschleiert, die Institution diffamiert. Auch entziehen die Regierungen sich auf diese Art ihrer Verantwortung. In vielen Ländern scheinen keine eigenen großen Initiativen und Reformen angestoßen worden zu sein. Natürlich lässt sich über gewisse Charakteristika der Europäischen Union streiten und auch mögen viele Bestimmungen unsinnig erscheinen, oft herrscht aber auch Unwissenheit über die Existenz zahlreicher Gesetze, die das Leben in den Mitgliedstaaten verbessern, und die Kurse nationaler Regierungen korrigieren. 2)Die Presse.com: Sicherheitsnetz statt Sündenbock: EU-Bashing ist beliebt, aber verfehlt; Artikel nicht mehr verfügbar
Die europäischen Länder sind gefangen im nationalen Egoismus
Es fehlt an Aufklärung, über die Vorteile der Europäischen Union. Aber auch an Engagement für die eigene Sache. Statt EU-Bashing müssten sich die Nationalstaaten endlich vollständig zu den europäischen Werten bekennen: Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtstaatlichkeit, aber auch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz und vor allem Solidarität. 3)Bundeszentrale für politische Bildung: Die Werte der Europäischen Union; 12.02.2019 Gerade daran fehlt es jedoch den einzelnen Mitgliedsländern. Augenscheinlich halten die Staaten Solidarität nur solange für ein wichtiges Prinzip, bis sie am Zug sind, gegen die eigenen Interessen, solidarisch zu handeln. Wie der Brexit zeigt, erscheint sogar der Austritt leichter als tatsächliche Kompromissbereitschaft und das Einstehen für andere. Das beste Beispiel für die gänzliche Abwesenheit von Solidarität ist die Flüchtlingskrise. Sobald die Zahlen anstiegen, hörte die Freundschaft der EU-Länder auf. Länder wie Italien und Griechenland, die aufgrund der Dublin-Verordnung und ihrer geographischen Lage am meisten von den Migrationsströmen betroffen waren, wurden im Stich gelassen, mit ihrer hoffnungslosen Überforderung.
Die anderen schotten sich ab. Deutschland profitierte lange von Dublin, weil es an keiner EU-Außengrenze liegt, beschloss dann aber doch, Flüchtlinge aufzunehmen und kritisiert nun jene Länder, die mit den Flüchtlingen nichts zu tun haben wollen. Europa ist gefangen im nationalen Egoismus und die so sehr beschworene Solidarität greift nicht, nicht für die Mitgliedstaaten und erst recht nicht mit den Flüchtlingen – und das obwohl es hier um die Achtung der Menschenrechte geht.
Aber viele Probleme sind schlichtweg auch einfach zu groß und zu global, um nationalstaatliche Lösungen zu finden. Ein solches Problem ist die Flüchtlingskrise und mit ihr der gefühlte Kontrollverlust über die europäischen Außengrenzen. Auf die Migranten projiziert sich die weit verbreitete Angst vor der Globalisierung, vor sozialem Abstieg und Bedeutungslosigkeit. In Wirklichkeit sind jedoch nicht sie Schuld an den Problemen der Europäischen Union, nicht an denen der Mitgliedstaaten, und wohl das bizarrste an der ganzen Situation, auch nicht an den Krisen in ihren Herkunftsländern. Sie flüchten vor Umweltkatastrophen, vor allem bedingt durch den Klimawandel, für den besonders die Industrienationen verantwortlich sind; vor blutigen Konflikten, befeuert durch Waffenexporte aus europäischen Ländern; vor Ausbeutung durch despotische Regierungen, die Bündnisse mit europäischen Mitgliedstaaten unterhalten und nicht zuletzt vor Armut und Hunger, woran auch die europäische Wirtschaftspolitik nicht unschuldig ist.
Der Populismus ist auf dem Vormarsch
Migranten werden jedoch zum Spielball für Populisten in ganz Europa. Migranten, Flüchtlinge, Freizügigkeit und die europäische Flüchtlingspolitik werden so zum neuen Feindbild. Nigel Farage und UKIP wussten diese Stimmung gezielt für sich zu nutzen und zwar so erfolgreich, dass auch meinungsführende Brexit-Befürworter sich ihren Positionen immer weiter annähern mussten. Nationale Souveränität reichte den Briten nicht, um gegen die EU zu stimmen. Erst bei dem Thema Einwanderung zogen die Argumente – der Preis: stetig wachsende Fremdenfeindlichkeit. 4)Die Presse.com: Hugo Dixon: „Die Brexit-Kampagne war teuflisch clever“; 27.06.2016 Dabei handelt es sich beim Vereinigten Königreich um ein Einwanderungsland. Auch unterscheidet sich die Problematik auf der Insel vom europäischen Festland. Den Briten geht es hauptsächlich um Migration durch Freizügigkeit innerhalb der EU und des Commonwealth. 5)Die Welt: Merkel muss führen, aber merken darf das niemand; 24.06.2016 Asylsuchende Flüchtlinge hat die Insel verhältnismäßig wenige aufgenommen und zählte 2015 sechs Asylantragsteller auf 10.000 Einwohner. Im Vergleich: Ungarn 180, Schweden 167, Österreich 103, Deutschland 59. 6)UK Parliament: Asylum statistics , 05.12.2022 Auch die Flüchtlingskrise sei jedoch Grund für die britische EU-Skepsis. Europa hätte sich ohnmächtig verhalten und Unfähigkeit gezeigt, die Krise zu lösen. „In der Flüchtlingskrise war die EU, dem Gefühl der meisten Menschen nach, nicht mehr existent“, beklagt ARD-Börsenexpertin Anja Kohl. Und so ergriffen die Populisten die Gelegenheit und machten Migranten und Flüchtlinge zu ihrer stärksten Waffe. 7)Berliner Morgenpost: Maischberger-Talk zum Brexit: Gäste befürchten Domino-Effekt; 23.06.2016
Die EU ist dabei ihre Werte zu verlieren
Migration und Flüchtlingskrise allein reichen jedoch nicht ansatzweise aus, um den Brexit zu erklären. Die britische Presse und britische Politiker hetzen seit Jahrzehnten gegen die Institution. Auch der britische Premierminister David Cameron machte in der Vergangenheit anti-europäische Sentiments zur Regierungspolitik und ordnete so die Zukunft seines Landes Opportunismus und Machtkalkül unter. Aber den einen Schuldigen gibt es nicht.
So müssen vor allem die europäischen Werte wiederbelebt werden. Die Institution muss an ihren eigenen Problemen arbeiten, zum Beispiel am Demokratiedefizit. Sie muss transparenter werden. Bis dahin muss sie aber vor allem eines: die Abschottungspolitik beenden. Nur wenn die Europäische Union sich wieder auf ihre ursprünglichen Werte zurückbesinnt und die Politik sich auf Menschenrechte und Mitmenschlichkeit stützt, kann den fremdenfeindlichen, populistischen Kräften der Wind aus den Segeln genommen werden.8)Frankfurter Rundschau: Letzte Chance für die Europäische Union; 24.06.2016 Die EU braucht dringend mehr Solidarität, um weiter bestehen zu können. Wenn die Nationalstaaten frühzeitig erkannt hätten, wie wichtig Solidarität tatsächlich ist, und wenn sie schließlich bereit gewesen wären, nach diesen Prinzipien zu handeln, wäre der Brexit vielleicht nicht zustande gekommen. Darauf sollte sich die Union konzentrieren, um zukünftig nicht noch mehr Mitglieder zu verlieren.
„Es gibt eine moralische Pflicht zur Solidarität unter uns Europäern; seit zwanzig Jahren steht sie im Grundgesetz. Solidarität verträgt sich schlecht mit politischem Machtgebaren. Der von mir hoch verehrte Julius Leber, der 1945 von den Nazis umgebracht worden ist, hat gesagt: »Der Wille zur Macht muss aus der Pflicht gegenüber der Gemeinschaft erwachsen.« Der Wille zur Macht ist vielfältig vorhanden. Jedoch die Pflichten gegenüber der europäischen Gemeinschaft bedürfen künftig eines weit größeren Engagements aller Beteiligten.“, erkannte Altkanzler Helmut Schmidt bereits 2012. 9)Zeit Online: Euro-Krise: Pflicht zur Solidarität; 27.12.2012
Fußnoten und Quellen:
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